Mut zur Veränderung?

Ein halbes Jahr nach dem ersten Wahlsieg von Rot-Grün wurde das Koalitionsprogramm durch den Mülleimer entsorgt und auf den Primat der Sparpolitik umgeschaltet. ...

... Erneut ein halbes Jahr nach einer mit dem Versprechen auf weniger Arbeitslose und mehr soziale Gerechtigkeit gewonnenen Bundestagswahl lautet die Botschaft: statt Abbau der Arbeitslosigkeit - Ausgrenzung von Arbeitslosen.
Schröder nennt das "Mut zur Veränderung". Mut gegenüber wem? Gegenüber dem durch diese Politik weiter wachsenden Heer der sozial Schwachen und Ausgegrenzten? Das kann ebenso wenig gemeint sein wie Mut gegenüber den Unternehmerverbänden und den Reichen in dieser Gesellschaft, denen nichts zugemutet wird. Dann schon eher Mut gegenüber einer historischen Partei, deren politische Existenz darin legitimiert ist, gegen soziale Spaltung und soziale Ungerechtigkeiten anzugehen. Und Mut gegenüber gesellschaftlichen Bündnispartnern, die - wie die Gewerkschaften - mitgeholfen hatten, die Bundestagswahl durch die Reaktivierung dieses sozialdemokratischen Selbstverständnisses zu gewinnen.

Wenn Wähler in Scharen davonlaufen, versichern sich die Parteistrategen, die "Bürger draußen im Lande" hätten die Botschaften nicht richtig verstanden. Etwas Gutes hat die Regierungserklärung des Kanzlers vom 14. März: Sie war ganz und gar nicht missverständlich und die Botschaften eindeutig. Sechs Punkte sind von besonderer Bedeutung:

1. Von Rot-Grün wird es eine Politik zur Bekämpfung der Ursachen der Massenarbeitslosigkeit nicht geben. Zinsverbilligte Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau sind in der jetzigen Situation nicht viel mehr als Spielgeld, das die Kommunen aufgrund ihrer Verschuldung noch nicht einmal in die Hand nehmen dürfen, und das private Bauherren bestenfalls mitnehmen. Ein Investitionsprogramm zur Stärkung der maroden Binnennachfrage hingegen soll es nicht geben. Rot-Grün hält an der gescheiterten Politik fest, Haushaltskonsolidierung über weniger öffentliche Ausgaben zustande bringen zu wollen.

2. Trotz umfangreicher Begründung, zuletzt im Rahmen der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst, schreibt Rot-Grün mehr Steuergerechtigkeit noch nicht einmal symbolisch auf ihre Tagesordnung: die Wiedererhebung der Vermögensteuer und eine ergiebigere Erbschaftsteuer ist für Schröder kein Thema. Im Zweifelsfall schiebt man die Mehrheit der Konservativen im Bundesrat vor, dass man den Murx der eigenen Unternehmenssteuerreform nicht mehr hinreichend korrigieren könne. Doch eine Korrektur der zuletzt maßlosen Umverteilung hat das Bundeskabinett wirklich nicht im Sinn.

3. Statt durch mehr Investitionen und durch eine Umverteilung zu Gunsten der Bevölkerungsmehrheit der Arbeitslosigkeit zu Leibe zu rücken, wird den Arbeitslosen der Kampf angesagt. Den Arbeitslosen wird die Schuld für die Arbeitslosigkeit gegeben und deshalb werden sie noch stärker unter Druck gesetzt. Dadurch will man diese Leistungsbezieher schnell loswerden, um die Statistik zu bereinigen. Wenn es nur noch ein Jahr (max. 18 Monate) Arbeitslosengeld gibt, dann heißt das im Klartext, dass man Arbeitslose zwingt, jede mögliche Arbeit anzunehmen, nachdem der Druck durch die verschärften Zumutbarkeitsregelungen längst unerträglich geworden ist. Danach gibt es ein auf Sozialhilfe abgestuftes Arbeitslosengeld II - wobei im Übergang ein Drittel der Leistungsbezieher ausgemustert werden: weil sie entweder noch Rücklagen (auch zur Altersversorgung) haben oder der Lebenspartner "zu viel" zuverdient. Aber auch das soll es nur ein Jahr geben - wer dann von den gut sieben Millionen, die einen Job suchen, noch nicht auf einen der zur Zeit 380.000 als offen gemeldeten Stellen vermittelt ist, wird endgültig ausgemustert. Rot-Grün weiß um die Effekte: Armut und Ausgrenzung nehmen zu, die sozialen Gräben werden vertieft, ein neuer Kältestrom zieht durch die Gesellschaft und das deutsche Sozialstaatsmodell wird in seinen Grundfesten beschädigt.

4. Schröder beteuert, er eifere nicht dem US-amerikanischen Kapitalismusmodell nach. Wahrscheinlich meint er das sogar - aber für die Ausgegrenzten und Arbeitslosen ist diese Aussage vollkommen inhaltsleer geworden. Der europäische Sozialstaat ist ein Rechtsstaat - ein Staat, auf den die Beitragszahler Rechtsansprüche erworben haben. Und er ist ein Interventionsstaat - aus der Erkenntnis geboren, dass ein gesellschaftliches Gegengewicht zum marktgetriebenen Kapitalismus erforderlich ist. Unter Rot-Grün wird daraus ein miserables Fürsorgesystem für die ihrer sozialen Rechte beraubten Bedürftigen. Und welchen Sinn hat die Politik der fortschreitenden Privatisierung für die umschwärmte soziale Mitte? Die Botschaft ist doch eindeutig: der europäische Sozialstaat ist ein Auslaufmodell, in das man nicht mehr investiert, Privatversicherung hat Zukunft. Also wächst gerade hier der Druck, die so genannten Lohnnebenkosten schnell zu senken, um sich privat abzusichern. Die nächsten Kürzungsrunden sind programmiert, weil die Einnahmeseite beschädigt ist und die Leistungskürzungen Konsequenzen für die Einnahmen der anderen Sicherungssysteme haben. Die gesamtgesellschaftliche Nachfrage wird damit weiter verringert.

5. Mit den so genannten "Hartz-Gesetzen" wurde die Leiharbeit als entscheidendes Instrument zur Durchsetzung eines flexiblen Kapitalismus aufgewertet. Zusammen mit neuen Formen der "kleinen Selbständigkeit" und neuen Mini-/Midi-Jobs wird der Sektor der prekären Beschäftigung und der Working Poor ausgeweitet. Das soll so weitergehen: Suspendierung des Kündigungsschutzes, Verdoppelung der Befristungsdauer bzw. deren vollständige Aufhebung für über 52-jährige. Das deutsche Sozialstaatsmodell basierte bis zu den 1980er Jahren darauf, den Warencharakter der Arbeitskraft durch Tarifautonomie und arbeits- und sozialrechtliche Schutzgesetze einzuschränken. Die Politik, die jetzt betrieben wird, heißt: Schutz ist Blockade, lasst die Marktgesetze wirken! Amerika lässt grüßen.

6. Auch wenn Ansätze dieser Politik in der jüngeren Vergangenheit mit - nicht gerade euphorischer, aber auch nicht immer nur zähneknirschender - Tolerierung der maßgeblichen Gewerkschaften auf den Weg gebracht wurden, gilt doch immer noch, dass Gewerkschaften eine Barriere auf dem Weg in einen flexibilisierten Kapitalismus darstellen. Um diese beiseite zu räumen, muss ihr wesentliches politisches Instrument stumpf gemacht werden: die überbetriebliche Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen. Schröder weiß selbstverständlich, dass es in Tarifverträgen längst vielfältige betriebliche Handlungsoptionen gibt - wenn er das fordert, will er erheblich mehr. Schröder weiß, dass der flächentarifliche Rahmen flexibel ist; eine diesbezügliche Forderung heißt: Mir reicht die Flexibilität nicht. Warum? In der Regierungserklärung vom 14.3. erklärte der Kanzler unmissverständlich: "Ich erwarte, dass sich die Tarifparteien auf betriebliche Bündnisse einigen... Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber handeln." Gemeint hat er damit nur die Gewerkschaften. Die Arbeitgeber können sich jetzt getrost zurücklehnen, denn ohne eine Regelung mit den Gewerkschaften bekommen sie genau das, was sie wollen - eine Beseitigung der Tarifautonomie. Auch ein Kanzler weiß, dass das bundesdeutsche System der dualen Interessenvertretung mit nicht-gewerkschaftsgebundenen, nicht streikberechtigten, per Gesetz zur Zusammenarbeit verpflichteten Betriebsräten letztlich auf dem Institut des überbetrieblichen Flächentarifvertrages basiert. Diesen zu löchern heißt, die politischen Interventionsmöglichkeiten der Gewerkschaften auszuhebeln und damit zugleich den Betriebsräten des Rückgrat zu brechen.

Am 14. März formulierte der Bundeskanzler eine Zäsur im Verhältnis der Sozialdemokratie zu den Gewerkschaften und zu allen gesellschaftlichen Bewegungen, für die soziale Gerechtigkeit ein politischer Handlungsauftrag ist und für die sich die Massenarbeitslosigkeit nicht mit der Bekämpfung der Arbeitslosen beseitigen lässt. Die Zeit der Kanzlerrunden, der aufopfernden Lobbyarbeit, der "Bündnisse" mit einseitigen Zugeständnissen der Gewerkschaften ist vorbei. Und damit fängt die eigentliche Arbeit in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen an. Überzeugungsarbeit, politische Aufklärung, Bildungsarbeit gehört ganz oben auf die Tagesordnung. Der "Kampf um die Köpfe" der Mitglieder steht an erster Stelle einer gewerkschaftlichen Handlungsstrategie: ökonomische Alphabetisierung, soziale Aufklärung, Verständigung über solidarische Politik gegen Ausgrenzung und schonungslose politische Kritik. Das muss in den Betrieben geschehen und es muss zugleich eine gesellschaftliche Offensive sein. Keine Organisation alleine kann das schultern - dazu bedarf es breiter Bündnisse. Niemand wird die Illusion haben, dass dies ein Sonntagsspaziergang ist. Der Weg der politischen Autonomie und der betrieblichen und gesellschaftlichen Aufklärung ist konfliktgeladen und widerspruchsvoll - aber er ist als aufrechter Gang der einzig verbliebene. Die Gegner haben die Messer gewetzt. Nur politischer Druck führt aus der Sackgasse heraus.


Anmerkungen:

Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus, Dieter Knauss ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Waiblingen.

aus: Sozialismus 4/2003