Geschönter Arbeitsmarkt

Im Koalitionsvertrag der neuen Regierung wird ein Projekt wiederbelebt, das der geschaßte Arbeitsminister Riester Anfang des Jahres noch zurückziehen mußte, ...

... um nicht in den Verdacht der Datenmanipulation zu geraten: Die Arbeitsmarktstatistik soll verschlankt werden. Man wolle sich an internationale Gepflogenheiten anlehnen und nur noch die wirklich Arbeitslosen erfassen, heißt es zur Begründung. Vornehm unerwähnt bleibt die Absicht, die Massenarbeitslosigkeit kleinzurechnen, damit sie künftig weniger stört.
Bislang gilt hierzulande als arbeitslos, wer über das Arbeitsamt eine Stelle sucht, zwischen 15 und 65 Jahre alt ist und mindestens 15 Stunden wöchentlich arbeiten will. Schon diese Abgrenzungen bewirken, daß Teile der Realität aus dem Blickfeld verschwinden, denn unberücksichtigt bleiben erstens alle diejenigen, die sich ohne Einschaltung des Arbeitsamtes um eine Stelle bemühen, da sie von der Behörde weder einen Arbeitsplatz noch Arbeitslosengeld oder -hilfe zu erwarten haben; dazu gehören LehramtsbewerberInnen, die nach Studium und Referendariat jetzt von den Einstellungsbehörden mit der pauschalen Erklärung "Einstellungssperre" abgewiesen werden (trotz PISA). Zweitens werden diejenigen ausgeblendet, die aus Mangel an Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten weiter im Bildungssystem verharren, bis das Glück eintritt, oder sich inzwischen um einen höheren Abschluß bemühen. Drittens befinden sich viele Arbeitslose in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften, so daß sie zeitweilig nicht in der Statistik erscheinen. Viertens darf, wer die Arbeitsmarktentwicklung realistisch sehen will, nicht die Ausländer vergessen, die in Folge verminderter Beschäftigungsmöglichkeiten vom deutschen Arbeitsmarkt, also auch von der deutschen Statistik Abschied nehmen und in ihre Heimatländer zurückkehren. Fünftens schließlich ist mit einer beträchtlichen Dunkelziffer erwerbsloser Jugendlicher zu rechnen, die sich aus Resignation oder Unwissenheit nach Beendigung der Schulzeit gar nicht erst arbeitslos melden. Würde man sie alle einbeziehen, stiege die Arbeitslosenzahl um rund 1,8 Millionen. Und dann wäre immer noch nicht die "stille Reserve" erfaßt, in die sich alle die Menschen abgedrängt fühlen, die es wegen der schlechten Arbeitsmarktlage aufgegeben haben, sich um eine Stelle zu bewerben, aber bei einer verbesserten Lage ihre Arbeitskraft wieder anbieten würden; das gilt für viele verheiratete Frauen. Diese Zahl läßt sich nur grob schätzen. Seriöse Wissenschaftler haben die stille Reserve für das Jahr 1998 auf etwa 1,9 Millionen Personen beziffert. Faßt man alle Formen von Arbeitslosigkeit zusammen, so kommt man auf ein Defizit von 7,5 Millionen Arbeitsplätzen - deutlich mehr, als die offizielle Statistik suggeriert.
Demgegenüber liefe die angestrebte Anwendung internationaler Kriterien darauf hinaus, daß die amtliche Arbeitslosenzahl sogar sinken würde. In Zukunft soll statistisch nur derjenige als arbeitslos gelten, der dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung steht und bereit ist, innerhalb der nächsten zwei Wochen die Arbeit aufzunehmen. Außerdem muß er nachweisen, daß er selber während der letzten vier Wochen aktiv nach Arbeit gesucht hat. Im Vergleich zu den gegenwärtigen Erhebungsmethoden läge die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland, wenn sie nach den Kriterien des Statistikamtes der Europäischen Union erfaßt würde, um rund 800 000 niedriger.
Heikel ist auch die Berechnung der Arbeitslosenquote. Welcher Personenkreis bildet die 100 Prozent, auf die sich diese Prozentzahl bezieht? In Deutschland erstreckt er sich auch auf alle BeamtInnen, die dank ihres arbeitsrechtlichen Status gar nicht arbeitslos werden können. Die EU-Statistiker ermitteln die Erwerbslosenquote in Relation zu "allen Erwerbspersonen". Darin sind nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern auch alle Selbständigen plus mithelfende Familienangehörige enthalten, außerdem die SoldatInnen, die in Deutschland bisher aus dem Nenner der Quote herausgerechnet sind. Das neue Berechnungssystem wird bewirken, daß sich die Arbeitslosenquote erheblich verringert, ohne daß ein einziger Arbeitsloser Beschäftigung findet. Die Differenz liegt bei fast drei Prozentpunkten.
Die Regierung sollte die Arbeitslosigkeit bekämpfen, statt sie schönzufärben.

aus: Ossietzky 25-02