Rudolf Bahro - ein deutsch-deutscher Denker zwischen vorgestern und übermorgen

In den Nachrufen auf den am 5. Dezember 1997 verstorbenen Rudolf Bahro finden sich nicht selten Bezeichnungen wie "deutscher Revolutionär ", "deutscher Intellektueller", "urdeutscher Rebell" oder...

in: UTOPIE kreativ, H. 140 (Juni 2002), S. 500-506

 

In den Nachrufen auf den am 5. Dezember 1997 verstorbenen Rudolf Bahro finden sich nicht selten Bezeichnungen wie "deutscher Revolutionär ", "deutscher Intellektueller", "urdeutscher Rebell" oder auch "deutsch-deutscher Denker" (1). Es scheint, als bezeichne diese doppelte Perspektive auf das ›Deutsche‹ und das ›Revolutionäre‹ den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Erinnerung an Rudolf Bahro. Allerdings sind die Bestimmungen dessen, was als deutsch und was als revolutionär angesehen wird, in der Regel recht vage.

Es bleibt also zu fragen: Was ist als das originär deutsche und revolutionäre im Denken und in der Biographie Rudolf Bahros anzusehen. Inwieweit ist es lohnenswert, sich daraufhin heute noch mit ihm und seinem Werk zu beschäftigen?

In einem der Nachrufe auf Bahro findet sich eine aufschlußreiche Anspielung auf Friedrich Nietzsche (2), in der die Deutschen als ein Volk "von vorgestern und von übermorgen, (denn) sie haben noch kein Heute" charakterisiert wurden (3). Das galt nach Nietzsche insbesondere für den eigenwilligen deutschen Gelehrten, dessen Geschäft es sei, in den Archiven der Geistesgeschichte nach Versatzstücken einer elastischen Weltanschauung zu suchen, mit deren Hilfe er dann die schlechte, häßliche oder verlogene, aber auf alle Fälle ablehnenswerte Gegenwart überspringen kann, hinein in ein Reich idealen, besseren oder eigentlicheren Lebens. Leider halten sich, so Nietzsche, besagte Denker lieber allein oder in kleinen Grüppchen Gleichgesinnter im Behaglichen der eigenen Theorie auf, als die Nase tatsächlich vor die Tür zu stecken, um die lockenden und verwirrenden Düfte der Gegenwart einzusaugen. Dieser Typus des deutschen Philosophen baut statt dessen weiter an seinen Systemen, um nach Gottes Tod der Wahrheit wieder eine Heimstatt zu errichten. Das eigentliche Problem sah Nietzsche allerdings darin, daß Anstalten gemacht werden, die Welt nach diesen Theorien dann auch tatsächlich einzurichten - mit der Folge, daß der Menschheit das Leben nur noch unnötig schwerer gemacht wird. So konnte Nietzsche schließlich skeptisch ausrufen: "Und wenn einmal Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch mit gutem Misstrauen: welch starker Irrtum hat für sie gekämpft?" (4). Von vorgestern zu sein, heißt in dieser Fassung, den Tod Gottes und damit den Verlust der Wahrheit alter Werte, ja der Möglichkeit von rationaler Wahrheitsfindung überhaupt, nicht eigentlich als den bösen Schmerz des Zeitalters zu erfahren und nicht in seinen Konsequenzen zu verstehen. Aber auch, wenn der große eine Gott von den Heutigen tot geglaubt wird, so treten in Nietzsches Wahrnehmung doch nur viele kleine an seine Stelle und verwüsten und verwirren als unzählige kleine Lügen in den Köpfen und Herzen der Menschen auch noch das, wohin die eine große Lüge nicht hinzureichen vermochte.

Nietzsche schwebte anderes vor: "Aber der rechte Philosoph - so scheint es uns - lebt unphilosophisch und unweise, vor allem unklug und fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens: - er riskiert sich beständig, er spielt das schlimme Spiel Â…". (5) "Es will mir immer mehr so scheinen, daß der Philosoph als ein notwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befinden mußte: sein Feind war jedes Mal das Ideal von heute. Bisher haben alle diese außerordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten -, ihre Aufgabe (Â…) darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verrieten sie, was ihr eigenes Geheimnis war: um eine neue Größe des Menschen zu wissen". (6)

In welcher Hinsicht ist Bahro nun als ein Vorgestriger oder als ein Denker von übermorgen anzusehen, und was heißt dies für die Auseinandersetzung mit ihm? Erübrigt sich gar diese Frage bereits mangelnder Aktualität, wie das akademische und auch sonstiges Schweigen um Bahro es vermuten lassen?

Bahros philosophische Anfänge liegen in der Tradition von solchen Denkern, die Nietzsche ironisch auf die Schippe nahm. Zu nennen wären hier jene, die ihm zum Beispiel von Wolfgang Heise, in den fünfziger Jahren am Fachbereich Geschichte der Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin, nahegebracht wurden: Fichte, Hegel und Schelling, allerdings mit Zuschnitt auf einen revolutionär gesinnten Hölderlin und auf Marx.

Ähnlich wie Hölderlin und Marx begann Bahro, die Zustände seiner Zeit als verfallen an von Menschen gemachte Abgötter zu geißeln. In den siebziger Jahren wurde er zum Wortführer eines sozialistischen und humanistischen Idealen verpflichteten Reformprojekts des real-sozialistischen ›Großversuchs‹, der bekanntlich insbesondere durch sowjetische Einflußnahme nach 1945 auch auf einen Teil Deutschlands ausgeweitet wurde. Durchaus mit messianischem Anspruch sollte das Bahrosche Reformprojekt einer - nun allerdings ›innenweltlichen‹ - Befreiung und Erlösung des Menschen von Ausbeutung, Subalternität und Leid auf das ursprüngliche emanzipatorische Ideal rückbezogen werden.

Ideengeschichtlich greift Bahro dabei einerseits auf Fichte zurück, der die Selbstermächtigung des Individuums in der von ihm selbst entschiedenen ›Tat-Handlung‹ als Bedingung einer allgemeinen Emanzipation und des Auszuges aus einer auch selbst verschuldeten Unmündigkeit ansieht. Ferner stützt sich Bahro auf die Idee von Hegel und Schelling, der zufolge sich an der Menschheits- und Naturgeschichte selbst das Ideal des Werdens für den menschlichen Geist zu erkennen gibt. Und schließlich kommt auch Hölderlin mit dem Zusammenklingen von individueller Wesensentfaltung und einem sich historisch entfaltendem Bewußtsein zum Tragen. Andererseits war für Bahro die Marxsche Kritik von Herrschaftsverhältnissen, die Ungleichheit und Unfreiheit schaffen, zentral. Bahro fragte aber auch nach den Gründen des Mißbrauchs gerade dieses emanzipatorischen Denkens zur Rechtfertigung neuer Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Dabei konstatierte er nicht nur einen Mißbrauch des späteren Marxismus-Leninismus zur Machterhaltung einer politischen ›Klasse‹ über die politisch entmündigte Mehrheit der Bevölkerung, sondern suchte auch Ursachen in der Theorie selbst. Eine verhängnisvolle Vereinseitigung sah er zum Beispiel in der generellen Kritik an allen Formen religiöser Praxis. Eine dem Phänomen der Religiosität angemessene Kritik hätte sich in der Intention Bahros hingegen auf defizitäre Strukturen und Erscheinungsformen religiöser Praxis zu richten, da es sich nach ihm dabei um ein Grundphänomen der menschlichen Existenz handele, das nicht durch die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung zu überholen sei.

Mit seinem Buch Die Alternative veröffentlichte Bahro 1977 die wohl wichtigste und umfassende interne Kritik des ›real existierenden Sozialismus‹ und entwarf zugleich Grundzüge einer sozialistischen Alternative, in der Marx und Lenin nochmals auf Hegel und Hölderlin trafen. Ausgehend vom Oberflächenphänomen der Dysfunktionalität des Staatssozialismus, wie zum Beispiel dem offensichtlichen Widerspruch zwischen individuellem Verhalten und offizieller Weltanschauung, analysierte er soziologisch, sozioökonomisch und kulturgeschichtlich die Strukturen des Realsozialismus, beschrieb das inhärente Phänomen des gegenseitigen Sich-in-die-Tasche- Lügens und erkannte die organisierte Verantwortungslosigkeit angesichts politischer Entmündigung als herrschendes Prinzip gesellschaftlichen Stillstands.

Zwar stand für Bahro spätestens seit 1968 fest, daß "die herrschenden Parteiapparate (Â…) so viel mit dem Kommunismus zu tun (haben) wie der Großinquisitor mit Jesus Christus" (7), doch führte diese Abkehr von der ›Kirche‹ Staatspartei nicht zur Abkehr von dem durch sie beschädigten ›Mythos‹ Kommunismus. Für Bahro markierte also die Niederlage der Reformbewegung von 1968 in der CSSR nicht die Unreformierbarkeit des Gesamtversuches, sondern zeigte die Möglichkeit der Befreiung der staatssozialistischen Gesellschaft von Formen orientalisch-despotischer Herrschaft. Diesen billigte er im Kontext der Entwicklung im früheren Rußland und der späteren Sowjetunion zwar eine gewisse historische Notwendigkeit zu, machte aber zugleich deutlich, daß die zusammen mit den sowjetischen Panzern nach Mitteleuropa eindringenden politischen Strukturen der dortigen - noch jungen - demokratischen Tradition fremd bleiben mußten. Für Bahro stand fest, daß "in Prag und Bratislava (letztlich) nichts geringeres nachgewiesen (wurde) als die Lebensfähigkeit unserer Gesellschaftsordnung ohne politbürokratische Diktatur" (8).

Die aus dieser Überzeugung heraus in der Bundesrepublik veröffentlichte Alternative wurde vor allem von linken Kreisen in Westeuropa rezipiert. In der DDR hatte es aufgrund der schonungslos kritischen Einstellung und der zugleich aufrichtig bekennenden sozialistischen Haltung bis auf einzelne, die Zugang zu dem Buch gewinnen konnten, eine stark moralische Wirkung. (9) In jedem Fall trug Bahro mit diesem Buch zur Ehrenrettung der ostdeutschen Sozialisten bei, indem er zeigte: "Es denkt in der DDR!" (10). Die Alternative ist zweifellos eines der wichtigsten in der DDR geschriebenen politischen Bücher; für Herbert Marcuse war es, ob seiner Gültigkeit für den Kapitalismus, sogar "the most important contribution to Marxist theory and practice to appear in several decades" (11).

Wie kommt Bahro nun in die Nähe von ›Philosophen‹, die Nietzsche das "gefährliche Fragezeichen" und "das böse Gewissen ihrer Zeit" nannte? Dies gründet vor allem darauf, daß er von emanzipatorischen Ideen geleitete Alternativen vertritt, welche sich gegen Strukturen wenden, die auf Herrschaft über Menschen und Natur abzielen. Es ist die Willensanstrengung, ein solches Projekt über Jahre unter konspirativen Bedingungen weiterzuverfolgen und zu Ende zu bringen; und es ist sein Aufstehen gegen die Lüge - mit der Konsequenz, dafür nach Bautzen zu gehen.

Bahro blieb sich auch nach Haft und Übersiedelung in die BRD 1979 treu. Auch dort nahm er kritisch die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrem Selbstverständnis nach unter die Lupe. Zum zentralen Problem wurde für ihn dabei der Zusammenhang zwischen einer sich immer bedrohlicher abzeichnenden Umweltkrise und dem, was er die "Inweltkrise" des Menschen nannte. Bahro ging dabei einen Schritt weiter auf dem Weg, der sich bereits in der Alternative (12) angedeutet hatte. Er vollzog zur Erklärung gesellschaftlicher Prozesse einen Schritt vom Primat der politischen Ökonomie hin zum Bewußtsein als potentieller materieller Kraft im historischen Prozeß. Bahro fragte danach, welche anthropologischen Antriebe (individuell wie kulturgeschichtlich) die, wie er sich ausdrückte, "gesellschaftliche Megamaschine" (13) in Gang halten.

Der Energieaufwand zur Aufrechterhaltung dieser in den Industrieländern herausgebildeten Technologie- und Informationsstruktur im Zusammenklang mit den dazugehörigen gesellschaftlichen Konsumbedürfnissen übersteige demnach bei weitem den tatsächlich notwendigen Energie- und Arbeitsaufwand zu einem Leben in Würde, Schönheit und individueller als auch gesellschaftlicher Freiheit - auf einer begrenzten Erde. Moderne Produktion und der damit einhergehende unkontrollierte Energiedurchsatz bedeuteten für Bahro, egal ob unter sozialistischen oder kapitalistischen Vorzeichen, die Selbstvergiftung des Menschen. Die destruktive Energiebilanz moderner Gesellschaft, in bezug auf die Gestaltung des natürlichen Lebensraumes, verlange hingegen nach neuen Formen bewußter Einflußname auf den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß.

Das Besondere an dieser Situation ist - nach Bahro - neben den erstmals zu verzeichnenden Wirkungen menschlichen Handelns auf das Gesamtökosystem Erde der Umstand, daß keine Gruppe oder Klasse mehr allein dafür verantwortlich gemacht werden kann. Vielmehr habe sich, zumindest in den Industrieländern, eine übergeordnete, alle Partikularinteressen überspannende Interessens- und Verantwortungsgemeinschaft herausgebildet. Allerdings sei man sich dessen bislang weder allgemein bewußt, noch vermögen die bestehenden politischen Strukturen und die darin getroffenen Entscheidungen der Situation gerecht zu werden.

Die Hauptschwierigkeit, dies zum Gegenstand einer allgemeinen Debatte zu machen und sich gegebenenfalls über andere Wege einer selbstverantworteten Entwicklung zu verständigen, sah Bahro darin, daß sich längst eine als unumkehrbar wahrgenommene Abhängigkeit des Menschen von seinen das Leben ›versüßenden‹, aber auf Dauer destruktiven ›Errungenschaften‹ eingestellt habe. Die begründete Vermutung, daß diese Errungenschaften möglicherweise selbstmörderisch und im ganzen kontraproduktiv sind, genügte Bahro jedenfalls, um angesichts der Trägheitsmomente des ökologischen Systems Erde und der langfristigen Wirkungen der menschlichen Einflüsse darauf eine einseitige militärische, industrielle und (bio)technologische ›Abrüstung‹ der Industrieländer zu fordern. Er war ein entschiedener Gegner der Forderung nach letztgültigen Beweisen für die ökologische Krise, da dies möglicherweise ›finale‹ Beweise wären und das Verlangen danach durchsichtigen nationalen Sonderinteressen von Großverschmutzern entspringe.

In den frühen achtziger Jahren beschäftigte sich Bahro vor allem mit den emotionalen Bedingungen der individuellen wie gesellschaftlichen Bindungskräfte an intellektuell bereits als überlebt erkannte Lebens- und Verhaltensweisen. Er praktizierte das, was man als Einübung in ein anderes, vor allem weniger angst- und ressentimentgeleitetes Bewußtsein bezeichnen kann. Das Ausprobieren meditativer Praktiken und das Engagement für die Gründung kommunitärer und subsistenzorientierter Gemeinschaften wurde für Bahro zunehmend zum Inbegriff und Schnittpunkt einer Zukunft orientierten gesellschaftlichen und individuellen Praxis. Die theoretischen Grundlagen hierzu faßte er 1987 in Logik der Rettung zusammen.

Nach seiner Rückkehr in die DDR, im Herbst 1989, hatte Bahro kurzzeitig die Hoffnung auf eine eigenständige öko-sozialistische Entwicklung der DDR. Ein ›grüner dritter Weg‹ sollte es sein, jenseits der nationalen und transnationalen Ausbeutung und Vernutzung der menschlichen und natürlichen Ressourcen unter kapitalistischen wie sozialistischen Vorzeichen. Auf dem SED-Sonderparteitag im Dezember 1989 entwickelte er dann vor den ob seiner radikalen Gedanken verdutzten Genossen seine diesbezüglichen Vorstellungen. Wie Gregor Gysi mitteilte (14), war Bahro sich dieser Zumutung durchaus bewußt. Der daraufhin Angesprochene antwortete aber "es können ja drei dabei sein, bei denen etwas hängen bleibt". In einer Situation der Bestandssicherung rief Bahro somit seinen ehemaligen Genossen zu: "Wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am wenigsten zu Hause seid." (15)

Bahro hoffte 1977 wie auch 1989 auf eine kritische Masse an überschüssigem Bewußtsein, das weder durch Herrschaftsansprüche absorbiert noch von den Anforderungen des Reproduktionsprozesses oder von bürgerlichen Kompensationsspielchen in Anspruch genommen wäre. Er hoffte auf eine, sich auf dieser Grundlage formierende, geistige Bewegung, die ihre freien Kapazitäten nutzt, um einen unmittelbaren, liebevollen und ausbeutungsfreien Zugang zu sich, zu anderen und zur Welt zu suchen. Ihm schwebte ein Bund der Kommunisten vor, der zugleich die unsichtbare Kirche von Hegel, Hölderlin und Schelling mit einschließt, das heißt, in dem auch ein Zugang zum Ganzen, zum Gesamtzusammenhang alles Seienden gefunden wird. 1977 prägte er hierfür noch zögerlich den Begriff von der Partei "als der kollektive Intellektuelle" (16).

In seinem Streben, christliche Ideale mit der bei Marx untergründig vorhandenen Idee eines kollektiven weltlichen Messias zu verbinden, war Bahro Nietzsche durchaus fern. Er wollte den spirituellen Kern jeglicher religiösen Tradition, als ein dem Menschsein zugehöriges Seinsverhältnis, nicht auf den Altären präventiver Skepsis oder postmoderner Ironie opfern.

Bahro war also auch hier, als vorgestriger Gottsucher im Sinne Nietzsches, ein deutscher Denker. Zudem war er es nicht zuletzt aufgrund seines Lebensweges, indem es ihn mehrfach wechselnd in beide deutsche Staaten verschlug, und er auf besondere Weise fortwährend mit der deutschen Tragödie konfrontiert war. So findet sich unter Bahros Äußerungen und Schriften eine Vielzahl von Anmerkungen zu Deutschland. Wer weiß zum Beispiel heute noch, daß er in der Logik der Rettung von einer "neuen deutschen Reformation" (17) sprach; allerdings einhergehend mit einer "ökologischen Wende" (18) und nicht mit einer ›Wende‹, wie wir sie dann tatsächlich erlebten. 1987 schrieb er den damals nicht weiter beachteten Satz: "Mit der großen Reformation der Russischen Revolution hat auch die Wiedervereinigung Europas, somit die Wiedervereinigung Deutschlands begonnen. Die Glasnostj, die Öffnung der Sowjetunion, wird es ermöglichen, den Vorhang und die Mauer zu überwinden, die aus dem Hitlerkrieg hervorgegangen sind." (19)

Es lohnt in politischer Hinsicht, sich auch das nochmals vorzunehmen, was Bahro zur deutsch-deutschen Problematik anmerkte. Etliches an Material hierzu findet sich aus der Zeit von Bahros außerordentlicher Professur an der Humboldt-Universität. Die Veranstaltungen, insbesondere die Montagsvorlesungen von 1990 bis 1994, stellten ein weit über den Rahmen der Universität hinaus wirkendes Ereignis dar. Sie sind Beispiele dafür, wie Bahro durch seine gewissermaßen doppelte Herkunft auch als Brücke im intellektuellen Verständigungsprozeß zwischen Ost und West wirkte. Sich mit Rudolf Bahro zu beschäftigen heißt somit auch, sich mit deutsch-deutschen Mißverständnissen zu beschäftigen. Es ist noch offen, welche dieser Überlegungen und zumeist unkonventionellen Sichtweisen Bahros auch weiterhin diese Brückenfunktion haben könnten. (20)

Darüber hinaus sind seine Versuche interessant, das ökologische Problem nach 1990 entsprechend der gewandelten geopolitischen Situation politisch neu zu denken. Hierzu versprechen die bisher noch nicht veröffentlichten Vorlesungen von 1996 zur ›Zukunftsstudie Deutschland‹ und ein damit zusammenhängendes Buchfragment weitere Aufschlüsse.

Einer kritischen Auseinandersetzung bedarf des weiteren Bahros Bestreben, seine ökologischen, soziologischen, politischen und philosophischen Gedanken und Analysen mit anderen, nicht primär intellektuellen Zugängen zum Phänomen der ökologisch-sozialen Krise zusammenzubringen.

Wie für den Musikliebhaber, Beethovenkenner und relativ unbekannten Musikessayisten Bahro geschrieben, klingen da wiederum die folgenden warnenden Sätze Nietzsches: "Wie stark das metaphysische Bedürfnis ist, und wie sich noch zuletzt die Natur den Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, daß noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei es zum Beispiel, daß er bei einer Stelle der neunten Symphonie Beethovens sich über der Erde in einem Sternendome schweben fühlt, mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer herabzusinken. - Wird er sich dieses Zustandes bewußt, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellektueller Charakter auf die Probe gestellt". (21)

Fraglich ist, ob Bahro diese Probe letztendlich bestanden hat oder ob er nicht zu viel Nähe zur Labsal einer Metaphysik des All-Einen suchte.

So bleibt festzustellen, daß es Rudolf Bahro der Auseinandersetzung mit ihm und mit seinem Denken nicht leicht macht. Er ist, gemessen an seinen Interessen, Ideen und Handlungen, mit keinem eindeutigen fach-philosophischen oder politischen Etikett zu versehen. Er ist ideologisch nicht in Fronten einzureihen und überall dort, wo das Richtige immer schon gewußt wird, weder als ein fragloser Freund noch als ein dankbarer Feind zu haben. Dies führte mancherorts zu vorschnellem Applaus, aber auch zu Irritationen und Verdächtigungen bis hin zu überlauten Anfeindungen oder betonter Nichtwahrnehmung. Bahro nahm auf seinem Weg wenig Rücksicht darauf, was von ihm erhofft oder erwartet wurde, egal ob er dabei einer verordneten Moral entsprach oder dem, was gerade als politisch korrekt galt. In dieser Hinsicht war er ein rücksichtsloser Mensch.

Es bleibt ein Verlust für das intellektuelle Gespräch in Deutschland, daß besonders in den letzten Jahren seines Lebens aufgrund von durchaus beiderseitigen Entfremdungen und Vorurteilen eine wirkliche Auseinandersetzung nicht mehr stattfand. (22) Eine kritische Würdigung von Leben und Werk Rudolf Bahros ist auch und gerade aus diesem Grund überfällig. Die drei großen Themen: Stalinismuskritik, Kritik der Industriezivilisation aus einer sozial-ökologischen Perspektive und die Verbindung beider mit praktischen deutschdeutschen Fragen vor und nach 1989 könnten dabei die Schwerpunkte bilden.

Thomas Schubert - Jg. 1970; Magister, studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Humanontogenetik und Wissenschaftsphilosophie sowie an der Freien Universität Berlin Philosophie und Ethnologie, ist derzeit Dozent an der Volkshochschule Potsdam und Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam, Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit einer Dissertation zum Thema "Philosophische Grundlagen ökologischer Politik bei Rudolf Bahro".

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltet aus Anlaß des 25jährigen Erscheinens von Rudolf Bahros Buch "Die Alternative " in Zusammenarbeit mit dem Rudolf-Bahro-Archiv der Humboldt-Universität ein internationales Symposion zum Thema: "Die sozial-ökologische Alternative". Die Veranstaltung findet vom 21.-23. Juni 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin statt. Informationen unter: www.agrar. hu-berlin.de/wisola/fg/ress/ bahro/html; mail: bahroarchiv@ rz.hu-berlin.de; Tel.: 030/20936127/-32.

1 Vgl. Klaus Hartung (1997): Revolutionär, Ordensgründer, Chiliast, in: Die Zeit vom 12. Dezember; Dieter Klein (1998): Ein wirklicher Intellektueller, in: Un-Aufgefordert, StudentInnenzeitung der HUB, 1/98; Manfred Kriener (1997): Immer gut für eine Alternative, in: die tageszeitung vom 9. Dezember; Arthur Meier (1997): Ein Abschied und nun?, in: Berliner Zeitung vom 10. Dezember; Ulrich Miksch (1998): Der geteilte Himmel, in: Humboldt. Die Zeitung der Humboldt-Universität vom 15. Januar; Hermann Rudolph (1997): Ein urdeutscher Rebell, in: Der Tagesspiegel vom 9. Dezember.

2 Vgl. Jochen Kirchhof: Nachruf auf Rudolf Bahro, in: Bahro, Rudolf (1998), Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit. Essays und Skizzen, Berlin.

3 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Völker und Vaterländer (240), Kröner TB Stuttgart 1978, Bd. 3, S. 698.

4 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra; Vom höheren Menschen (9), Kröner TB Stuttgart 1978, Bd. 3, S. 322.

5 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Völker und Vaterländer (205), Kröner TB Stuttgart 1978, Bd. 3, S. 650.

6 Ebenda (212), S. 664.

7 Rudolf Bahro (1990 a): Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Berlin, S. 425.

8 Ebenda, S. 362.

9 Vgl. Beiträge zur Wirkungsgeschichte der "Alternative", in: Horch und Guck, 7(1998)22, S. 1-29.

10 Rudolf Bahro (1977): Ich werde meinen Weg fortsetzen, Eine Dokumentation, Köln, S. 98.

11 Herbert Marcuse (1980): Protosocialism and Late Capitalism: Toward a Theoretical Synthesis Based on BahroÂ’s Analysis, in: International Journal of Politics, Heft 10/1980, p. 25 ff.

12 "Die Gattung (Â…) muß (Â…) mit der Megalomanie brechen, muß kollektive Rücksicht gegenüber dem Naturzusammenhang lernen (Â…). Sie muß ihren Aufstieg fortsetzen als eine ›Reise nach Innen‹. Der Sprung ins Reich der Freiheit ist nur denkbar auf dem Untergrund eines Gleichgewichts zwischen Menschengattung und Umwelt, dessen Dynamik sich entschieden aufs Qualitative und Subjektive verlegt" (Bahro 1990 a: 315).

13 Unter ›Megamaschine‹ verstand Bahro in Anlehnung an den amerikanischen Technik- und Sozialphilosophen Lewis Mumford eine gesellschaftliche Gesamtstruktur, die entsteht, wenn sämtliche menschlichen Austauschprozesse unter den Bedingungen der kapitalistischen Industriegesellschaft einer kurzfristigen Profitmaximierung, langfristigen Wachstumsorientierung und individuellen wie institutionellen Machtakkumulation unterworfen werden. Vgl. Lewis Mumfort (1977): Mythos der Maschine, Frankfurt am Main.

14 Vgl. Gregor Gysi (1998): Rudolf Bahro und die Politik, Vortrag gehalten am 25. April an der Humboldt-Universität zu Berlin (bisher nur als Abschrift im Rudolf-Bahro-Archiv der HUB.

15 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (212), a. a. O., S. 664.

16 Rudolf Bahro (1990 a): Die Alternative, a. a. O., S. 430 f.

17 Vgl. Rudolf Bahro (1990 b): Logik der Rettung. Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Berlin (DDR), Stuttgart und Wien (1. Aufl., 1987), S. 337.

18 Ebenda, S. 325.

19 Ebenda, S. 325 f.

20 Einige Vorlesungen und Interviews aus dieser Zeit wurden bereits publiziert in: Bahro, Rudolf (1991): Rückkehr. Die In-Weltkrise als Ursprung der Weltzerstörung, Berlin; Bahro, Rudolf (1995): Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit, Essays und Skizzen, Berlin. Weitere Vorlesungen und Texte werden für die Veröffentlichung vorbereitet.

21 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I. Ein Buch für freie Geister (153), Kröner TB Stuttgart 1978, Bd. 1, S. 139.

22 Hieraus erklärt sich auch die Quellenlage zu Rudolf Bahro. So lange er sich noch einigermaßen in linke und marxistisch orientierte Denkzusammenhänge einordnen ließ, fand eine, allerdings stark ideologisierte, Auseinandersetzung statt. Die späteren Arbeiten zu sozial-ökologischen Fragen stießen hingegen auf wenig Interesse und wurden kaum ernsthaft rezipiert. Vereinzeltes findet sich in Belgien (bei Ulrich Melle), in den USA (bei James Hard) und an der Humboldt-Universität zu Berlin (bei Jürgen Heinrichs und Jochen Kirchhoff).