Lateinamerika in der Falle

Das wirtschaftliche Drama in Lateinamerika nimmt kein Ende. Nach dem argentinischen Kollaps sind nun auch Brasilien, Uruguay und eine Reihe weiterer Länder stark angeschlagen. ...

... Für Argentinien wird in diesem Jahr ein Rückgang des Wachstums in der Größenordnung von 15% erwartet, die Inflation geht auf 50% zu und die Lage der Menschen verschlechtert sich von Tag zu Tag. Die brasilianische Wirtschaft stagniert bestenfalls und fast alle übrigen Staaten haben mit rezessiven Entwicklungen zu kämpfen. Die Arbeitslosigkeit steigt durchgängig und die Verarmung noch größerer Teile der Bevölkerung ist nicht mehr abzuwenden. Noch schlimmer: Es gibt keine Hoffnung, dass sich die Situation in der gesamten Region in überschaubarer Zeit zum Besseren wenden könnte.
Angesichts dieser Situation ist die Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft nur noch als skandalös zu bezeichnen. Zwar hat man Brasilien einen neuen großzügigen IWF-Beistandskredit eingeräumt, die Verhandlungen über eine Entlastung Argentiniens aber kommen nicht voran und von einer durchgreifenden Lösung ist überhaupt nicht mehr die Rede. Wie hilflos der IWF und die G7 der Lage gegenüberstehen, zeigt sich nirgendwo deutlicher als an der Entwicklung der Wechselkurse der lateinamerikanischen Länder gegenüber dem US-Dollar. Nach der brasilianischen Krise von 1999 hatte man in einer Freigabe des brasilianischen Real das wichtigste Mittel gesehen, um die Situation des Landes entscheidend zu verbessern. Der Real, den zuvor über viele Jahre die brasilianische Zentralbank gegen-über dem Dollar stabilisierte und der vor der Krise bei 1,8 (Real/US-Dollar) lag, sank innerhalb kurzer Zeit auf etwa 2,4. Inzwischen ist er auf über 3,0 gefallen.
Die Abwertung des Real hat schließlich auch eine massive Abwertung des argentinischen Peso erzwungen, der, nach fast zehn Jahren einer 1:1-Bin-dung an den US-Dollar, rasch auf Werte unter 2:1 (Peso/US-Dollar) fiel und in-zwischen bei 3,6 gehandelt wird. Auch die übrigen Währungen des Kontinents, soweit es noch eigenständige Währungen und nicht vollständige Dollarisierung gibt, werten seit Anfang dieses Jahres ab. Denn kein Land kann auf längere Sicht damit leben, dass wichtige Handelspartner ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertungen ständig zu erhöhen versuchen. Da dies aber inzwischen fast alle tun, findet ein Abwertungswettlauf statt, den am Ende keiner gewinnen kann. Lediglich gegenüber den USA (und dem Rest der Welt, soweit dieser nicht auch gegen-über den USA abwertet) können alle Länder Lateinamerikas ihre Position systematisch verbessern. Im Verhältnis der Länder untereinander aber zerstören die unsystematischen und von den Fundamentaldaten nicht gerechtfertigten wilden Bewegungen der Wechselkurse vollständig die Grundlagen für Wohlfahrtsgewinne aus dem Güteraustausch. Die internationale Gemeinschaft aber, einschließlich des IWF und der Welthandelsorganisation (WTO), die sich einen freien und effizienten Handel groß auf ihre Fahnen geschrieben hat, schweigt.
Durch eine multilaterale Aktion zur Stabilisierung der Wechselkurse könnte man den sinnlosen und gefährlichen Wettlauf stoppen, doch dazu fehlt offenbar die Einsicht und/oder der politische Wille. Noch schlimmer ist die Enthaltsamkeit der westlichen Welt in Sachen Weltwährungsordnung für die internen wirtschaftlichen Bedingungen der beteiligten Länder. Wie schon an dieser Stelle im Februar angedeutet1, stehen den positiven Effekten einer Abwertung der Währungen der meisten Länder gegenüber dem US-Dollar, Yen und Euro in den am heftigsten von der Krise betroffenen Ländern negative Zinseffekte gegenüber, die bei den Staatshaushalten und den privaten Investoren weit stärker zu Buche schlagen als die Währungsverluste.
Fast alle lateinamerikanischen Länder haben sich nämlich mangels Alternativen hinsichtlich der Festlegung der heimischen Zinsen einem Regime verschrieben, das den "Märkten" ein ungewöhnlich großes Maß an Mitsprache über das Zinsniveau gibt. Diese Länder kann man nicht mit kleinen europäischen Ländern vor der Währungsunion oder aufholenden Ländern in den 50er und 60er Jahren vergleichen.
Sie sind nämlich nicht Mitglied in einem Währungssystem. Systeme wie Bretton Woods oder das EWS ermöglichen auf der einen Seite durch ein Leitwährungsland geordnete Wechselkursverhältnisse (auch geordnete Abwertungen). Auf der anderen Seite wer-den die Zinsen weitgehend von der Leitzentralbank - und nicht von den Märkten - gesetzt. Die lateinamerikanischen Länder sind aber auf sich selbst angewiesen und daher den "Kräften" des Kapitalmarktes und seiner Einschätzung des "Länderrisikos" weitgehend ausgeliefert. Das führt regelmäßig dazu, dass selbst Länder, die dringend sinkende und niedrige Zinsen brauchen, von den Märkten hohe und steigende Zinsen oktroyiert bekommen.
Heilige Kühe schlachten
Hier ist in der Tat ein Systemwechsel nötig, bei dem alle heiligen Kühe der herrschenden "Internationalökonomie" geschlachtet werden müssen. Angesichts der Menge der Tabus, die bei dem Übergang zu einem anderen System zu brechen wären, ist es nicht erstaunlich, dass die internationale Politiker-und Diplomatengemeinde sich lieber jahrelang in dem Verschreiben von Placebos (wie der "neuen Finanzarchitektur") ergeht, als nur einen Gedanken in diese Richtung zu wagen. Dabei ist das Grundprinzip einfach und wird tagtäglich in der westlichen Welt praktiziert: Der Zins, als die wichtigste Größe einer in die Zukunft investierenden Wirtschaft, gehört nicht auf den Markt, sondern ist politisch festzulegen.
Kein großes westliches Industrieland vom Rang der G3 (USA, Europa, Japan) überlässt seinen Zins dem Markt. Man stelle sich einmal vor, die Märkte würden der US-Notenbank diktieren, dass die Zinsen in einer schweren Rezession zu steigen haben, weil in der Tat auch dort das Risiko des Verlustes aus einer Anlage in einer Rezession steigt. Steigende Zinsen aber verschärfen die Rezession. Versuchte der Staat mit steigenden Staatsdefiziten dagegen anzugehen, stiege - nach gängiger Auffassung - das Risiko der Investoren weiter. Folglich stiege auch die "Risikoprämie", die diese Investoren "verlangen", wie das in der Terminologie internationaler Anleger üblicherweise heißt.
Die USA hätten in einem solchen Fall keine Chance, aus eigener Kraft eine Rezession zu überwinden. Man kann es sich leicht vorstellen: In den USA (wie in Europa oder Japan) würde jede nur denkbare Fesselung der Märkte per Gesetz ins Auge gefasst, um dieser Entmachtung des Staates und der demokratischen Gesellschaft als Ganzes durch die "Märkte" rasch ein Ende zu setzen. In einem Entwicklungsland da-gegen darf, nach der obersten gültigen Doktrin der gleichen demokratischen Staaten, der Macht der Märkte gerade kein staatlicher Eingriff entgegengestellt werden.
Die Konfusion ausgelöst hat (wie meist) die herrschende Lehre der Ökonomie, die, wieder einmal vollkommen unkritisch und vollkommen unpolitisch, eine Überlegung aus der Mikroökonomie auf die Verhältnisse von Staaten übertragen hat. Steigt das Ausfallrisiko eines Schuldners, verlangen Kreditgeber - bis zu einer gewissen Grenze - einen höheren Zins, um wenigstens einen Teil des höheren Risikos abzudecken. "Risikoprämie" heißt das, was rational klingt und dem Gläubiger ein gutes Gefühl verschafft. Kann ein einzelner Schuldner den Zins inklusive Risikoprämie nicht mehr bezahlen, weil sein Geschäft den Effektivzins nicht mehr erwirtschaftet, muss er aus dem Markt ausscheiden und die Gläubiger müssen den Ausfall abschreiben.
Entscheidend ist: Die Handlungsmöglichkeiten des Unternehmens wer-den aber durch den höheren Zins nicht massiv eingeschränkt, denn es kann durch Kostensenkung und die Pflege seines Marktes unter Umständen den Effektivzins inklusive Risikoprämie erwirtschaften. Hinzu kommt, was jede Bank weiß: dass ihre Forderung nach einem sehr hohen Zins die Wahrscheinlichkeit eines Totalausfalls des Kredites erhöht. Aus diesem Grunde ist die Möglichkeit, das Ausfallrisiko durch eine Prämie abzudecken, sehr begrenzt. Deswegen schaut die Bank schon vor der Kreditzusage dem Investor und Schuldner in die Bücher, um sich selbst ein Urteil über seine Kreditwürdigkeit zu verschaffen und/oder verlangt unmittelbar die Abtretung wenig risikobehafteter "Sicherheiten".
Unproduktiver Kollaps
Ähnlich zunächst bei Staaten. Wenn die "Märkte" von einem Land die Zahlung einer hohen Risikoprämie verlangen, kann das Land aller Wahrscheinlichkeit nach gerade deswegen keine vernünftige Wirtschaftspolitik mehr betreiben und muss früher oder später fallieren. Die Risikoprämie sollte also auch hier gering bleiben. Nur, kein Gläubiger schaut einem souveränen Staat in die Bücher und niemand verlangt Sicherheiten, weil man - zu Recht - davon ausgeht, dass Staaten nicht von der Landkarte verschwinden. Auch können Staaten viel länger als ein einzelnes Unternehmen hohe Risikoprämien aus ihrer Substanz bezahlen, ohne dass sich eine marktwirtschaftliche Sanktion in Form von Bankrott abzeichnet. Schließlich sind die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse wesentlich komplexer als in einem Unternehmen, so dass man von einzelwirtschaftlich agierenden Banken und Investmentfonds eine realistische Lageeinschätzung nicht systematisch erwarten kann.
Entscheidend aber ist, dass bei einem Staat am Ende die Risikoprämie verschwinden muss, soll er - was ein-schließlich der Gläubiger alle wollen - wieder auf die Füße kommen und seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, während Unternehmen schlicht verschwinden können. Die Handlungsmöglichkeiten von Staaten jenseits der Veränderung der Zinsen sind nämlich viel geringer als die von Unternehmen. So gibt es etwa Kostensenkung, das probate Mittel jeder Unternehmensanpassung, in der Gesamtwirtschaft schlicht nicht, weil die Ausgaben des einen immer die Einnahmen des an-deren sind. Sinken die Ausgaben der Unternehmen insgesamt, sinken immer auch die Gewinne insgesamt.
Die Unternehmen als Ganzes können folglich ihre Kostensituation niemals verbessern. Wenn es aber keine Handlungsmöglichkeiten gibt, ist die Sanktion der "Märkte" in Form hoher Zinsen von vornherein verfehlt, denn sie tötet den Patienten auf jeden Fall und die Kreditvergabe ist sinnlos.
Das früher oder später notwendige Verschwinden der Risikoprämie kann folglich niemals vom Markt, sondern nur vom Staat (in diesem Fall von Staaten oder der internationalen Staatengemeinschaft) bewerkstelligt werden. Da das zwingend ist, kann und muss sich die Staatengemeinschaft auch schon vor dem Kollaps engagieren, um den - in vielen Fällen - unproduktiven Um-weg über einen Kollaps der Marktfinanzierung zu vermeiden.
Am Beispiel Lateinamerikas: In Argentinien liegt der kurzfristige Realzins derzeit (August 2002) bei etwa 30% (bei einem kurzfristigen Nominalzins von über 50%), in Brasilien bewegt sich der gleiche Zins in einer Größenordnung von 10%, in Mexiko beträgt er etwa drei Prozent und in Chile nur etwa ein Prozent; in den USA liegt er im negativen Bereich. Es gibt schlicht keine Maßnahme außer einer massiven Abwertung, mit der Argentinien die restriktive Wirkung des extrem hohen Zinses überspielen könnte. Wenn aber alle Länder abwerten, ist Argentinien schlicht verloren und Brasilien hat kaum eine Chance. Folglich muss früher oder später die internationale Gemeinschaft intervenieren, um Argentinien und Brasilien aus dem Teufelskreis von Abwertung und Extremzinsen zu befreien. Je später man eingreift, umso höher werden die Kosten auf allen Seiten sein.
Alle Länder der Welt, die freien Handel und freien Kapitalverkehr miteinander betreiben wollen, brauchen eine globale monetäre Ordnung. Diese Ordnung muss ihnen einen stabilen realen Wechselkurs und ein Niveau der Realzinsen ermöglichen, das nicht über den realen Wachstumsmöglichkeiten liegt. Weniger als das kann nicht funktionieren, wie die lateinamerikanische Krise erneut zeigt. Wer nicht an einer solchen Ordnung arbeitet, Länder aber auffordert, ihre Grenzen für Güter und Kapital zu öffnen, versteht nicht, wo-von er redet oder ist ein unverantwortlicher Zyniker, der sehenden Auges zu seinem kurzfristigen eigenen Vorteil langfristigen Schaden für alle anrichtet. Politisch Gutwillige müssen aber auch sehen: Die Krise in Lateinamerika ist eine Krise der herrschenden Ökonomie. Nur wenn es gelingt, gesamtwirtschaftliches Denken wieder in den Köpfen der beratenden Volkswirte zu verankern und die ideologische Blockade zum Thema Markt und Staat herauszuholen, eröffnet sich eine Chance.
Heiner Flassbeck
Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2002

1 Vgl. Heiner Flassbeck, Lehrstück am Rio de la Plata, in: "Blätter", 2/2002, S.135-137. - D. Red.