Die fremdbestimmte Linke

Im Vorfeld des Wahlkampfes 1972 1 schickte sich das konservative Lager an, Sozialdemokraten und Kommunisten in einen Topf zu werfen und "Freiheit" gegen "Sozialismus" zu stellen. ...

... Die SPD hätte sich ängstlich ducken können, wie das später und bis heute häufig geschah. Willy Brandt, damals Bundeskanzler und SPD-Vorsitzender, folgte jedoch dem Rat, mit dem Diffamierungsversuch offensiv umzugehen und dazu den Begriff "Demokratischer Sozialismus" selbst zu definieren und begreifbar zu machen. Drei Monate vor der Wahl hielt Brandt anlässlich des 20. Todestages Kurt Schuhmachers eine Rede "Zum Auftrag des demokratischen Sozialismus"; gleichzeitig schaltete die SPD in Illustrierten eine Serie von großformatigen Anzeigen unter dem Titel "Erfolg von 109 Jahren Demokratischem Sozialismus".
Willy Brandt hatte 1972 keine besondere emotionale Bindung an den Begriff "Demokratischer Sozialismus". Aber er wusste, dass der Begriff, auch wenn er schon damals kaum benutzt wurde, für andere viel bedeutet, und achtete diese Bindung. Auch war ihm selbstverständlich klar, dass man sich vom politischen Gegner und von Agitatoren der konservativen Rechten nicht vorschreiben lassen darf, was man denkt und wie man die eigene Geschichte interpretiert. Er wusste vor allem, dass eine politische Kraft Selbstbewusstsein braucht und dass die Linke verloren ist, wenn sie dieses Selbstbewusstsein aufgibt. Und er wusste schließlich auch, welche Bedeutung Offensivität für den Zusammenhalt und die Mobilisierungsfähigkeit der eigenen Gruppierung hat. Das Wahlergebnis gab ihm recht. Die SPD wurde für die ausdrückliche Berufung auf die Geschichte des "Demokratischen Sozialismus" nicht abgestraft, im Gegenteil, sie erreichte mit 45,8% der Zweitstimmen das bisher beste Ergebnis ihrer Geschichte.
Wie sich die Zeiten ändern. Heute stellt der Generalsekretär der gleichen Partei den Begriff "Demokratischer Sozialismus" zur Disposition - völlig ohne Not und äußeren Angriff. Zusätzlich fördert und inspiriert er eine öffentliche Debatte über eines der zentralen Ziele der Sozialdemokratie - über Gerechtigkeit. Er regt an, dieses Ziel neu zu interpretieren, mit neuem Inhalt zu füllen, den angeblich neuen Entwicklungen anzupassen. Wenn man sich jene neuen Entwicklungen genauer anschaut, wird man jedoch eher von umdeuten sprechen müssen. Denn nicht nur im Jargon Wolfgang Clements, sondern in weiten Teilen der Parteiführung gilt als gerecht längst das, was es schon seit geraumer Zeit für die Union ist, nämlich alles, was Arbeit schafft.
Dieser Vorgang ist ein eindeutiges Zeichen für die Strategie der Anpassung an konservative Vorstellungen, die sich der bestimmende Teil der SPD-Spitze zu Eigen gemacht hat. Er ist für Privatisierung und Deregulierung, für die Reduzierung der solidarischen Sicherung zu Gunsten der privaten Vorsorge - und nun auch noch für die Abschaffung eines eingeführten Begriffes und die Umdeutung eines zentralen sozialdemokratischen Grundwertes.
Die konservativen Kräfte haben damit nicht nur die Hegemonie über die öffentliche Debatte unter den Eliten erreicht, sie prägen sogar die innere Willensbildung der großen linken Volkspartei. Bei Grünen und Gewerkschaften ist das nicht viel anders, bei den Grünen eher noch markanter als bei der SPD. Der Mechanismus des Einflusses der konservativen Ideologie lässt sich bei ihnen geradezu modellhaft studieren: Wer sich dem konservativen Mainstream anpasst, wer sich vor der herrschenden Weltanschauung verbeugt, wie das beispielsweise die Finanzexpertin Scheel, die Fraktionsvorsitzende Göring-Eckardt und der frühere Haushälter Metzger in vorbildlicher Weise tun, wird mit Publizität belohnt. Die Sich-Anpassenden werden in Talkshows geholt, ihre Worte als vernünftig und modern kommentiert. So wird in der "Mediendemokratie" der konservative common sense auf jede erdenkliche Weise gefördert.
Nun könnte man in Bezug auf Oswald Metzger anmerken, dass die Selbstreinigung der Grünen in diesem Fall funktioniert hat. Das ist in gewisser Weise richtig, aber die Absage an die Wiederaufstellung dieses Abgeordneten täuscht darüber hinweg, wie stark der inhaltliche Einfluss der auch von Metzger repräsentierten Gruppierungen und Ideologien außerhalb der Grünen auf die innere Willensbildung der Grünen in der Sozial- und Gesellschaftspolitik nach wie vor ist.
Zermürbung der Gewerkschaften
Wenig beachtet, aber ähnlich dramatisch verläuft die Entwicklung bei den Gewerkschaften. Auch bei ihnen begnügen sich ihre Gegner - die Arbeitgeber und das konservative Lager - nicht damit, in der offenen Auseinandersetzung, etwa bei Tarifverhandlungen, Sieger zu bleiben. Sie haben die öffentliche Meinung zu Themen geprägt, die die Aktionsspielräume der Gewerkschaften einengen: dass die Löhne und die Lohnnebenkosten zu hoch sind, dass wir in einem Gewerkschaftsstaat leben und die Gewerkschaften Schuld am Unglück unseres Landes sind, dass sie Besitzstandswahrer und Blockierer sind - alle diese Erfindungen sind in den letzten Jahren zur herrschenden Meinung gemacht worden. Die konservativen Kräfte und die Arbeitgeber greifen darüber hinaus in die innere Willensbildung der Gewerkschaften ein. Sie nutzen dafür ihre Vorherrschaft in den Medien sowie innergewerkschaftliche Positionskämpfe. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Kampf um die Köpfe und Herzen im Umfeld der Neuwahl des IG-Metall-Vorstandes. Wer den neu gewählten Vorsitzenden Jürgen Peters - wie ich - persönlich nicht kennt, musste den Eindruck gewinnen, dass da ein Sturkopf, ein Ignorant, insgesamt ein furchtbarer Mensch zum Vorsitzenden der größten Gewerkschaft gewählt wurde. Das geschah vor allem auf der Stimmungsebene und nahezu ohne Beleg.
Diese Agitation zur Person Peters wie auch zur angeblichen Unbeweglichkeit der so genannten Traditionalisten prägt nicht nur die Meinung in der allgemeinen Öffentlichkeit, sondern sie wirkt auch nach innen in die Organisationen. Keine der "linken" Großorganisationen
- nicht die SPD, nicht die Grünen undnicht die Gewerkschaften - ist vor dieser Form von Meinungsmache geschützt. Wer die Mehrheit der Medien in der Hand hat oder beeinflussen kann, bestimmt auch die innere Willensbildung der Organisationen.
Am intensivsten geschieht dies in "Partnerschaft" mit internen Personen von Gewicht, jedenfalls in viel größerem Maße als dies von der Öffentlichkeit - und übrigens auch von der politischen Wissenschaft - wahrgenommen wird. Die Fremdbestimmung ist nämlich umso einfacher und wirksamer, umso stärker man Kräfte im Innern nutzen kann. Ich erinnere mich noch gut an das Zusammenspiel von Außen und Innen beim Mürbemachen von Willy Brandt. Die Union und ihr rechtes Umfeld hatten sich als eines ihrer Angriffsthemen die Bedrohung Deutschlands durch den Linksruck der SPD ausgedacht, den Brandt angeblich duldete und sogar förderte. Selbst im Deutschland-Referat des State Department wurde man in den 70ern nach der bevorstehenden Machtübernahme durch die Jusos gefragt. Diese Hirngespinste erhielten ihre hohe Glaubwürdigkeit vor allem durch gleich lautende Einlassungen der innerparteilichen Gegner von Willy Brandt.
Zur Demonstration der aktuellen Vorgänge bei den Gewerkschaften reicht der Blick auf eine Debatte in der "Frankfurter Rundschau". Dort wurden in den letzten Monaten eine Reihe einschlägiger Beiträge von Gewerkschaftsfunktionären dokumentiert, deren roter Faden Selbstanklage und Defensivität ist, so beispielsweise ein Beitrag von Hans-Jürgen Arlt, dem verabschiedeten Sprecher des DGB, ein Beitrag von Klaus Lang, dem scheidenden Chefdenker der IG Metall, sowie ein Essay der Betriebsratsvorsitzenden von Opel, Miele und Daimler-Chrysler. Die Krönung der Serie war allerdings ein Beitrag von Jupp Legrand, Sozialwissenschaftler beim Vorstand der IG Metall im Bereich Gesellschaftspolitik.2 Dieser Beitrag enthält so ziemlich alle Behauptungen und Glaubenssätze, die die konservativen Meinungsführer gerne im Arbeitnehmerlager unterbringen: Deutschland habe strukturelle Schwächen, es seien deshalb "keine Wachstumsraten zu erwarten, die zu einem durchgreifenden Beschäftigungsaufbau führen"; staatliche Investitionsprogramme brächten nichts; die Gewerkschaften nähmen die tief greifenden Probleme des Sozialstaats nicht ernst und gälten deshalb als "Nein"-Sager; sie säßen in der Falle, weil sie es "versäumt haben, einen neuen Gerechtigkeitsbegriff zu entwickeln"; sie müssten neue Wege gehen und "nicht nur seit Bismarck Bekanntes variieren", sondern sich der "privaten Vorsorge" öffnen. Und dann hängt der Autor den Gewerkschaften noch all die schönen Etiketten an, die die wirtschaftsliberalen Modernisierer ihnen schon immer zu verpassen versuchen: sie seien von den "68ern" dominiert, Besitzstandswahrer und die "Lobby der Arbeitsplatzbesitzer"; "immer mehr Menschen zweifeln daran, dass die Gewerkschaften noch das Gemeinwohl vertreten"; sie müssten sich abwenden vom "allzu fürsorglichen Staat" und endlich Anschluss finden an die gegenwärtige Debatte und heraus aus dem "Elfenbeinturm der reinen politischen Lehre". Kurzum: Der Beitrag ist eine einzige defensive Selbstbezichtigung und Selbstkasteiung der Gewerkschaften - und damit in hohem Maße symptomatisch für den derzeitigen Zustand der Gewerkschaften, insbesondere der IG Metall.
Ohne Ego keine Wahlchancen
Denn auch ansonsten ist die Metallergewerkschaft in der jüngsten Vergangenheit häufig viel zu behutsam mit den Gegnern der Arbeitnehmer umgegangen. So gibt es beispielsweise seit nunmehr drei Jahren eine Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die mit horrenden Millionenbeträgen aus dem Säckel der Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird und massive Öffentlichkeitsarbeit gegen Arbeitnehmer und Gewerkschaften macht. Die IG Metall und die Gewerkschaften waren bisher unwillig und unfähig, gegen diesen durchsichtigen Verein und seine schwachen Argumente mobil zu machen. Sie haben zudem hingenommen, dass Spitzenvertreter von Rot und Grün3 das Image der Ar-beitgeber-Initiative aufpolieren.
Der Einfluss auf die innere Willensbildung der einst Linken und des Arbeitnehmerlagers durch die Konservativen und das Arbeitgeberlager ist also beachtlich und nicht mehr nur Zufall. Diese Entwicklung bräuchte uns unter gesamtgesellschaftlichen Gesichtspunkten nicht zu beunruhigen, wenn die Konzepte der Herrschenden einigermaßen vernünftig wären. Das sind sie jedoch keineswegs. Immer mehr wird deutlich, dass die wirtschaftsliberalen Rezepte nicht erfolgreich sind. In den USA gehen die Lichter aus, weil die privatisierten Systeme nicht sicher sind; Großbritannien leidet unter einer privatisierten Bahn; hierzulande bleiben unzählige Steuersenkungen für Unternehmen und hohe Einkommen und Vermögen seit Kohls Zeiten ohne den versprochenen Erfolg; die viel gepriesenen Hartz-Reformen des Arbeitsmarktes produzieren Flops, so auch die so genannte Riester-Rente; die angebotsökonomischen Rezepte zur Wirtschaftsbelebung haben nichts gebracht usw. usw. Und dennoch ertönt der Ruf nach immer neuen "Reformen" dieser Art. Die Neigung, die Dosis der Drogen immer weiter zu erhöhen statt darüber nachzudenken, ob die verschriebenen Medikamente stimmen, lässt auf einen akuten Verfall von Rationalität schließen.
Wenn die verbliebene Linke noch Selbstbewusstsein hätte, dann könnte sie es in dieser Situation sogar schaffen, die Hegemonie über das Denken zurück zu erobern. Sie tut es nicht, sie kann es offensichtlich nicht, weil Kopf und Hände gebunden sind. Diese Defensivität ist schlecht für die Politik. Und übrigens auch für die Wahlchancen.

1 Der Autor war damals verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit und den Wahlkampf der SPD.
2 Jupp Legrand, Die IG Metall muss ihre Fenster aufstoßen, in: "Frankfurter Rundschau", 25. 8. 2003, S. 7.
3 So von der SPD u.a. Clement, Gerster und Glotz, von den Grünen Scheel und Metzger.