Treibgut SPD

Das 140. Jahr der deutschen Sozialdemokratie könnte ein weiteres Schicksalsjahr werden. Tatsächlich drängen sich manchem Beobachter Vergleiche mit 1982 auf, dem Jahr, ...

... in dem sich die SPD für die folgenden 16 Jahre in die Opposition verabschiedete. Nicht, dass Gleiches ihr schon heute wieder drohte - anders als damals die FDP stehen dieGrünen in Treue fest zur Regierung, schon mangels ernsthafter Koalitionsalternativen. Aber an der SPD-Basis rumort es gewaltig. Die Gewerkschaften, seit Anbeginn treuer gesellschaftlicher Arm der Sozialdemokratie, sprechen offen vom "Bruch" (DGB-Chef Michael Sommer) und die Jusos, seit Jahren in der medialen Versenkung verschwunden, kritisieren vehement die Agenda 2010 als eine "einzige Gerechtigkeitslücke" (Niels Annen) und begehren gegen des Kanzlers Machtwort-Politik auf. Natürlich kann die über Generationen gewachsene Verbindung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie auch durch diese Belastungsprobe nicht dauerhaft beschädigt werden. Spätestens in der Opposition werden sie wieder zueinander finden. Und dennoch: Wenn jetzt ein Chefstratege wie Peter Glotz das Problem Gerhard Schröders mit dem soeben beendeten SPD-Sonderparteitag darauf reduziert, "die wichtigste Grundregel der Politik" nicht berücksichtigt zu haben: "Du musst die Parteifanatiker ruhig stellen"1, unterläuft das die eigentlichen Herausforderungen. Faktisch droht der SPD, in absehbarer Zeit über jene "Parteifanatiker" gar nicht mehr zu verfügen, die sie doch so dringend benötigt - nicht nur für all die erforderlichen Handreichungen beim Verteilen von Flugblättern und Kleben von Plakaten. Intellektuelle alleine machen bekanntlich noch keine Partei, Netzwerkstrukturen hin oder her. Jetzt aber zeigt sich, dass bloßes Basta nicht genügt, um die Basis bei der Stange zu halten. Schlichtes Schröder-Bashing erklärt die Krise der SPD jedoch ebenfalls höchst unzureichend. Das Problem liegt tiefer. Die SPD ist strukturell, genauer: sie ist ideell in einer tiefen Krise. Dem einfachen Parteimitglied stellt sich die Frage: Warum noch Sozialdemokrat sein? Welchen Sinn, welche Aufgabe hat heute noch die SPD?

Permanenter Ideenverlust

Von Lassalle über Wehner bis Schröder, von Leipzig über Godesberg bis Berlin, von der Klassen- zur Volkspartei zur Neuen Mitte, die Parteigeschichte der Sozialdemokratie lässt sich lesen als Geschichte des kontinuierlichen Ideologieabbaus. Mit der Person Gerhard Schröders ist die Partei am Ende dieses Prozesses angelangt. Die SPD ist ideo-logisch-programmatisch entkernt. Deshalb greifen auch all jene zu kurz, die jetzt ein neues Godesberg2 fordern. Godesberg als der Abschied von der marxistischen Klassentheorie war Ausdruck der notwendigen ideologischen Abrüstung einer Partei, die noch im Übermaß über den Kitt der Tradition verfügte. Bereits vor der ersten Kanzlerschaft ist Gerhard Schröder bekanntlich mit der Auffassung angetreten, es gebe keine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik, sondern bloß gute oder schlechte. Wenn er heute seine Agenda 2010 allein mit dem Argument begründet, "Deutschland fit zu machen für die Zukunft", zeigt sich die Auflösung der ideellen Ligaturen. Die Herstellung nationalstaatlicher Wettbewerbsfähigkeit kann jedoch einer sozialdemokratischen Partei als Zielvorgabe nicht genügen, um Mitglieder und Wähler zu begeistern. Wenn Peter Glotz weiter fordert, die SPD müsse ihren Begriff von sozialer Gerechtigkeit über Bord werfen, möchte man dagegen halten: Was bleibt dann von der SPD? Die bloße Entwertung aller Werte beschert bekanntlich noch keine neuen. Dabei gibt es gerade heute, in Anbetracht neuer Unübersichtlichkeiten in einer permanent komplexer werdenden Gesellschaft, ein wachsendes Bedürfnis nach sinnstiftender Orientierung. Gerade wenn die fetten Jahren ersichtlich vorbei sind, da die ständige Umverteilung von Zuwächsen die Zustimmung zur Sozialdemokratie garantierte, und es heute darum geht, das Mehr im Weniger zu definieren, müssen wieder verstärkt Idealismus und Glaube an eine bessere Zukunft als Ressourcen des Engagements herhalten. Jetzt wird sich bewahrheiten, ob mit dem "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts" (Dahrendorf) auch der rostige Tanker SPD auf Grund läuft. Angesichts seines orientierungslosen Schlingerns erweist sich aber auch, dass es höchst voreilig war, mit der Neue Mitte-Doktrin das Ende aller Ideologien zu propagieren. Ging man damals von der Annahme aus, die großen Parteien würden sich zunehmend ununterscheidbar in der Mitte ansiedeln, jenseits von rechts und links, erleben wir zumindest auf der Rechten derzeit das Gegenteil. Längst wird hier massiv ideologisch aufgerüstet - nach innen wie nach außen. Zwar beobachten wir in der Bundesrepublik noch nicht eine derart konzertierte Aktion wie in den Vereinigten Staaten, und doch sind die scharfen Angriffe gegen die Gewerkschaften Vorboten eines heftig auffrischenden Windes. Die Ideologen sind auf dem Vormarsch: Während in den Vereinigten Staaten des George W. Bush die dritte Welle des Konservatismus3 anhebt, bekommen bei uns die Ideologen der radikalen Entstaatlichung zusehends Oberwasser in Form gesellschaftlichen und vor allem medialen Rückhalts. Ohnehin hat der Strukturkonservatismus den Vorteil, einen utopischen Fluchtpunkt nicht zu benötigen. Die bloße Besitzstandswahrung, im Idealfall ihre Mehrung, genügt ihm allemal als Motivation. Wenn sich aber der Reaktionär zudem mit einer Ideologie bewehrt, wird aus Beharrungsvermögen schnell radikaler Angriff. Reagonomics und Thatcherismus sprechen eine eindeutige Sprache. Und derzeit haben es die neoliberalen Ideologen ausgesprochen leicht: "sie verlassen sich auf die Unfähigkeit der Koalition, neue Konzeptionen des Wohlfahrtstaates hervorzubringen".4 Wenn also die Sozialdemokratie ihrer programmatisch-ideellen Schwäche nicht entschieden Abhilfe schafft, läuft sie Gefahr, endgültig ins Abseits zu geraten. Noch profitiert sie davon, dass in Deutschland ein starker Konsens über die Notwendigkeit sozialstaatlicher Einhegungen des Kapitalismus existiert. Aber die Vereinigten Staaten sind warnendes Beispiel dafür, wie eine demokratische Linke, wenn nicht, wie in der Außenpolitik, gleich gänzlich ins Abseits, so doch zunehmend an den Rand der Bedeutungslosigkeit geraten kann.

Bollwerk Gewerkschaften

Die einzigen, die auf der Linken heute noch über ideologisches Rüstzeug verfügen, sind die Gewerkschaften. Dies macht gerade ihren störrisch-sperrigen Charakter aus, der sie zum Angriffsobjekt der Neoliberalen förmlich prädestiniert.5 Ein Fels in der Brandung sind sie allerdings schon lange nicht mehr, werden doch auch ihre Fundamente durch den wirtschaftlichen Wandel zunehmend unterhöhlt. Die bloße Verteidigung des sozialstaatlichen Ist-Zustan-des, der den Gewerkschaften derzeit noch mehr Zustimmung in den eigenen Reihen sichert als der SPD, dürfte auf Dauer als sozialdemokratisches Movens nicht reichen. Gerade der Spannungszustand zwischen mangelhaftem Ist- und anzustrebendem Soll-Zustand machte, worauf Franz Walter zu Recht hinweist, den Kern sozialdemokratischen Engagements aus.6Die Ironie der Geschichte: "Gerade die Erfolge des Wohlfahrtsstaates schwächen die Motivation für einen Wandel."7 Wo aber könnten Potenziale für eine der Zukunft zugewandten Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert liegen, wo gibt es ideelle Ressourcen in einer seit 1989 fundamental veränderten Welt?

Der Zukunft abgewandt

Die Sozialdemokraten, die wie keine andere Partei an der sozialen Ausgestaltung der Bonner Republik, ob als Regierungs-oder Oppositionspartei, mitgewirkt haben, sind noch immer für die neuen Herausforderungen der Wissensgesellschaft nicht hinreichend gerüstet. Ob es das Ende der Wachstumsperiode, der Vollbeschäftigung oder der Arbeitsgesellschaft zu analysieren gilt - überall steht gerade die in ihrer Geschichte existenziell an Arbeit und die gerechte Verteilung ihrer Früchte gebundene Sozialdemokratie vor besonderen Herausforderungen. An ihr müsste es sein, den sozialverträglichen Übergang zum Weniger zu leisten. Einen ersten Versuch in diese Richtung unternahm das Berliner Programm von 1989, das sich der neuen ökologischen Herausforderung stellte. Dennoch war beim bis heute richtigen Leitbild der sozial-ökologischen Umgestaltung noch immer von der "Industriegesellschaft" die Rede, die aufkommende Dienstleistungsgesellschaft nicht im Visier. Hier schwang noch die Illusion mit, man könne die bereits untergehende produktivistische Gesellschaft mit Wachstum und Vollbeschäftigung nachhaltig auf Dauer stellen. In den 90er Jahren manifestierte sich dieser Abschied von der Zukunft in dem für ein Jahrzehnt ebenso prägenden wie hilflosen SPD-Slogan: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Weit stärker als zu früheren Zeiten hatte sich die Partei nach 1989 dieser nationalen Standortlogik ausgeliefert. Der mit immer härteren Bandagen ausgetragene Kampf nationaler Wettbewerbsstaaten um die Nachfrage nach Arbeit und die immer knapper werdenden Ressourcen vermag jedoch die dringend erforderlichen Antworten auf die zentralen Zukunftsfragen globaler Solidarität und Sicherheit nicht zu geben - und er reicht schon für die heute nötigen europäischen Integrationsleistungen bei weitem nicht aus. Mit Blick auf die EU-Osterweiterung käme es für die SPD darauf an, wieder die Vorreiterrolle in der Europäisierung der Sozialdemokratie zu übernehmen. Der Wille zur Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik und der Vereinheitlichung ihrer Standards scheint mit dem unrühmlichen Abgang Oskar Lafontaines jedoch endgültig obsolet geworden. Erst jetzt wird in vollem Umfang deutlich, was dessen Ausstieg thematisch bedeutete: nämlich den Wegfall jener visionären Bindekräfte, die den Pragmatismus nationaler Regierungsarbeit europäisch zu transzendieren in der Lage waren. Schon viel länger regelrecht verwaist ist das traditionell bedeutende Feld des Internationalismus, nämlich seit dem Tode Willy Brandts. Dabei liegen gerade hier unausgeschöpfte Möglichkeiten. Man stelle sich vor: In einer Zeit, da eine neue Generation ein zunehmendes Bedürfnis nach globaler Gerechtigkeit artikuliert, gäbe es noch eine Figur mit einer derart internationalistischen Beglaubigung wie den Exilanten, Friedensnobelpreisträger und Vorsitzenden der Nord-Süd-Kommis-sion Willy Brandt. Dessen Partei wäre der natürliche Adressat einer mit Vorbildern nicht gerade gesegneten jungen Generation. Stets war es das Vertrauen auf die Ausstrahlung seines Vorgängers, die es dem Pragmatiker der Macht Helmut Schmidt überhaupt erlaubte, jene zum Arzt zu schicken, "die Visionen haben". Denn der behandelnde Arzt war in der eigenen Partei. Tempi passati. Nichts Vergleichbares ist derzeit zu sehen. Eines steht jedoch fest: Auch wenn SPD-Geschäftsführer Olaf Scholz bereits einen "Transformationsprozess" der Partei ausgemacht haben will - mit bloßem Sachzwang lässt sich auf Dauer nicht produktiv regieren. Irgendwann wird Kanzlers Totschlagsargument Vertrauensfrage nicht mehr verfangen. Diese Legislatur ist vermutlich die letzte Chance der Partei. Spätestens im nächsten Wahlkampf wird die inhaltliche Erschöpfung des sozialdemokratischen Ethos der Partei auf die Füße fallen. Dann dürfte das ganz große Heulen und Zähneklappern anfangen. Dabei bieten sich Chancen für eine welt-zugewandte SPD. Nicht erst seit dem 11. September 2001 sind Ansätze einer neuen Politisierung der Gesellschaft unverkennbar, gerade unter Jüngeren. Die globalisierungskritische Bewegung um Attac, die sich immer mehr zum Kristallisationspunkt jugendlichen Engagements und neuerdings auch zum außerparlamentarischen Kooperationspartner der Gewerkschaften entwickelt, scheint sich auf der politischen Bühne dauerhaft zu etablieren. Hier könnte die SPD neue personelle und inhaltliche Ressourcen erschließen. Andernfalls dürfte die Partei wieder eine engagierte Generation verlieren, wie schon in den 80er Jahren, damals an die Grünen. Die heute schon existenzielle programmatische Schwäche sozialdemokratischer Nachwuchsfunktionäre beweist jedoch eins: Ein zweites Mal wird sich die Partei diesen Verlust nicht leisten können. Ansonsten droht jene spezifische Tektonik, die der Bonner Republik über 50 Jahre eine Ausgewogenheit der sozial-liberalen und konservativen Kräfte bescherte, erheblich ins Wanken zu geraten. 1 Peter Glotz, Die soziale Selbstgerechtigkeit, in: "Die Zeit", 8. 5. 2003, S. 6. 2 Susanne Miller, Die Aktualität von Godesberg. Erinnerungen an die radikalste Programmreform der SPD, in: "Neue Gesellschaft/Frankfur-ter Hefte", 5/2003, S. 9-12. 3 Vgl. den Beitrag von William Greider in diesem Heft. 4 Norman Birnbaum, Nach dem Fortschritt, Stuttgart/München 2003, S. 9. 5 "Wie das Wild sich einen Reibebaum sucht, an dem es seinen Juckreiz bekämpft, so suchen sich alle, die als Modernisierer gelten wollen, die Gewerkschaften als Betonwand aus, an der sie ihr Beinchen heben können." Norbert Blüm, Lob der Gewerkschaft, in: "Süddeutsche Zeitung", 12. 5. 2003, S. 13. 6 Franz Walter, Die SPD entlässt ihre Geschichte, in: "Die Welt", 25. 4. 2003, S. 8. 7 Norman Birnbaum, a.a.O., S. 11