Der hilflose Antipopulismus

"So ist die FDP unwählbar", tönt es derzeit allüberall aus dem liberalen Blätterwald. Vom Berliner "Tagesspiegel" bis zur Hamburger "Zeit" offenbaren sich gutmeinende liberale Medienmacher, ...

... "warum ich die Möllemann-FDP nicht mehr wählen kann" (Robert Leicht). Einstimmig der Aufschrei der Empörung gegen den "Aufstand der Unanständigen" (Gunter Hofmann). Die Jusos setzen noch Einen drauf und fordern die verbindliche Absage einer Koalition mit den Blau-Gelben. Kurzum, die Gretchenfrage der Berliner Republik anno 2002 lautet: Wie hältst duÂ’s mit der FDP? Man mag es als beruhigend ansehen, dass die medialen Seismographen die Anzeichen eines aufkeimenden Antisemitismus als drohendes "tektonisches Beben" ("Die Zeit") in der Parteienlandschaft festhalten. Aber abgesehen davon, dass bereits vor den letzten Ausfällen des Jürgen W. gute Gründe dafür sprachen, die Möllemann-FDP nicht mehr zu wählen, abgesehen auch davon, dass diejenigen Wählerschichten, die der Schnauzbärtige neuerdings zu erreichen gedenkt, sich von der "Bannbulle" eines Robert Leicht schwerlich werden beeindrucken lassen: Diese Form der aufgeregten medialen Ächtung geht am Problem des europaweit aufkommenden Rechtspopulismus vorbei. Schlimmer noch: Was Teil der Lösung sein will, wird schnell zu einem Teil des Problems.
Denn wie bereits das Beispiel Jörg Haider und die hilflosen Reaktionen einer gleichermaßen überraschten wie faszinierten deutschen Öffentlichkeit lehrten: Stets gehört die mediale Reaktion zur erfolgreichen Provokation. Wer Jürgen Möllemann während der letzten Wochen bei seinen zahlreichen Auftritten beobachtete, konnte feststellen, wie sich der Chefprovokateur der Republik nach jedem neuerlichen Coup selbstzufrieden die Hände rieb und sich über die Reaktionen freute, getreu der Devise: Viel Feind, viel Ehr - um anschließend umgehend die Kritik zur Attacke gegen die herrschende "politisch korrekte Klasse" umzumünzen oder auf ein anderes Feld der Provokation auszuweichen. Bloße Empörung hilft somit nicht weiter. An Stelle der hilflosen Aufregung ist zunächst die schlichte Analyse der Funktionsmechanismen des Populismus erforderlich. Der moderne Populismus bedient sich der Strategie einer gezielten Regelverletzung. Dabei hüllt er sich in das Mäntelchen des Aufklärers, indem er seine Provokationen als Kampf gegen irrationale Tabus inszeniert. Wie aber operiert der "Tabubrecher"? Wie funktioniert die Inszenierung des Tabubruchs? Was sind ihre Erfolgsfaktoren? Als Paradebeispiel dafür taugt der Fall Möllemann allemal. Für jeden Tabubruch gilt erstens: Die Provokation, das gezielte Spiel mit dem Verbot, gelingt nur dann, wenn sie verfängt. Dafür muss der Provozierte "mitspielen", also reagieren. Stets stellt der Tabubrecher diese Reaktionen in seine Überlegungen ein. Der Vorsprung macht seine strategische Überlegenheit aus. Provokateur und empörte Öffentlichkeit gleichen insoweit Hase und Igel. Immer wenn der brave Mümmelmann, sprich: die empörte liberale Öffentlichkeit, auf den Akt der Provokation reagiert, ist Igel Möllemann gedanklich längst da und in der Lage, ganz nach Gusto abzuschwächen, also sich zu entschuldigen, oder noch einen Schritt weiterzugehen. Der Tabubrecher profitiert gewissermaßen von der Asymmetrie der Standpunkte. Indem er den gängigen Verhaltenskodex außer Kraft setzt, begibt er sich jenseits des Kalkulierbaren und erschwert damit die gedankliche Vorwegnahme seines Verhaltens, wenn er diese nicht gänzlich unmöglich macht.
Zweitens: Der empörte Antipopulismus konstruiert erst jene Öffentlichkeit, die der Provokateur benötigt, um sich als Opfer der herrschenden politischen Klasse darzustellen. Der neue Rechtspopulismus geriert sich als Form der Systemopposition gegen die angebliche linksliberale Kulturhegemonie, die in der herrschenden political correctness ihren Ausdruck finde. In diesem Punkt treffen sich die Haiders, Fortuyns und Möllemanns. Die durch den Tabubruch erzielte Ablehnung dient dem Populisten als willkommene Munition, um die behauptete Gleichschaltung der Medienlandschaft umgehend in seine Argumentationsstruktur mit einzubeziehen. Tabubruch als self-fulfilling prophecy: Die Empörung in der medialen Öffentlichkeit wird als Beleg für das neueste Verbot der herrschenden Gedankenpolizei in die Argumentationslogik eingespeist. Dabei spekuliert der Provokateur selbst auf die behauptete Geschlossenheit in der Ablehnung durch das "Establishment"; im Extremfall wird dieser verschwörungstheoretische Eindruck erst durch den Tabubruch selbst produziert. Der Tabubruch erzeugt seine Legitimation gewissermaßen aus sich selbst.
Drittens: Jetzt ist der Tabubrecher endgültig in der Lage, sich als im Namen des Volkes auftretender Robin Hood gegen die Klasse der Etablierten zu inszenieren. Er ist Opfer und Rächer in Personalunion, setzt sich stellvertretend für die unterdrückte Bevölkerung gegen die Meinungsdiktatur der herrschenden Klasse zur Wehr.
Der Fall Möllemann zeigt die drei Funktionsbedingungen eines inszenierten Tabubruchs: Provokation - Reaktion der "herrschenden Klasse" - Legitimation als Opfer und Rächer im Namen des Volkes. Am Anfang stand die systematisch provozierende Kritik der "staatsterroristischen Politik" Israels, bis hin zur Legitimation von palästinensischen Selbstmordattentaten. Diese Strategie wurde begleitet von antisemitischen Anspielungen auf die Person Michel Friedmans und mündete in der - inzwischen zurückgenommenen - Aufnahme Jamal Karslis in die FDP-Landtagsfraktion. Spätestens diese Schritte stießen - wie kalkuliert - auf Ablehnung der öffentlichen Meinung und der politischen Konkurrenz. Nun konnte der einsame Outlaw Möllemann als selbstloser Verteidiger des Opfers Karsli auftreten, indem er dessen in Co-Produktion entstandene Anklageschrift gegen die herrschende "politisch korrekte Klasse" zur Mitteilung brachte. Spätestens in diesem Augenblick war das System der politisch korrekten Sittenwächter konstruiert, das es abschließend dem Tabubrecher Möllemann ermöglichte, sich als einsamer Streiter für die wahre Demokratie zu präsentieren. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Strategie in dem Meinungsbeitrag Möllemanns ("Neues Deutschland", 27.5.2002), der die Erfolge Jörg Haiders und Pim Fortuyns als Anbruch einer "Neuen Zeit" und "Emanzipation der Demokraten" begrüßt, offensichtlich in der Absicht, an die Methoden und Erfolge eben jener anzuknüpfen.
Imprägnierung gegen Populismus
Angesichts der Tatsache, dass es Jürgen Möllemann gelang, die mediale Aufmerksamkeit fast einen Monat lang zu monopolisieren, bleibt die Frage: Wie imprägniert sich eine Gesellschaft zukünftig gegen einen derartigen Populismus? Frühere populistische Versuchungen, erwähnt seien nur die NPD in den 60er und die Schönhuber-Partei in den 80er Jahren, wurden in der alten Bundesrepublik zumeist durch eine positive ökonomische Entwicklung ausgehebelt. Da auf derartige Konjunkturen zurzeit schwerlich zu bauen sein dürfte, wird es umso bedeutsamer, dem neuen Populismus kulturell und medial wirksam zu begegnen. Aufmerksamkeit ist in der Mediengesellschaft das höchste Gut. Dies hat Möllemann wie kein anderer begriffen. Wie sonst ließe sich erklären, dass eine solch mediokre, politisch inhaltsleere Gestalt über 30 Jahre die ungeteilte Aufmerksamkeit der Fernsehkameras auf sich zieht - und dafür bereits mit der Vizekanzlerschaft belohnt wurde. Letztlich ist dem Phänomen des "Aufmerksamkeitspolitikers" (Thomas Schmid) nur beizukommen, indem man diesem die Diskurshegemonie abspenstig macht. Natürlich darf dies nicht im simplen Umkehrschluss bedeuten, dass derart infame Aussagen unwidersprochen bleiben sollten. Eine schleichende Gewöhnung wäre die verheerende Folge. Entscheidend ist jedoch die geeignete Reaktion, die sich auf drei Ebenen zu konzentrieren hat: richtige Dosierung, Destruktion der System- Konstruktion und Zerstörung der Opfer- Helden-Inszenierung.
Was die richtige Dosierung anbelangt: Stets gibt es einen kritischen Punkt, an dem die allgemeine Ablehnung des Provokateurs in Mitleid oder gar Sympathie mit dem Outlaw umschlägt. Im Fall Möllemann war es die beharrliche Forderung nach einer Entschuldigung, die dem Provokateur ideale Entfaltungsmöglichkeiten in beide Richtungen bot: Verweigert er sich einer wirklichen Entschuldigung - und fraglos besaß das Möllemannsche Fehlereingeständnis keinerlei entschuldigenden Charakter -, so kann er sich in den Augen seiner Sympathisanten als Held gegen die Übermacht behaupten. Entschuldigt er sich, natürlich zähneknirschend, so ist dies umso mehr Beleg einer repressiven Öffentlichkeit, und er selber kann mit Mitleidspunkten rechnen. Außerdem kann der Tabubrecher blind auf eine Reaktion vertrauen: Die Nervosität des Mediensystems bringt es mit sich, dass die Wogen der Aufmerksamkeit sich nach kurzer Zeit glätten. Der Zeitablauf spielt der Hauptfigur in die Hände. Nach einiger Zeit verliert die Öffentlichkeit das Interesse, Langeweile macht sich breit. Die instrumentelle Ausweitung der Vorwürfe auf andere Beteiligte lenkt schließlich den Fokus von der ursprünglichen Zielscheibe ab. So brachte in der Fischer-Kontroverse die Einbeziehung Jürgen Trittins und die Umdefinition zu einer 68er-Debatte den Außenminister gleichsam aus der Schusslinie. Die Ausweitung der Kritik an Möllemann auf die gesamte FDP zu Wahlkampfzwecken durch den politischen Gegner hat zwangsläufig Solidarisierungen innerhalb der FDP zur Folge. Die gesellschaftliche Vulgarisierung und Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs, im konkreten Fall insbesondere durch den Trittbrettfahrer Schirrmacher, führt schließlich zur Relativierung der Vorwürfe: Wo überall kleine Möllemänner am Werke sind, fällt das Original kaum noch ins Gewicht.
Strategisch sinnvoller wäre es deshalb, der rechtspopulistischen Systemkritik ihren Zahn durch den Nachweis zu ziehen, dass es sich bei der Gegenüberstellung von Provokateur und Establishment um eine bloße Konstruktion handelt, dass also auch der Provokateur und Tabubrecher in aller Regel Teil des von ihm kritisierten Systems ist. Und wer wäre dafür besser geeignet als Jürgen Möllemann! Es ist schon grotesk, dass jemand wie der "Riesenstaatsmann Möllemann" (Franz Joseph Strauß), seit 30 Jahren als Abgeordneter, Minister und Parteifunktionär fast schon integraler Bestandteil der bundesrepublikanischen Parteiendemokratie, derart unbestritten auf der Klaviatur des Antiparteienressentiments spielen kann.
Politische Alternativlosigkeit
Künftige Gefahren dürften deshalb auch weniger von einem unappetitlichen Provokateur der Kategorie Möllemann ausgehen. Die Berlusconis, Fortuyns und Haiders sind aus anderem Holz geschnitzt. Der moderne Medienpopulismus benötigt schillernde, telegene Figuren, die wie Berlusconi ihre Reputation aus einem anderen Feld beziehen, insbesondere als ökonomische Selfmademen tatsächlich politische Unabhängigkeit erzielt haben oder wie Pim Fortuyn über akademische Reputation und intellektuelle wie inszenatorische Brillianz verfügten. Bisher ist dergleichen in Deutschland nicht in Sicht, weshalb wir am "Haider für Arme" ("Der Standard", 5.6.2002) vorbeugend den richtigen Umgang üben sollten. Nicht zuletzt profitiert der heutige Populismus vom Verschwinden der großen Gegensätze zwischen Links und Rechts. Insofern handelt es sich bei dem neuen Rechtspopulismus tatsächlich um ein postideologisches Phänomen, um ein Problem von Drittem Weg und Neuer Mitte. Wo sich alte politische Gewissheiten auflösen, die Unterscheidbarkeit der Parteien schwindet und alles manisch in die Mitte drängt, werden die Ränder förmlich frei gegeben. Paradoxerweise sind es gerade kleine, wendige Parteien wie die Liberalen, einst die Inkarnation der Mitte, die jetzt das Unbehagen der Bevölkerung an einer zunehmend konturlosen Politik aufgreifen. Diese haben erkannt, dass zwar nicht mehr die alten Ideologien existieren, aber umso mehr ihre Versatzstücke frei flottieren. Eine antiisraelische, mit antisemitischen Ressentiments gespickte Politik kann auf Applaus von allen Seiten zählen. Wie Möllemann und Westerwelle unumwunden eingestehen, zielt ihre Politik zu allererst auf das wachsende Reservoir der Nichtwähler, die sich resigniert von der Politik abgewandt haben: Erklärtermaßen will die FDP "dem Protest gegen das etablierte politische Parteiensystem [...] eine neue demokratische Heimat geben." (Westerwelle in: "Stern", 6.6.2002) Heute erscheint der rechtspopulistische Tabubruch als das ideale Mittel, um bei vermeintlich schwindenden Handlungsspielräumen einfache Lösungen zu propagieren. Ihm kommt dabei immer auch Ventilfunktion zu: Wenn schon freies politisches Handeln nicht mehr möglich sein soll, möge doch zumindest freies politisches Denken und Sprechen erlaubt sein! Der inszenierte Tabubruch als simulierte Politik und medial ausagierter Lustgewinn.
Eine Linke, insbesondere eine Sozialdemokratie, die ihre Politik fast nur noch aus der eigenen Alternativlosigkeit auf Grund global wirkender Zwänge begründet, leistet dieser Entwicklung ungewollt Vorschub. Wo die frühere linke Fortschrittsgläubigkeit förmlich verdampft ist, wächst die Sehnsucht nach dem befreienden Ausbruch. In allen Zeiten politischen Stillstands während des letzten Jahrhunderts, ob tatsächlicher oder nur gefühlter Art, konnte man dies beobachten: in der Endphase der Weimarer Republik wie zu Zeiten der großen Koalition. Bereits Anfang der 30er Jahre spielten die Liberalen dabei eine höchst unrühmliche Rolle. Es war die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP), die sich der aufkommenden Bewegung andiente und in Thüringen das erste Regierungsbündnis mit den Nationalsozialisten einging. Ende der 60er Jahre dagegen gewannen neue linke zivilgesellschaftliche Kräfte und Ideen die Oberhand. Auch die Auseinandersetzung um die Globalisierung findet heute zwischen progressiven und reaktionären Strömungen statt. Aus der linken globalisierungskritischen Diskussion könnten mittelfristig neue Anstöße und Alternativen für die intellektuell ermatteten Parteien erwachsen. Auf absehbare Zeit dürfte die Politik des inszenierten Tabubruchs ihre Attraktivität jedoch nicht verlieren. Kurzfristig hilft deshalb vor allem eines: mehr Gelassenheit - und die Gewissheit, dass der Tabus nicht unendlich viele sind. Im Gegenteil: Wenn Möllemann sich bereits am bisher geschütztesten Verhaltenskodex der Bundesrepublik vergreift, dem Verbot antisemitischer Anspielungen, deutet dies darauf hin, dass der Regelkanon der Republik, ob man es begrüßt oder nicht, im Schwinden begriffen ist. Dafür spricht bezeichnenderweise nicht zuletzt ein Phänomen wie die Eventpartei FDP. Wenn es zutrifft, dass in der durch Guido Westerwelle beanspruchten unbefangenen Generation die Geschichtslosigkeit weiter zunimmt, wird das Operieren mit dem Bruch historischer Tabus zunehmend wirkungslos. So wenig auch der neue Normalismus des Guido W. gefallen mag, bei den primär MTV- und VIVA-sozialisierten Jahrgängen dürfte die jüngste Kontroverse um den literarischen Antisemitismus vermutlich vor allem eine Frage auslösen: Who the fuck is Walser? "So ist die FDP unwählbar", tönt es derzeit allüberall aus dem liberalen Blätterwald. Vom Berliner "Tagesspiegel" bis zur Hamburger "Zeit" offenbaren sich gutmeinende liberale Medienmacher, "warum ich die Möllemann-FDP nicht mehr wählen kann" (Robert Leicht). Einstimmig der Aufschrei der Empörung gegen den "Aufstand der Unanständigen" (Gunter Hofmann). Die Jusos setzen noch Einen drauf und fordern die verbindliche Absage einer Koalition mit den Blau-Gelben. Kurzum, die Gretchenfrage der Berliner Republik anno 2002 lautet: Wie hältst duÂ’s mit der FDP? Man mag es als beruhigend ansehen, dass die medialen Seismographen die Anzeichen eines aufkeimenden Antisemitismus als drohendes "tektonisches Beben" ("Die Zeit") in der Parteienlandschaft festhalten. Aber abgesehen davon, dass bereits vor den letzten Ausfällen des Jürgen W. gute Gründe dafür sprachen, die Möllemann-FDP nicht mehr zu wählen, abgesehen auch davon, dass diejenigen Wählerschichten, die der Schnauzbärtige neuerdings zu erreichen gedenkt, sich von der "Bannbulle" eines Robert Leicht schwerlich werden beeindrucken lassen: Diese Form der aufgeregten medialen Ächtung geht am Problem des europaweit aufkommenden Rechtspopulismus vorbei. Schlimmer noch: Was Teil der Lösung sein will, wird schnell zu einem Teil des Problems.
Denn wie bereits das Beispiel Jörg Haider und die hilflosen Reaktionen einer gleichermaßen überraschten wie faszinierten deutschen Öffentlichkeit lehrten: Stets gehört die mediale Reaktion zur erfolgreichen Provokation. Wer Jürgen Möllemann während der letzten Wochen bei seinen zahlreichen Auftritten beobachtete, konnte feststellen, wie sich der Chefprovokateur der Republik nach jedem neuerlichen Coup selbstzufrieden die Hände rieb und sich über die Reaktionen freute, getreu der Devise: Viel Feind, viel Ehr - um anschließend umgehend die Kritik zur Attacke gegen die herrschende "politisch korrekte Klasse" umzumünzen oder auf ein anderes Feld der Provokation auszuweichen. Bloße Empörung hilft somit nicht weiter. An Stelle der hilflosen Aufregung ist zunächst die schlichte Analyse der Funktionsmechanismen des Populismus erforderlich. Der moderne Populismus bedient sich der Strategie einer gezielten Regelverletzung. Dabei hüllt er sich in das Mäntelchen des Aufklärers, indem er seine Provokationen als Kampf gegen irrationale Tabus inszeniert. Wie aber operiert der "Tabubrecher"? Wie funktioniert die Inszenierung des Tabubruchs? Was sind ihre Erfolgsfaktoren? Als Paradebeispiel dafür taugt der Fall Möllemann allemal. Für jeden Tabubruch gilt erstens: Die Provokation, das gezielte Spiel mit dem Verbot, gelingt nur dann, wenn sie verfängt. Dafür muss der Provozierte "mitspielen", also reagieren. Stets stellt der Tabubrecher diese Reaktionen in seine Überlegungen ein. Der Vorsprung macht seine strategische Überlegenheit aus. Provokateur und empörte Öffentlichkeit gleichen insoweit Hase und Igel. Immer wenn der brave Mümmelmann, sprich: die empörte liberale Öffentlichkeit, auf den Akt der Provokation reagiert, ist Igel Möllemann gedanklich längst da und in der Lage, ganz nach Gusto abzuschwächen, also sich zu entschuldigen, oder noch einen Schritt weiterzugehen. Der Tabubrecher profitiert gewissermaßen von der Asymmetrie der Standpunkte. Indem er den gängigen Verhaltenskodex außer Kraft setzt, begibt er sich jenseits des Kalkulierbaren und erschwert damit die gedankliche Vorwegnahme seines Verhaltens, wenn er diese nicht gänzlich unmöglich macht.
Zweitens: Der empörte Antipopulismus konstruiert erst jene Öffentlichkeit, die der Provokateur benötigt, um sich als Opfer der herrschenden politischen Klasse darzustellen. Der neue Rechtspopulismus geriert sich als Form der Systemopposition gegen die angebliche linksliberale Kulturhegemonie, die in der herrschenden political correctness ihren Ausdruck finde. In diesem Punkt treffen sich die Haiders, Fortuyns und Möllemanns. Die durch den Tabubruch erzielte Ablehnung dient dem Populisten als willkommene Munition, um die behauptete Gleichschaltung der Medienlandschaft umgehend in seine Argumentationsstruktur mit einzubeziehen. Tabubruch als self-fulfilling prophecy: Die Empörung in der medialen Öffentlichkeit wird als Beleg für das neueste Verbot der herrschenden Gedankenpolizei in die Argumentationslogik eingespeist. Dabei spekuliert der Provokateur selbst auf die behauptete Geschlossenheit in der Ablehnung durch das "Establishment"; im Extremfall wird dieser verschwörungstheoretische Eindruck erst durch den Tabubruch selbst produziert. Der Tabubruch erzeugt seine Legitimation gewissermaßen aus sich selbst.
Drittens: Jetzt ist der Tabubrecher endgültig in der Lage, sich als im Namen des Volkes auftretender Robin Hood gegen die Klasse der Etablierten zu inszenieren. Er ist Opfer und Rächer in Personalunion, setzt sich stellvertretend für die unterdrückte Bevölkerung gegen die Meinungsdiktatur der herrschenden Klasse zur Wehr.
Der Fall Möllemann zeigt die drei Funktionsbedingungen eines inszenierten Tabubruchs: Provokation - Reaktion der "herrschenden Klasse" - Legitimation als Opfer und Rächer im Namen des Volkes. Am Anfang stand die systematisch provozierende Kritik der "staatsterroristischen Politik" Israels, bis hin zur Legitimation von palästinensischen Selbstmordattentaten. Diese Strategie wurde begleitet von antisemitischen Anspielungen auf die Person Michel Friedmans und mündete in der - inzwischen zurückgenommenen - Aufnahme Jamal Karslis in die FDP-Landtagsfraktion. Spätestens diese Schritte stießen - wie kalkuliert - auf Ablehnung der öffentlichen Meinung und der politischen Konkurrenz. Nun konnte der einsame Outlaw Möllemann als selbstloser Verteidiger des Opfers Karsli auftreten, indem er dessen in Co-Produktion entstandene Anklageschrift gegen die herrschende "politisch korrekte Klasse" zur Mitteilung brachte. Spätestens in diesem Augenblick war das System der politisch korrekten Sittenwächter konstruiert, das es abschließend dem Tabubrecher Möllemann ermöglichte, sich als einsamer Streiter für die wahre Demokratie zu präsentieren. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Strategie in dem Meinungsbeitrag Möllemanns ("Neues Deutschland", 27.5.2002), der die Erfolge Jörg Haiders und Pim Fortuyns als Anbruch einer "Neuen Zeit" und "Emanzipation der Demokraten" begrüßt, offensichtlich in der Absicht, an die Methoden und Erfolge eben jener anzuknüpfen.
Imprägnierung gegen Populismus
Angesichts der Tatsache, dass es Jürgen Möllemann gelang, die mediale Aufmerksamkeit fast einen Monat lang zu monopolisieren, bleibt die Frage: Wie imprägniert sich eine Gesellschaft zukünftig gegen einen derartigen Populismus? Frühere populistische Versuchungen, erwähnt seien nur die NPD in den 60er und die Schönhuber-Partei in den 80er Jahren, wurden in der alten Bundesrepublik zumeist durch eine positive ökonomische Entwicklung ausgehebelt. Da auf derartige Konjunkturen zurzeit schwerlich zu bauen sein dürfte, wird es umso bedeutsamer, dem neuen Populismus kulturell und medial wirksam zu begegnen. Aufmerksamkeit ist in der Mediengesellschaft das höchste Gut. Dies hat Möllemann wie kein anderer begriffen. Wie sonst ließe sich erklären, dass eine solch mediokre, politisch inhaltsleere Gestalt über 30 Jahre die ungeteilte Aufmerksamkeit der Fernsehkameras auf sich zieht - und dafür bereits mit der Vizekanzlerschaft belohnt wurde. Letztlich ist dem Phänomen des "Aufmerksamkeitspolitikers" (Thomas Schmid) nur beizukommen, indem man diesem die Diskurshegemonie abspenstig macht. Natürlich darf dies nicht im simplen Umkehrschluss bedeuten, dass derart infame Aussagen unwidersprochen bleiben sollten. Eine schleichende Gewöhnung wäre die verheerende Folge. Entscheidend ist jedoch die geeignete Reaktion, die sich auf drei Ebenen zu konzentrieren hat: richtige Dosierung, Destruktion der System- Konstruktion und Zerstörung der Opfer- Helden-Inszenierung.
Was die richtige Dosierung anbelangt: Stets gibt es einen kritischen Punkt, an dem die allgemeine Ablehnung des Provokateurs in Mitleid oder gar Sympathie mit dem Outlaw umschlägt. Im Fall Möllemann war es die beharrliche Forderung nach einer Entschuldigung, die dem Provokateur ideale Entfaltungsmöglichkeiten in beide Richtungen bot: Verweigert er sich einer wirklichen Entschuldigung - und fraglos besaß das Möllemannsche Fehlereingeständnis keinerlei entschuldigenden Charakter -, so kann er sich in den Augen seiner Sympathisanten als Held gegen die Übermacht behaupten. Entschuldigt er sich, natürlich zähneknirschend, so ist dies umso mehr Beleg einer repressiven Öffentlichkeit, und er selber kann mit Mitleidspunkten rechnen. Außerdem kann der Tabubrecher blind auf eine Reaktion vertrauen: Die Nervosität des Mediensystems bringt es mit sich, dass die Wogen der Aufmerksamkeit sich nach kurzer Zeit glätten. Der Zeitablauf spielt der Hauptfigur in die Hände. Nach einiger Zeit verliert die Öffentlichkeit das Interesse, Langeweile macht sich breit. Die instrumentelle Ausweitung der Vorwürfe auf andere Beteiligte lenkt schließlich den Fokus von der ursprünglichen Zielscheibe ab. So brachte in der Fischer-Kontroverse die Einbeziehung Jürgen Trittins und die Umdefinition zu einer 68er-Debatte den Außenminister gleichsam aus der Schusslinie. Die Ausweitung der Kritik an Möllemann auf die gesamte FDP zu Wahlkampfzwecken durch den politischen Gegner hat zwangsläufig Solidarisierungen innerhalb der FDP zur Folge. Die gesellschaftliche Vulgarisierung und Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs, im konkreten Fall insbesondere durch den Trittbrettfahrer Schirrmacher, führt schließlich zur Relativierung der Vorwürfe: Wo überall kleine Möllemänner am Werke sind, fällt das Original kaum noch ins Gewicht.
Strategisch sinnvoller wäre es deshalb, der rechtspopulistischen Systemkritik ihren Zahn durch den Nachweis zu ziehen, dass es sich bei der Gegenüberstellung von Provokateur und Establishment um eine bloße Konstruktion handelt, dass also auch der Provokateur und Tabubrecher in aller Regel Teil des von ihm kritisierten Systems ist. Und wer wäre dafür besser geeignet als Jürgen Möllemann! Es ist schon grotesk, dass jemand wie der "Riesenstaatsmann Möllemann" (Franz Joseph Strauß), seit 30 Jahren als Abgeordneter, Minister und Parteifunktionär fast schon integraler Bestandteil der bundesrepublikanischen Parteiendemokratie, derart unbestritten auf der Klaviatur des Antiparteienressentiments spielen kann.
Politische Alternativlosigkeit
Künftige Gefahren dürften deshalb auch weniger von einem unappetitlichen Provokateur der Kategorie Möllemann ausgehen. Die Berlusconis, Fortuyns und Haiders sind aus anderem Holz geschnitzt. Der moderne Medienpopulismus benötigt schillernde, telegene Figuren, die wie Berlusconi ihre Reputation aus einem anderen Feld beziehen, insbesondere als ökonomische Selfmademen tatsächlich politische Unabhängigkeit erzielt haben oder wie Pim Fortuyn über akademische Reputation und intellektuelle wie inszenatorische Brillianz verfügten. Bisher ist dergleichen in Deutschland nicht in Sicht, weshalb wir am "Haider für Arme" ("Der Standard", 5.6.2002) vorbeugend den richtigen Umgang üben sollten. Nicht zuletzt profitiert der heutige Populismus vom Verschwinden der großen Gegensätze zwischen Links und Rechts. Insofern handelt es sich bei dem neuen Rechtspopulismus tatsächlich um ein postideologisches Phänomen, um ein Problem von Drittem Weg und Neuer Mitte. Wo sich alte politische Gewissheiten auflösen, die Unterscheidbarkeit der Parteien schwindet und alles manisch in die Mitte drängt, werden die Ränder förmlich frei gegeben. Paradoxerweise sind es gerade kleine, wendige Parteien wie die Liberalen, einst die Inkarnation der Mitte, die jetzt das Unbehagen der Bevölkerung an einer zunehmend konturlosen Politik aufgreifen. Diese haben erkannt, dass zwar nicht mehr die alten Ideologien existieren, aber umso mehr ihre Versatzstücke frei flottieren. Eine antiisraelische, mit antisemitischen Ressentiments gespickte Politik kann auf Applaus von allen Seiten zählen. Wie Möllemann und Westerwelle unumwunden eingestehen, zielt ihre Politik zu allererst auf das wachsende Reservoir der Nichtwähler, die sich resigniert von der Politik abgewandt haben: Erklärtermaßen will die FDP "dem Protest gegen das etablierte politische Parteiensystem [...] eine neue demokratische Heimat geben." (Westerwelle in: "Stern", 6.6.2002) Heute erscheint der rechtspopulistische Tabubruch als das ideale Mittel, um bei vermeintlich schwindenden Handlungsspielräumen einfache Lösungen zu propagieren. Ihm kommt dabei immer auch Ventilfunktion zu: Wenn schon freies politisches Handeln nicht mehr möglich sein soll, möge doch zumindest freies politisches Denken und Sprechen erlaubt sein! Der inszenierte Tabubruch als simulierte Politik und medial ausagierter Lustgewinn.
Eine Linke, insbesondere eine Sozialdemokratie, die ihre Politik fast nur noch aus der eigenen Alternativlosigkeit auf Grund global wirkender Zwänge begründet, leistet dieser Entwicklung ungewollt Vorschub. Wo die frühere linke Fortschrittsgläubigkeit förmlich verdampft ist, wächst die Sehnsucht nach dem befreienden Ausbruch. In allen Zeiten politischen Stillstands während des letzten Jahrhunderts, ob tatsächlicher oder nur gefühlter Art, konnte man dies beobachten: in der Endphase der Weimarer Republik wie zu Zeiten der großen Koalition. Bereits Anfang der 30er Jahre spielten die Liberalen dabei eine höchst unrühmliche Rolle. Es war die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP), die sich der aufkommenden Bewegung andiente und in Thüringen das erste Regierungsbündnis mit den Nationalsozialisten einging. Ende der 60er Jahre dagegen gewannen neue linke zivilgesellschaftliche Kräfte und Ideen die Oberhand. Auch die Auseinandersetzung um die Globalisierung findet heute zwischen progressiven und reaktionären Strömungen statt. Aus der linken globalisierungskritischen Diskussion könnten mittelfristig neue Anstöße und Alternativen für die intellektuell ermatteten Parteien erwachsen. Auf absehbare Zeit dürfte die Politik des inszenierten Tabubruchs ihre Attraktivität jedoch nicht verlieren. Kurzfristig hilft deshalb vor allem eines: mehr Gelassenheit - und die Gewissheit, dass der Tabus nicht unendlich viele sind. Im Gegenteil: Wenn Möllemann sich bereits am bisher geschütztesten Verhaltenskodex der Bundesrepublik vergreift, dem Verbot antisemitischer Anspielungen, deutet dies darauf hin, dass der Regelkanon der Republik, ob man es begrüßt oder nicht, im Schwinden begriffen ist. Dafür spricht bezeichnenderweise nicht zuletzt ein Phänomen wie die Eventpartei FDP. Wenn es zutrifft, dass in der durch Guido Westerwelle beanspruchten unbefangenen Generation die Geschichtslosigkeit weiter zunimmt, wird das Operieren mit dem Bruch historischer Tabus zunehmend wirkungslos. So wenig auch der neue Normalismus des Guido W. gefallen mag, bei den primär MTV- und VIVA-sozialisierten Jahrgängen dürfte die jüngste Kontroverse um den literarischen Antisemitismus vermutlich vor allem eine Frage auslösen: Who the fuck is Walser? Albrecht von Lucke

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2002