Die Agenda 2010 und die Strategie von Lissabon

Lissabon im März 2000. Die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Mitgliedsstaaten treffen sich in der portugiesischen Hauptstadt, um die strategischen Ziele der EU für die nächsten Jahre festzulege

... Während ihrer zweitägigen Beratungen einigen sie sich schließlich auf das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Als Termin setzten sie sich das Jahr 2010. Mit ihrem Beschluss verabschieden sie, um es mit den Worten der EU-Kommission auszudrücken, eine Agenda für die wirtschaftliche und soziale Erneuerung Europas, die seither fester Bezugspunkt aller EU-Politiken ist. In den Folgejahren werden in vielen Mitgliedsstaaten "Reformen" auf den Weg gebracht, die den größten Sozialabbau seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Ergebnis haben. Die deutsche Bundesregierung steht fest hinter der Strategie von Lissabon, die sie selbst mit beschlossen und auf allen nachfolgenden EU-Gipfeln unermüdlich bekräftigt hat. Ungeachtet des 1998 erfolgten Regierungswechsels ist sie in Europa traditionell einer der Hauptfürsprecher jener neoliberalen Wirtschaftspolitik, deren konkrete Umsetzung in Deutschland mittlerweile mit Namen wie Riester, Hartz und Rürup verbunden ist. Ein wichtiger Grundpfeiler, auf dem die Strategie von Lissabon und die damit in Deutschland verbundenen Reformvorhaben aufbauen, ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der ohne massiven Druck aus Deutschland wahrscheinlich so nie verabschiedet worden wäre. Beschäftigt man sich mit den neoliberalen Politikkonzepten, wie sie derzeit von der EU vertreten werden, so lesen sie sich wie eine Blaupause für das, was von der Regierung Schröder zur Zeit als "Reformvorhaben" in Deutschland durchgeboxt wird. Es ist daher höchste Zeit, den derzeit stattfindenden Sozialabbau in seinen europäischen Kontext einzuordnen und über die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen zu diskutieren. Was verbirgt sich hinter der Strategie von Lissabon? Mit ihr hat sich die EU, wie bereits erwähnt, das Ziel gesetzt, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Dazu sah man sich Anfang 2000, kurz vor dem Platzen der New-Economy-Blase an den Börsen, in einer hervorragenden Ausgangsposition. Durch den Übergang in eine digitale, wissensbasierte Gesellschaft würden starke Impulse für Wachstum und Beschäftigung ausgelöst. Vorher müsse man sich jedoch dem Paradigmenwechsel stellen, der durch die Globalisierung und die neue wissensbasierte Gesellschaft ausgelöst werde und der sich auf alle Lebensbereiche auswirke und eine radikale Umgestaltung der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft erfordere. Breiten Raum nimmt eine e-Europe-Initiative ein, mit der die EU die Verbreitung und Kommerzialisierung des Internets fördern will. Die Hoffnungen, die die EU damals in diese Initiative setzte, sind mittlerweile einer gewissen Ernüchterung gewichen. Dafür beschäftigt sich die EU um so mehr mit den anderen Vorhaben, die in der Strategie von Lissabon aufgelistet sind. Dazu gehört das ganze Instrumentarium neoliberaler, angebotsorientierter Politik. Man möchte einen Europäischen Raum der Forschung und Innovation sowie ein günstiges Umfeld für die Gründung und Entwicklung innovativer kleiner und mittlerer Unternehmen schaffen. Außerdem solle der europäische Binnenmarkt vollendet werden, wozu insbesondere die Liberalisierung bei Gas, Strom, Postdiensten und Beförderung beschleunigt werden solle und Hemmnisse im Dienstleistungsbereich beseitigt werden müssten. Damit sich auch genügend Kapital findet, das in diese Märkte investiert, brauche man effiziente und integrierte Finanzmärkte. Ausdrücklich erwähnt wird dabei, dass Hindernisse in die Anlage von Pensionsfonds zu beseitigen seien. Betont wird auch die Bedeutung makroökonomischer Politik, bei der neben der Haushaltskonsolidierung der Strukturpolitik eine bedeutende Rolle zukomme. Bezeichnend, dass der Mensch erst nach Internet, Güter- und Kapitalmärkten kommt, auch wenn man sich sogleich beeilt zu beteuern: "Die Menschen sind Europas wichtigstes Gut und müssen im Zentrum der Politik der Union stehen." In diesem Zentrum möchte man dann vor allem die Humankapitalinvestitionen und die Mobilität innerhalb der EU erhöhen. Durch Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, Reduzierung von Qualifikationsdefiziten und einer verbesserten europaweiten Arbeitsvermittlung möchte man die Beschäftigungsquote von 61% auf 70% erhöhen. Damit das anvisierte Ziel auch wirklich erreicht werden kann, strebt man eine "Modernisierung des sozialen Schutzes" an. Dazu heißt es in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates: "Diese Systeme müssen jedoch als Teile eines aktiven Wohlfahrtsstaates angepasst werden, um sicherzustellen, dass Arbeit sich lohnt und das die Systeme angesichts der alternden Bevölkerung auch langfristig aufrechterhalten werden können." Welch menschenverachtende Denkweise hinter dieser Politik steht, wird im Beitrag der EU-Kommission zur Europäischen Ratstagung besonders gut deutlich: "Die Kommission schätzt die unzureichende Nutzung vorhandener Arbeitskräfte und die zusätzlichen Kosten dieser Vergeudung in der Wirtschaft (Krankheit, Kriminalität und damit verbundene Kosten) auf jährlich ein- bis zweitausend Milliarden Euro (12 - 20 % des BIP). Das sind Krebsgeschwüre im Herzen der europäischen Gesellschaft - eine Verschwendung von Ressourcen, die förmlich auf eine produktivere Verwendung warten." Der Mensch wird auf einen Buchungswert in einer Konzernbilanz reduziert. Abgesehen vom Ziel, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden, beinhaltet die Strategie von Lissabon eigentlich nicht viel neues. Ihr Wert liegt vor allem darin, ein Bekenntnis dafür abzulegen, die in der EU bereits bestehenden politischen Prozesse weiterzuführen und besser aufeinander abzustimmen. In der Strategie von Lissabon werden dazu die Grundzüge der Wirtschaftspolitik, sowie der Luxemburg-, der Cardiff- und der Köln-Prozess erwähnt. Die zuletzt genannten drei Prozesse werden auch zusammenfassend als Europäischer Beschäftigungspakt bezeichnet. Eine erfolgreichere Umsetzung erhofft man sich insbesondere von der "Anwendung eines neuen offenen Koordinierungsverfahrens". Nicht erwähnt, weil eigentlich selbstverständlich, ist der EU-Vertrag, in dem u.a. das festgelegt ist, was gemeinhin als Stabilitäts- und Wachstumspakt bezeichnet wird. Im folgenden beleuchte ich, was sich hinter diesen Pakten und Verfahren verbirgt.

Die Einführung des Euro und der Stabilitäts- und Wachstumspakt

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist eng verknüpft mit der Einführung des Euro. Er kam vor allem auf Druck der deutschen Regierung zu Stande, die befürchtete, mit der Einführung des Euro könne es zu höheren Inflationsraten kommen als man das in Deutschland von der Mark gewohnt war. Um dies zu verhindern, sind alle EU-Staaten, die den Euro bei sich einführen wollen, dazu verpflichtet, gewisse Obergrenzen bei der Staatsverschuldung einzuhalten. Pro Jahr darf die Netto-Neuverschuldung nicht mehr als 3 % und die Gesamtverschuldung nicht mehr als 60 % des Bruttoinlandsproduktes betragen. Verfehlt ein Land diese Obergrenzen bei der Staatsverschuldung, können empfindliche Strafen verhängt werden. Die Europäische Zentralbank, die über die Stabilität des Euro wacht, wurde nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank eingerichtet, d.h. unabhängig von Weisungen von Regierungen. Es ist sicher kein Zufall, das sie ihren Sitz in Deutschland hat. Einziges Ziel ihrer Geldpolitik ist eine Obergrenze der Inflationsrate von maximal 2 %. Andere Zielvorgaben, wie z.B. ein hohes Beschäftigungsniveau, fehlen. Um zu verhindern, dass Länder, die diese harten Kriterien nicht erfüllen können, in die Währungsunion aufgenommen werden, müssen sie nicht nur die Obergrenzen bei der Staatsverschuldung erfüllen, sondern auch mindestens zwei Jahre lang vorher einen stabilen Wechselkurs gegenüber dem Euro aufweisen. Betrachtet man den Stabilitäts- und Wachstumspakt im Kontext der übrigen EU-Wirtschaftspolitik, so wird deutlich, dass hinter diesem Pakt weit mehr als bestimmte Obergrenzen bei der Staatsverschuldung stehen. Hier verbirgt sich die ganze Ideologie einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Es wird davon ausgegangen, man müsse dem Kapital nur attraktive Verwertungsbedingungen bieten und schon führe das zu vielen neuen Arbeitsplätzen. Damit folge dann Wohlstand für alle auf dem Fuße. Von Jahr zu Jahr wird deutlicher, dass zwischen dieser Theorie und der zu beobachtenden Realität eine immer größere Lücke klafft. Immer mehr Staaten, darunter vor allem die großen EU-Volkswirtschaften Deutschland und Frankreich, entfernen sich immer weiter davon, die Obergrenzen der Staatsverschuldung einhalten zu können. Seit einiger Zeit plädiert auch die deutsche Regierung öffentlich für eine flexible Auslegung des Paktes, der einiges an Hintertüren offen hält, wenn die EU eine schwere wirtschaftliche Notlage feststellt. Unter immer mehr Experten gilt der Pakt bereits weithin als gescheitert. Wer allerdings meint, mit einer Aufweichung oder Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstums-Paktes würde auch der neoliberale Politikansatz als gescheitert gelten, der unterliegt wahrscheinlich einem großen Irrtum. Die Apologeten des Neoliberalismus haben sich längst auf eine Erklärung geeinigt, warum die wunderbaren Verheißungen eines Wohlstands für alle noch nicht über uns gekommen sind. Hauptursache ist demnach nicht die immer ungleicher werdende Verteilung von Vermögen und der damit einhergehende Schwund an Massenkaufkraft, sondern die arbeitsfähige Bevölkerung, die von angeblich viel zu üppigen sozialen Sicherungssystemen davon abgehalten wird, endlich wieder in die Hände zu spucken und das Bruttosozialprodukt zu steigern. Obendrein führe das zu viel zu hohen Lohnnebenkosten, die Arbeitgeber davon abhalten würden, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Um diesem Missstand zu begegnen, wurden in der EU eine Reihe von Konzepten ersonnen, durch deren Umsetzung hier Abhilfe geschaffen werden soll. Eines davon ist der Europäische Beschäftigungspakt.

Der Europäische Beschäftigungspakt

Auch hier stößt man wieder auf der Wirken der deutschen Bundesregierung. Frisch im Amt hatte sie im ersten Halbjahr 1999 die EU-Ratspräsidentschaft inne. Sie nutze dies, um die Initiative für einen Europäischen Beschäftigungspakt zu ergreifen, der auf dem Treffen der Europäischen Staats- und Regierungschefs in Köln im Juni 1999 verabschiedet wurde. Diesem Pakt liegt der Leitgedanke zu Grunde, dass die gesamtwirtschaftlichen Ansätze, wie sie im EU-Vertrag u.a. mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt festgeschrieben sind, die Arbeitslosigkeit nur wirksam bekämpfen könnten, wenn sie durch Strukturreformen sinnvoll ergänzt würden und sich dann gegenseitig verstärken könnten. Dazu sollen im Beschäftigungspakt die bereits beschlossenen EU-Politiken des Cardiff- und Luxemburg-Prozesses in Bezug auf die europäische Beschäftigungspolitik besser aufeinander abgestimmt werden und zusätzlich durch den Köln-Prozess ergänzt werden. Hinter dem Begriff Prozess verbergen sich jeweils größere politische Vorhaben der EU, die nach der Stadt benannt werden, in der das Gipfeltreffen stattfindet, dass dieses Vorhaben verabschiedet. Während es beim 1998 auf den Weg gebrachten Cardiff-Prozess um Strukturreformen in den Waren-, Dienstleistungs- und Finanzmärkten geht, die meist eine größere Liberalisierung zum Ziel haben, beschäftigt sich der ein Jahr ältere Luxemburg-Prozess mit der Beschäftigungspolitik. Damit in Europa hinterher jeder weiß, wo der Hammer hängt, wurde mit dem Köln-Prozess zusätzlich ein Gesprächskreis initiiert, der stark an das vor einiger Zeit in Deutschland ergebnislos abgebrochene Bündnis für Arbeit erinnert. An ihm nehmen neben Vertretern der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Rats der Finanzminister auch Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden teil. Rechtsgrundlage für das Wirken der EU im Bereich der Beschäftigungspolitik ist vor allem der Art 128, der seit dem Amsterdamer Vertrag im EG-Vertrag steht. Damit wird ein Berichts- und Überwachungsverfahren im Hinblick auf die Einhaltung der einmal jährlich im Rahmen des Luxemburg-Prozesses verabschiedeten beschäftigungspolitischen Leitlinien eingeführt. Diese Grundlage hat für die EU nur leider einen entscheidenden Haken. Mit ihr kann die EU den einzelnen Mitgliedsstaaten lediglich Empfehlungen geben, wie sie ihre nationalen Beschäftigungspolitiken auf die allgemeine EU-Wirtschaftspolitik abstimmen sollen und deren Umsetzung überwachen. Hält sich ein Staat aber nicht an diese Empfehlungen, gibt es keinerlei Sanktionsmöglichkeit, diese auch tatsächlich durchzusetzen. Um ihren Vorstellungen den entsprechenden Nachdruck zu verleihen, hat sich die EU deshalb die Methode der offenen Koordinierung ersonnen. Die Methode der offenen Koordinierung Diese Methode wurde von der EU erstmals im Rahmen des Luxemburg-Prozesses auf die engere Arbeitsmarktpolitik angewandt. Mit der Strategie von Lissabon wurde dieses Verfahren erheblich ausgeweitet und seitdem auch auf viele andere Politikbereiche der Union übertragen. Die offene Koordinierung besteht aus einem vierstufigen Verfahren: • Zunächst einigen sich alle Mitgliedsstaaten auf gemeinsame Leitlinien mit festen Zeitvorgaben für ihre europaweite Verwirklichung. • Gegebenenfalls werden Indikatoren und Benchmarks entwickelt, mit denen der erreichte Fortschritt mit anderen als vorbildlich eingestuften Ländern verglichen wird. Besonders beliebt sind Vergleiche mit den USA und Japan, in denen die EU ihre Hauptkonkurrenten sieht. • Anschließend werden die Mitgliedsländer aufgefordert, die gemeinsam beschlossenen Leitlinien in ihren Nationalstaaten umzusetzen. • Die Fortschritte, die die EU insgesamt und die einzelnen Länder bei der Umsetzung dieser Leitlinien machen, werden von der EU in regelmäßigen Abständen an Hand vorher vereinbarter Indikatoren evaluiert. Dazu sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, regelmäßige Berichte an die EU-Kommission zu schicken, in denen sie die von ihnen ergriffenen Maßnahmen beschreiben und über ihre Wirkung berichten. Durch das so erfolgende Bench-Marking soll es den Mitgliedsstaaten ermöglicht werden, ihren eigenen Fortschritt mit dem der anderen Staaten zu vergleichen. Auf diese Weise soll es möglich sein, von den erfolgreichsten zu lernen. Um diesen Prozess zu unterstützen, veröffentlicht die EU regelmäßig die Ergebnisse ihrer Evaluierungen und gibt für die einzelnen Mitgliedsstaaten Empfehlungen ab, wie sie ihre erreichten Ergebnisse weiter verbessern können. Problematisch ist, dass die EU mit diesem Verfahren in immer mehr Politikbereiche eindringt, für die sie eigentlich laut EU-Vertrag gar keine Zuständigkeiten hat. Zwar sind die ausgesprochenen Politikempfehlungen rein juristisch unverbindlich, das Verfahren erzielt aber eine nicht zu unterschätzende Wirkung durch die Veröffentlichung der Rankings über das Abschneiden der einzelnen Staaten. Eine Regierung, die z.B. bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nur im hinteren Drittel rangiert, steht sofort als Versager dar. Hinzu kommt, dass keine ausreichende öffentliche Diskussion über die Politikkonzepte stattfindet, die den Leitlinien und Indikatoren der verwendeten Modelle zu Grunde liegen, die fast durchgängig neoliberalen Politikvorstellungen folgen. Die Anwendung der Methode der offenen Koordinierung wird allein vom Europäischen Rat beschlossen, der die Kommission mit der Umsetzung betraut. Zwar wird immer wieder betont, dass es während der Umsetzung zahlreiche Konsultationen mit anderen wichtigen Akteuren gibt, die auch tatsächlich stattfinden, ein wirklicher Einfluss aber ist damit nicht verbunden. Auf diese Weise untergräbt die EU die parlamentarischen Demokratien in den Mitgliedsstaaten.

Die Politikempfehlungen an Deutschland

Eine der wichtigsten Prozeduren im Rahmen der offenen Koordinierung sind die Grundzüge der Wirtschaftspolitik. Mit ihnen möchte die EU die Wirtschaftspolitiken der einzelnen Mitgliedsstaaten darauf hin koordinieren, die geplanten Ziele der Lissabonner Strategie umzusetzen. Dieses Jahr wurden sie erstmals gleichzeitig mit den beschäftigungspolitischen Leitlinien erarbeitet und veröffentlicht, um eine noch bessere Abstimmung der beiden Papiere aufeinander zu erreichen. Nachdem Deutschland im letzten Jahr die Obergrenze von 3 % bei der staatlichen Neuverschuldung verfehlt hatte, stand es in Brüssel massiv am Pranger. Statt die verfehlten Grundprämissen einer falschen Wirtschaftsideologie für die immer größer werdenden Probleme verantwortlich zu machen, sieht man die Ursache im mangelnden Willen zu strukturellen Reformen. Bereits letztes Jahr wurde in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik Deutschland empfohlen, angeblich notwendige Reformen im Gesundheitswesen umzusetzen, um den Ausgabendruck zu vermindern. Außerdem empfahl man, dass Deutschland seine Abgaben- und Leistungssysteme reformiere, damit Arbeit sich lohne, die Arbeitsmarktprogramme effizienter zu gestalten und für eine flexiblere Arbeitsorganisation zu sorgen. Ferner soll Deutschland einen effizienten Wettbewerb auf dem Strom- und Gasmarkt gewährleisten. Als die Kommission im Rahmen der offenen Koordinierung Mitte Januar ihren Bericht über die Implementierung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik des letzten Jahres abgab, bekam die deutsche Regierung einen deutlichen Rüffel. Neben Österreich war Deutschland das einzige Land, dem die Kommission attestierte, in den Bereichen Öffentliche Finanzen und Arbeitsmarkt kaum Fortschritte gemacht zu haben. Als Anfang des Jahres klar wurde, dass in Deutschland die Neuverschuldung im letzten Jahr um mehr als 3% gestiegen war, machte ECOFIN, der Rat der europäischen Finanzminister, klar, was er von Deutschland erwartet: "Der Rat stellt fest, dass der Anstieg des nominalen Defizits von 2001 auf 2002 nicht mehr mit der unerwarteten Wachstumsverlangsamung zu erklären ist und dass es wiederum zu Ausgabenüberschreitungen im Gesundheitswesen gekommen ist, die zu einer Verschlechterung des strukturellen Saldos geführt haben." Weiter hinten heißt es: "Der Rat hält es für unverzichtbar, die Haushaltskonsolidierung durch weit reichende Reformen zur Erhöhung des sehr geringen Wachstumspotenzials in Deutschland abzustützen, um die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sicherzustellen. [...] Der Rat [...] weist jedoch erneut darauf hin, dass es nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch bei den Sozialversicherungs- und ganz allgemein den Leistungssystemen dringender Reformen bedarf und dass die regulatorische Belastung der Wirtschaft verringert werden muss." Bislang sind dies allerdings rechtlich unverbindliche Empfehlungen, da es die deutsche Regierung bisher verhindern konnte, dass ein offizielles Defizitverfahren gegen Deutschland eröffnet wurde. Obwohl mittlerweile alles dafür spricht, dass auch dieses Jahr die offizielle Defizitgrenze überschritten wird, stehen die Chancen gar nicht so schlecht, dass dies auch so bleiben wird, da es mittlerweile eine große Diskussion über den Pakt gibt. Im April legte die Kommission ihren Entwurf für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2003 vor, die dann auf dem EU-Gipfel im Juni in Thessaloniki von den Staats- und Regierungschefs verabschiedet wurde. Darin wird Deutschland u.a. empfohlen • die Abgaben- und Sozialleistungssysteme weiter zu reformieren, wobei man sich explizit Sorgen um die Tragfähigkeit des Gesundheits- und Rentensystems macht, • zu gewährleisten, dass sich die Produktivitätsunterschiede in den verschiedenen Berufen und geographischen Gebieten besser in den Löhnen widerspiegeln und • durch Schaffung eines mehr wettbewerbsbetonten unternehmerischen Umfelds und weiterer Reduzierung des regulatorischen und bürokratischen Aufwands, u.a. durch Verringerung des tatsächlichen Kündigungsschutzniveaus, den Unternehmen mehr Wachstums- und Investitionsanreize zu bieten. Eine vollständige Auflistung aller Empfehlungen steht in der Tabelle des nächsten Kapitels. Gleichzeitig wird lobend die Rede von Bundeskanzler Schröder am 14. März vor dem deutschen Bundestag erwähnt, "die wichtige Schritte zur Lösung der Strukturprobleme in Deutschland darstelle." Hier hatte Schröder erstmals die Agenda 2010 verkündet. Die deutsche Agenda 2010 und die Strategie von Lissabon Schröder hörte dieses Lob sicher gerne. In seiner Regierungserklärung, die er kurz vor Ausbruch des Irak-Kriegs hielt, stellt er die angekündigten Reformen explizit in einen europäischen Zusammenhang. Er sagte: "Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch unsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Weltordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfassend wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis eines starken und geeinten Europas tun. Es geht um die Rolle Europas in der internationalen Politik. Aber es geht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidungen in der Welt von morgen. Beides - auch das ist Gegenstand dieser Debatte - werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts- und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer werden, und zwar in Deutschland als dem größten Land in Europa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit natürlich auch in Europa. Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaftlichen und damit auch unseren sozialen Möglichkeiten einerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Europas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus den Augen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesellschaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa." Auch in seiner jüngsten Regierungs­erklärung vom 3. Juli 2003 stellte er die europäische Dimension der geplanten Maßnahmen deutlich heraus: "Die Fragen, die wir heute und in den kommenden Tagen und Wochen diskutieren, beschäftigen nicht nur die Menschen in Deutschland; sie beschäftigen auch und gerade Europa. Das hat Gründe. Unsere Volkswirtschaft, die deutsche Volkswirtschaft, ist ungeachtet all dessen, was wir zu verbessern haben, die stärkste Europas. Etwa 30 Prozent der Wertschöpfung in Gesamteuropa werden von der deutschen Volkswirtschaft und damit von den Menschen in Deutschland erwirtschaftet. Dies bedeutet, dass wir gewiss für das verantwortlich sind, was in unserem Land geschieht, dass wir aber darüber hinaus auch eine besondere Verantwortung für die europäische Entwicklung tragen. Dieser Verantwortung wollen wir uns stellen; denn ohne ein starkes Deutschland ist Europa schwächer, als es sein müsste. Ich füge hinzu: Es gilt auch, dass Deutschland ohne einen europäischen Binnenmarkt und ohne die europäische Integration weit weniger Chancen hätte, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Das gilt ökonomisch, das gilt aber auch politisch. Es gilt übrigens auch für unser Sozialmodell der Teilhabe und der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb stellen wir uns unserer Verantwortung für Deutschland und Europa im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse, weil das eine ohne das andere nicht mehr geht. Vor diesem Hintergrund stimmen wir unsere strukturellen und konjunkturellen Maßnahmen aufeinander ab und übernehmen auf der Basis des europäischen Paktes für Stabilität und Wachstum die Verantwortung für genau dies: Stabilität und Wachstum. Deshalb haben wir in einem für Deutschland bisher beispiellosen Kraftakt Entscheidungen getroffen, die für mehr Dynamik, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung sorgen. Deshalb sind wir in der Lage, die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die mittelständischen Unternehmer ab Anfang nächsten Jahres dramatisch von Steuern zu entlasten." Betrachtet man die angekündigten Maßnahmen im einzelnen, so sind sie in fast allen Punkten 1:1 die Umsetzung der aus Brüssel geforderten Maßnahmen. Die folgende Tabelle verdeutlicht dies, indem sie die 9 Empfehlungen der EU-Kommission Zitaten aus der Regierungserklärung von Schröder gegenüberstellt, die am 3. Juli, wenige Tage nach Annahme der Grundzüge der Wirtschaftspolitik auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki, vor dem deutschen Bundestag hielt.

Empfehlungen der EU an Deutschland in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik

Zitate aus der Regierungserklärung vom 3. Juli 2003. "Deutschland bewegt sich - Mehr Dynamik für Wachstum und Beschäftigung"

1. das Abgaben- und sozialleistungssystem zu reformieren, indem u.a. sichergestellt wird, dass die Aufnahme einer Arbeit oder der Übergang in eine höhere Einkommensgruppe in allen Einkommensstufen zu Nettogewinnen führt, und indem der Leistungsbezug an eine aktive Arbeitssuche geknüpft wird;

Ab dem 1. Januar nächsten Jahres werden die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt 10 Prozent weniger Steuern zahlen müssen. Wir senken den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent. Ich will daran erinnern, dass vor fünf Jahren der Eingangssteuersatz noch bei 26 Prozent lag.

Ich will dabei nur eines deutlich machen: Es geht mir darum, dazu beizutragen, dass in unserem Land die aktiv Beschäftigten, die das Einkommen für sich selbst und für ihre Familien durch Arbeit in den Dienstleistungszentren, in den Fabriken beziehen, der Maßstab für den Abbau von Subventionen sind. In den letzten Jahren wurden in Betrieben freiwillige Leistungen - das ist teilweise nachvollziehbar - abgebaut. Weil das so ist, darf unser Augenmerk nicht allein darauf gerichtet sein, die Transfereinkommen möglichst ungeschmälert zu erhalten. Dies wäre gegenüber denjenigen, die die Leistungsträger bei der Entwicklung der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung sind, nicht gerecht.

2. Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass sich Produkti-vitätsunterschiede in den verschiedenen Berufen und geografischen Gebieten besser in den Löhnen widerspiegeln, und in diesem Zusammenhang das Günstig-keitsprinzip dergestalt reformieren, dass eine vorübergehende geringere Entlohung von Berufsanfängern möglich wird;

Der Umschwung im Denken findet statt. Die Menschen in Deutschland sind bereit, die Veränderungen mitzutragen.

Hier beziehe ich die Gewerkschaften ausdrücklich ein, ohne die Deutschland - ich betone das gerade jetzt durchaus bewusst - nie so leistungsstark geworden wäre, wie es ist.

In ihren eigenen Reihen haben die Gewerkschaften inen Klärungsprozess durchlaufen, der ganz gewiss zeigt: Auch die Gewerkschaftsmitglieder wollen Akteure des Wandels, nicht seine Opfer und erst recht nicht seine Bremser sein.

3. Verbesserung der Effizienz der aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, speziell der Unterstützung der Arbeitssuche. Die aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nach Kosten-Nutzen-Kriterien zu reformieren und sie besser auf die Bevölkerungsgruppen, die von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht sind, ausrichten;

Auf dem Arbeitsmarkt haben wir durch die bereits umge-setzten so genannten Hartz-Reformen im Niedriglohnsektor und bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen so hohe Beschäftigungschancen erreicht wie nie zuvor. Durch die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen und die vertraglichen Regelungen zur Zeit- und Leiharbeit verschaffen wir nicht nur deutlich mehr Arbeitswilligen Zugang zum Arbeitsmarkt - und zwar zum ersten Arbeits-markt -, sondern haben wir auch den gesamten Bereich der Leiharbeit aus dem geholt, was man die "Schmuddelecke" nennt, in der sich die entsprechenden Angebote und die Nachfrage früher großenteils bewegt haben.

Die Förderung der Selbstständigkeit durch die so genannten Ich-AGs und damit verwandte Maßnahmen sind ein Angebot, das schon jetzt sehr stark angenommen wird. Ich bin sicher: Schon im nächsten Jahr werden wir in Deutschland einen Arbeitsmarkt geschaffen haben, der weit offener und anpassungsfähiger ist, als es jahrzehntelang der Fall war.

4. durch Schaffung eines mehr wettbewerbsbetonten unternehmerischen Umfelds und weitere Reduzierung des regulatorischen und bürokratischen Aufwands, u.a. durch Verringerung des tatsächlichen Kündigungsschutzniveaus, den Unternehmen Investitions- und Wachstumsanreize zu bieten;

Novellierung der Handwerksordnung, Flexibilisierung des Kündigungsschutzes, Förderung von Existenzgründern, Abbau von Bürokratie und Stärkung der Eigenkapitalbasis.

Dazu kommt, wohlgemerkt, die Strategie zur Senkung der Lohnnebenkosten und Abgaben. Das heißt, wir geben dem Mittelstand die Möglichkeiten an die Hand, sein Engagement und seine Innovationskraft - also das, was unser Land so stark gemacht hat - aufs Neue vollständig zur Geltung zu bringen.

Mittelständische Unternehmen müssen ab dem nächsten Jahr fast 10 Milliarden Euro weniger Steuern zahlen. Damit geben wir in einer wirtschaftlich schwierigen Situation ein klares Signal an die Wirtschaft: Weniger Steuern für mehr Investitionen und mehr Investitionen für mehr Beschäftigung!

5. weitere Reformen durchführen, so dass das Qualifikationsniveau verbessert und der anhaltende Mangel an qualifizierten Fachkräften behoben wird;


6. im Jahr 2003 diskretionäre Maßnahmen im Umfang von 1% des BIP umzusetzen und der derzeitigen Lage eines übermäßigen Defizits bis spätestens 2004 abzuhelfen;

Viele Subventionen - seien es Finanzhilfen oder seien es steuerliche Subventionen -, an die wir uns aus rechtlichen Gründen langzeitig gebunden haben, könnten auch dann nicht sofort reduziert werden, wenn wir das aus Gründen gesamtwirtschaftlicher Vernunft tun wollten. Aber gerade weil wir durch die Agenda 2010 im Prozess der Strukturreformen vorankommen und weil wir mit dem Bundeshaushalt 2004 einen nachhaltigen Subventionsabbau betreiben, haben wir uns den Freiraum erarbeitet, durch vorgezogene Steuerentlastungen dieses wichtige Signal für Wachstum und damit für Beschäftigung zu geben.

7. das konjunkturbereinigte Defizit im Zeitraum zwischen Ende 2003 und 2005 um mindestens einen Prozentpunkt des BIP zu senken;

Bis 2010 können wir durch die strukturellen Reformen der Agenda 45 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einsparen.

8. die Vorsorge mittels zusätzlicher Alterversorgungssysteme zu fördern, die Anreize für einen späteren Eintritt in den Ruhestand zu stärken sowie eine bessere Beziehung zwischen individuellen Zahlungen und erworbenen Ansprüchen in der gesetzlichen Alterssicherung herzustellen;

Ich will noch einmal an Folgendes erinnern: Wir haben mit der Rentenreform in der letzten Legislaturperiode die Säule der Kapitaldeckung neben die der Umlagefinanzierung gestellt. Damit haben wir in Deutschland bereits in großen Teilen das umgesetzt, was Partner- und Nachbarländer noch vor sich haben. Aber wir haben damals noch zu sehr auf die konjunkturelle Entwicklung vertraut. Deswegen und wegen der dramatischen Veränderungen in der Demographie werden wir in dieser Frage strukturell noch einmal nacharbeiten müssen. Das Ziel bleibt: Die Rentner müssen einen guten Lebensstandard haben. Die arbeitenden Generationen dürfen nur mit einem Beitrag belastet werden, den sie auch tragen können. Deshalb wollen wir erreichen, dass der Beitragssatz in diesem Jahr bei 19,5 Prozent bleibt. Wir wollen und müssen den weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten begrenzen.

9. die Effizienz des Gesundheitssektors durch Einführung wirtschaftlicher Anreize für die Erbringer und Empfänger von Gesundheitsleistungen - wie beispielsweise Kostenteilung - zu verbessern.

Im Gesundheitswesen beispielsweise brauchen wir mehr Marktwirtschaft, mehr Wettbewerb und mehr Transparenz.

Liest man die Tabelle aufmerksam, so fallen auch einige Punkte auf, bei denen der Kanzler noch keinen vollständigen Vollzug melden kann. • Einer dieser Punkte ist die geforderte Flexibilisierung der Löhne. Dazu ist die Mitarbeit der Gewerkschaften nötig, die von der Bundesregierung diesbezüglich heftig umworben werden. Das Scheitern des Metaller-Streiks zeigt, dass Bundesregierung und Wirtschaft hier bereits einige Erfolge vorweisen können. Weitere Angriffe, insbesondere auf die Flächentarifverträge, werden wahrscheinlich folgen. • Auch beim Thema Renten blieb Schröder bisher eher nebulös, fing aber bereits an, die Öffentlichkeit auf die Notwendigkeit weiterer Reformen einzustimmen. • Bei den Einsparungen im Bundeshaushalt ist wohl eher nicht zu erwarten, dass die angemahnten Größenordnungen erreicht werden. Dies dürfte allerdings auch nicht so tragisch sein, wird doch bereits überall über eine flexiblere Auslegung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes diskutiert. Schlussfolgerungen Der von der deutschen Regierung durchgeführte Angriff auf den Sozialstaat ist eingebettet in eine europaweite Kampagne, die sich anschickt, die Gesellschaftssysteme unseres Kontinents nachhaltig zu verändern. Die EU ist dabei einer der Hauptantriebsmotoren, mit denen sich die angestrebten Veränderungen auch immer leichter in Deutschland durchsetzen und als alternativlos darstellen lassen. Die Schuldigen dafür allein in Brüssel zu suchen, wäre aber bestimmt zu einfach. Gerade die deutsche Regierung, die die wirtschaftlich stärkste Volkswirtschaft in Europa vertritt, ist einer der Hauptantriebsmotoren dieser Politik. Die globalisierungskritische Bewegung in Deutschland hat, wenn sie ihrem Anspruch als internationalistische Bewegung ernst nimmt, hier eine große Verantwortung. Für Kapital und Neoliberale hat sich der Umweg über Brüssel in den letzten Jahren immer mehr ausgezahlt. Die globalisierungskritische Bewegung in Deutschland hat diesem Faktor bisher zu wenig Aufmerksamkeit zu teil werden lassen. In anderen Ländern, allem voran Frankreich, wo das Widerstandspotential gegen neoliberale Reformen schon wesentlich größer ist, ist das anders. Die Bereitschaft, die neoliberalen Reformvorhaben als alternativlos anzusehen, hat sich in einem seit vielen Jahren andauernden Prozess in den Strukturen von staatlichen Bürokratien, Wissenschafts- und Medienzusammenhängen und nicht zuletzt den Köpfen vieler Menschen festgesetzt. Um diesen Prozess umzukehren, wird es eines langen Atems und großer Kraftanstrengungen bedürfen. Wichtig ist dabei vor allem, den an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Menschen geleisteten Protest in eine kontinuierliche Bewegung zu integrieren und auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Das Kippen der Agenda von Lissabon ist dafür ein ideales Ziel. Über sie lässt sich der Widerstand verknüpfen. Wie ein roter Faden durchzieht sie alle wichtigen Politiken der EU der letzten Jahre. Sie ist außerdem so langfristig angelegt, dass nach dem erfolgreichen Durchboxen einer kleinen Teilreform nicht automatisch der erwachende Widerstand wieder erlahmen muss. Hinzu kommt, dass alle damit zusammenhängenden Dokumente von der EU in viele wichtige europäische Sprachen übersetzt im Internet vorhanden sind. Eine Verknüpfung zu dem Sozialabbau in den einzelnen Ländern herzustellen, fällt nicht schwer. Dabei sollte man sich auch damit auseinandersetzen, was die derzeitige Politik für den Rest der Welt bedeutet (Handelsfragen, Militarisierung). Die neoliberale Ausrichtung der EU ist derzeit verwundbarer, als es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. • Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt steht ein Herzstück neoliberaler Wirtschaftspolitik kurz vor dem Scheitern. • Gleichzeitig steht die Union mit der EU-Osterweiterung vor einer riesigen Herausforderung. Es gilt, diesen Prozess so zu gestalten, dass europaweit die Sozialstandards auf- und nicht abgebaut werden. Die derzeitige Politik ist dazu völlig ungeeignet. • Außerdem steht nächstes Jahr die endgültige Verabschiedung einer europäischen Verfassung ganz oben auf der Agenda. Der derzeitige Verfassungsentwurf ist wieder einmal eine ungenutzte Chance, die EU umfassend zu demokratisieren und ein europäisches Sozialmodell zu entwickeln. • Am 13. Juni 2004 werden die nächsten Europawahlen stattfinden. • Wahrscheinlichen lassen sich auch in gewerkschaftlichen und rot-grün-nahen Arbeitszusammenhängen leichter Menschen mobilisieren, wenn es nicht direkt gegen "ihre" Regierung geht. Ist erst mal der neoliberale Politikansatz in Brüssel diskreditiert, öffnen sich auch wieder Räume für alternative Politikkonzepte in den Mitgliedsstaaten. Es ist kein Naturgesetz, dass Europa nur für Kapital und Neoliberale eine Erfolgsstory sein muss. Wenn eines Tages das Scheitern des neoliberalen Flexibilisierungs- und Liberalisierungswahns unübersehbar wird, sollten es linke, solidarische Politikkonzepte sein, die die Diskussion um Alternativen in Europa prägen. Andernfalls droht auch ein Rückfall in Faschismus, Nationalismus und Krieg, wie er die Geschichte Europas im letzten Jahrhundert nur allzu lang prägte. Um dies zu verhindern, sollten zwei Fragen weiter diskutiert werden: • Wie sieht eine europäische Struktur aus, in der in Zukunft alle wichtigen Fragen demokratisch und transparent von den betroffenen Menschen diskutiert und entschieden werden können? • Wie sieht ein europäisches Gesellschaftsmodell aus, dass zu einer gerechten Verteilung bei Einkommen, Vermögen und Produktivitätsfortschritt für alle führt? In diesem Sinne war das Europäische Sozialforum in Florenz schon ein guter Anfang. Diesen gilt es in St. Denis bei Paris fortzuführen. Eine andere Welt möglich - ein anderes Europa auch. Links im Internet: Offizielle EU-Seiten: Offizielle Seite der EU zur Strategie von Lisabon:http://europa.eu.int/comm/lisbon_strategy/index_de.html Eine Agenda für die wirtschaftliche und soziale Erneuerung Europas:http://europa.eu.int/comm/lisbon_strategy/pdf/lisbon_de.pdf Schlussfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat (Lissabon) 23. und 24. März 2000:http://ue.eu.int/newsroom/LoadDoc.asp?MAX=1&BID=76&DID=60941&LANG=4 Empfehlung der Kommission für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2003-2005:http://europa.eu.int/comm/economy_finance/publications/european_economy/2003/comm2003_170de.pdf Regierungserklärungen von Schröder: 14. März 2003:http://www.spd.de/servlet/PB/show/1025523/Regierungserklaerung_Gerhard_Schroeder_2003_03_14.pdf 3. Juli 2003:http://www.bundesregierung.de/-,413.497984/regierungserklaerung/Deutschland-bewegt-sich-Mehr-D.htm Alternativen zur bestehenden EU-Politik: attac EU-AG:http://www.attac.de/eu-ag Euro-Memo-Gruppe:http://www.memo-europe.uni-bremen.de/euromemo/indexmem.htm Arbeiterkammer Wien:http://www.akwien.at/881_1047.htm