Alles wird gut

Auch auf die Gefahr eines Protestes wegen kommunistischer Propaganda in der Demokratie - ich muß hier einen Bürger der ehemaligen Sowjetunion zitieren. Es geht um Wohl und Wehe der Sozialdemokratie.

... Dieser Bürger nun - nennen wir ihn W. I. Lenin - schrieb unter anderem folgende Werke: "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" und "Zwei Taktiken der Sozialdemokratie".
Wir sehen hoffnungsfroh: Bürger W. I. Lenin ist hoffnungslos veraltet. Von einer Taktik der Sozialdemokratie, geschweige denn gleich zweien, ist derzeit nichts zu bemerken. Auch von ganzen Schritten vorwärts oder rückwärts sehen wir nichts. Gewiß gibt es viele Seitausfallschritte, ein Lafontainchen halblinks, ein Eichelchen querbeet, Schrittchen, Schrittchen, seitran - und Drehung.
Der oberste Schrittmacher, also der Tanzbär der SPD, heißt derzeit Müntefering. Früher hatte die SPD noch Zuchtmeister, jetzt hat sie Meister Münte aus dem Sauerland, und der hat das neue Wirtschaftsgesetz entdeckt: Konsumverzicht, um die Produktion anzukurbeln.
Natürlich kam gleich der gesammelt gedruckte Aufschrei der kollektiv empörten Bild-Massen. Obschon: Kollektiv empört sind die nicht, sondern demokratisch aufgebracht. Unser deutsches besinnliches Weihnachten ohne Konsum! Statt dessen neue böse Staatssteuern! Doch das hat Münte ja gar nicht gesagt: Schrittchen zurück. Er meint ja nur, daß man die Mehrwertsteuer, Schrittchen zur Seite, also nicht erhöhen solle, Schrittchen nach unten, während man nachdenken müsse, Schrittchen vorwärts, ob andere Steuern nicht auch nicht erhöht werden sollten, Schrittchen auf der Stelle.
Jedermann in der SPD-Führungsschicht ist derzeit ein großer Vordenker, ein mittlerer Mittelstandförderer und ein kleiner Bedenkenträger. Und die CDU weint Krokodils- nein Kanzlerwahlverlierertränen: Betrug am Volke, Betrug an unserm Volke, Betrug an unserm deutschen Wahlvolke. Her mit dem Ausschuß! Unser großer wahrheitsliebender Altkanzler kann endlich wieder eine ihm gemäße Aufgabe übernehmen: Volks-Aufklärer an allen Fronten. Denn Kohl heißt die Klarheit und Roland sein Koch.
Was aber machen wir nun wirklich, um die Wirtschaft anzukurbeln? An Wirtschaft hängt, zur Wirtschaft drängt sich alles. Auch auf die Gefahr hin, als Ewiggestriger zu gelten, darf ich an revolutionäre Traditionen eines revolutionären Landes erinnern. An Sachsen und seinen August den Starken. Der gab den Handwerkern Aufträge um Aufträge, für Feste und Paläste, für Postsäulen und Poststationen, der bezahlte großzügig Singspiele und Hofnarren aller Art. Damit wirkte er womöglich, wir würden heute sagen: antizyklisch und schuf Sachsens Glanz, der wiederum Preußen neidisch machte, das zu einer undemokratischen Umverteilungsaktion besuchsweise ins sächsische Land kam. Die Sachsen hatten, wie man bis heute sagt, für den Alten Fritzen gearbeitet. Wir wollen zeitgemäß formulieren: Friedrich der Große unternahm eine Interessen ausgleichende, friedenschaffende Maßnahme.
Vor vergleichbarem Ungemach aber bewahren uns die Ideen unserer Staatsführungsberater - heute nennt man sie noch Müntefering, in einem kommenden Wirtschaftsfrühling werden sie Merz heißen. Denn wenn das Volk Verzicht übt und die Volksführung die Übung erklärt, wird alles zwar schlechter. Doch nur was schlechter geworden ist, kann gut werden. Und darum: Gutes Neues Jahr!

aus: Ossietzky 25-02