Trauer und Gewalt. Oder Aufklärung

in (02.12.2003)

In Deutschland ist im November wieder viel getrauert worden - individuell und kollektiv: Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. ...

... Wenn bei staatlichen Trauerritualen nationales Selbstmitleid aufgerührt wird, fürchte ich Gewalttätigkeiten. Nicht nur hierzulande.
George W. Bush, als Heuchler hochtalentiert, kann bei solchen Ritualen seine Stärken herausstellen. Wenn es etwas zu betrauern gibt, zieht er daraus sogleich die Legitimation, mehr noch: die Verpflichtung, mehr noch: den göttlichen Auftrag zu strafender Gewalt. Er demonstriert Entschlossenheit loszuschlagen.
Nach dem 11. 9. 01 legte er keinen Wert darauf, ein Verbrechen aufzuklären. Bis heute nicht. Er hat den göttlichen Auftrag zum "Jahrhundertkrieg gegen den Terror" - der genügt ihm.
Wenn sich Bush leicht verneigt, um Trauer zu bekunden - was zu den häufigen Amtsgeschäften von Staatspräsidenten gehört -, und dann, sich reckend, den Blick in die Ferne richtet, kommt mir die "stolze Trauer" in den Sinn. "In stolzer Trauer" annoncierten in meiner Kindheit die Mutter, die Geschwister und ich, daß der Vater "gefallen" war. "In stolzer Trauer" - so stand es damals in vielen Tausenden Zeitungsanzeigen. An manchen Tagen waren in der Zeitung mehrere Seiten voll von solchen Kästen, einförmig wie eine Truppe nach dem Befehl "Stillgestanden", akkurat wie ein Soldatenfriedhof.
"Vater ist den Heldentod gestorben", sagte Mutter, als sie mich weckte und aus dem Gitterbett hob. Ich zog mich schnell an, lief aufgeregt ins Eßzimmer, wo meine Geschwister schon um den Tisch saßen und Suppe löffelten. Keiner sagte ein Wort. Das wunderte mich. Es war doch ein großes Ereignis: Vater war den Heldentod gestorben. Unser Vater ein Held. Wußten sie das etwa noch nicht? "Wißt Ihr schonÂ…", wollte ich die beiden älteren Brüder fragen, die mir gegenüber saßen. Ohne daß sie hochblickten, antwortete mir ein leichtes zustimmendes und zugleich abwehrendes Nicken. Ich verstand: Sie waren mehr traurig als stolz.
Wenn Menschen eines unnatürlichen Todes sterben, müssen die Ursachen aufgeklärt werden. Aber wenn sich ein Staat offiziell im Kriegszustand befindet - zum Beispiel, wie so oft, gegen "den Terror" - dann tritt diese Forderung zurück, obwohl keine Todesursache so unnatürlich ist wie das kriegerische Massenmorden. Verklärung statt Aufklärung.
Von Helden spricht man heute nicht mehr. Jetzt sind alle Kriegstoten unterschiedslos Opfer. Überall nur Opfer. Keine Täter. In stolzer Trauer reichte Kohl in einer Zeremonie, die er lange vorbereitet hatte, Mitterrand über den Gräbern auf dem Soldaten- (und Waffen-SS-) Friedhof Bitburg die Hand, um alle, die da begraben sind, als Opfer zu ehren. "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft" ist die nach Kohls Vorstellungen gestaltete Gedenkstätte Alte Wache in Berlin gewidmet. Eine Gedenkstätte, die nicht zum Denken anregt.
Auch vor dem aus Tausenden Betonstelen gestalteten Holocaust-Mahnmal - falls es eines Tages fertiggestellt wird - werden SchülerInnen aller Klassen stumm stehen und dumm bleiben.
Und wenn wir nach den Wünschen des Glotz-, Zülch- und Steinbach-Vereins überdies ein "Zentrum gegen Vertreibungen" bekommen, werden wir auch dort die Opfer zu ehren haben. Denn wer Opfer ist, hat Anspruch darauf, geehrt zu werden. Und da alle Opfer sind, werden eben alle geehrt. Und wenn alle geehrt werden, erübrigt sich die Frage, wer wen wofür geopfert hat.
Lernen könnte man in einem Museum, wie es Anfang der 90er Jahre mehr als 100 deutsche Museumsdirektoren vorgeschlagen haben: ein Museum, in dem auf die Frage geantwortet werden soll, wie es möglich war, daß in diesem Lande Millionen Menschen zu Tätern wurden - die Frage, die noch viele Generationen bedrängen wird. Was geschah im Klassenzimmer, im Hörsaal, im Theater, in der Zeitungsredaktion, im Rathaus, in der Fabrik, in der Kaserne? Was wirkte auf die Menschen ein? Wie verhielten, wie entschieden sich einzelne Menschen?
Nicht einmal das Ausstellungshaus, in dem gezeigt werden soll, wer die hauptverantwortlichen Täter des Nazi-Terrors waren, was sie planten und wie sie es in die Tat umsetzten, ist bislang im Bau, obwohl die Grundsteinlegung schon mehr als acht Jahre zurückliegt. Auf dem Gelände an der Wilhelmstraße im Berliner Regierungsviertel, wo einst das Geheime Staatspolizeiamt, die SS-Führung und das Reichssicherheitshauptamt einander dicht benachbart waren, soll die Dauerausstellung "Topographie des Terrors" entstehen, aber sie entsteht nicht, das Gelände liegt weiterhin brach. Täterschaft, die keinerlei stolze Trauer zuläßt, findet als Gegenstand der politischen Bildung wenig amtliches Interesse.
Amtspersonen erscheinen lieber zu Kranzniederlegungen. Wortlos.
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Häufig sehen wir auf dem Bildschirm die unmittelbare Trauer von Israelis und Palästinensern. Vor allem von der palästinensischen Seite wird uns gezeigt, wie Trauer zu Wut werden kann, Wut zu Haß und Rachsucht. Was vorausgegangen ist, erfahren wir selten. Nur eins ist klar: Die eigene Seite ist Opfer des Terrors, die Terroristen gehören allemal zur Gegenseite.
Israel, so war einst die Hoffnung vieler Menschen, nicht nur der Zionisten, sollte eine sichere Heimstatt für Juden werden. Daß diese Hoffnung bisher unerfüllt geblieben ist, läßt sich längst nicht mehr einseitig den Palästinensern anlasten. Ein großer Teil der Schuld liegt bei denjenigen israelischen Militärpolitikern wie General Scharon, die sich als Lösung des Konflikts nur die gewaltsame Verdrängung der Palästinenser vorstellen. Mit der Parole "Wir oder sie" ist jedoch kein Frieden zu gewinnen, nirgendwo, auch nicht in Nahost.
Am 1. Dezember wollen der frühere israelische Justizminister Yossi Beilin und das ehemalige Mitglied der palästinensischen Autonomiebehörde Yasser Abed Rabbo ihre "Genf-Initiative" vorlegen, die in zweijähriger Zusammenarbeit unter Schirmherrschaft der schweizerischen Außenministerin Micheline Calmy-Rey entstanden ist. Diese Initiative zur Lösung des Nahost-Konflikts sieht vor, daß beide Seiten einander das Recht auf eigene Staatlichkeit zugestehen und sich auf die Normen des internationalen Rechts verpflichten. Eine multinationale Streitmacht soll die beiderseitige Sicherheit garantieren. Voraussetzung ist nach Ansicht der Autoren, daß sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückzieht und die jüdischen Siedlungen in Palästinensergebieten aufgegeben werden. Die "European Jews for a Just Peace", 18 Gruppen in einer Föderation verbundene Gruppen in neun Ländern, haben die "Genf-Initiative" schon begrüßt: Sie wirke der "Wir-oder-sie"-Logik entgegen. Jetzt müsse die Europäische Union diese Initiative unterstützen.
Unter starken Druck tonangebender Politiker und Medien, die an der "Wir-oder-sie"-Logik festhalten, sind in Israel die 27 Piloten geraten, die in einem gemeinsamen Brief an den Chef der Luftwaffe, General Dan Chalutz, erklärt hatten, daß sie nicht mehr bereit sind, "Befehle auszuführen, die rechtswidrig und unmoralisch sind wie die Angriffe, die der Staat Israel in den besetzten (palästinensischen) Gebieten unternimmt", daß sie es ablehnen, "an Luftangriffen auf Wohngebiete teilzunehmen", und daß sie sich weigern, "unschuldigen Zivilisten weiterhin Schaden zuzufügen". Diese "rechtswidrigen und unmoralischen" Aktionen seien "eine unmittelbare Folge der anhaltenden Besetzung, welche die israelische Gesellschaft als Ganze korrumpiert". Die 27, darunter ein Brigadegeneral und sieben Oberste, werden jetzt als "Verräter" und "Putschisten" beschimpft. Gerade deshalb haben sich mehrere Juristen- und Menschenrechtsorganisationen mit den Autoren des Briefes solidarisch erklärt: Diese Soldaten könnten sich nicht nur auf die "Nürnberger Prinzipien" berufen, die 1945/46 von den Gerichten der Alliierten herausgearbeitet und später von der UN-Generalversammlung als Völkergewohnheitsrecht festgestellt worden sind, sondern auch auf das in den Genfer Konventionen kodifizierte Kriegsvölkerrecht. "Der Staat Israel und seine Bevölkerung können stolz darauf sein, daß hochrangige Offiziere ihrer Luftwaffe blinden Kadaver-Gehorsam ablehnen und die Mitwirkung an Kriegsverbechen verweigern. Damit stellen sie ebenso wenig wie wir das Recht Israels in Frage, sich gegen terroristische Gewalt mit angemessenen - legalen - Mitteln zur Wehr zu setzen, heißt es in der Solidaritätserklärung, die von der Internationalen Juristenvereinigung gegen Atomrüstung (IALANA) ausgeht.
Für Deutsche gibt es keinen Grund, die Friedensbewegung in Israel nicht zu unterstützen, die ihrerseits großen Wert auf unsere Unterstützung legt. Die wichtigste Hilfe ist Aufklärung, Verständigung, Brückenbau, damit in Nahost ein "Wir und sie" möglich wird. Die deutsche Regierungspolitik trägt nicht dazu bei, wenn sie jetzt den israelischen Streitkräften Unterseeboote liefert.
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Konsequenzen aus der Geschichte zu ziehen, haben wir jeden Tag Gelegenheit: Widerstand gegen Waffenexporte, Widerstand gegen die Bewaffnung der Bundeswehr mit Streubomben, Widerstand gegen eine EU-Verfassung, die den Mitgliedsländern Aufrüstung zur Pflicht macht, Widerstand gegen ein von der SPD-Bundestagsfraktion täuschend als "Parlamentsbeteiligungsgesetz" deklariertes Bundeswehr-Entsendegesetz, das die "Parlamentsarmee" Schritt um Schritt zur Regierungsarmee macht, Widerstand gegen immer neue Ermächtigungen der Behörden zur Gewalt auch im Innern, beispielsweise mit dem geplanten neuen hessischen Polizeigesetz. Widerstand wie? Zum Beispiel indem wir den Gewaltpolitkern demonstrativ unseren Respekt versagen.

aus Ossietzky 24/2003