Klassenkampf mit Weihrauch

in (10.01.2004)

Der führende Geistliche der Katholischen Kirche, Kardinal Lehmann, verkündete zum Jahreswechsel im Dom zu Mainz: "Die Welt geht nicht unter!" ...

... Auch wenn jetzt der Sozialstaat "an einigen Stellen umgebaut werden müsse, um auch künftig funktionieren zu können", sei dies nicht schon sein prinzipieller Abbau. Tut also die Regierung das Richtige, wenn sie einige Millionen Arbeitslose auf Sozialhilfe setzt und von allen Ersparnissen enteignet, wenn sie Rentner und Kranke zur Kasse bittet oder Sozialhilfe nur noch denen auszahlen will, die bereit sind, jede Drecksarbeit anzunehmen? Nicht ganz. Der Kardinal meint, man müsse "höllisch aufmerksam sein", ob dabei nicht "Umverteilungsprozesse zu Lasten von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen" stattfinden. Schade nur, daß sich der Kardinal beim Aufpassen von der Hölle inspirieren läßt und nicht vom Himmel. Sonst müßte er bemerkt haben, daß Agenda 2010, Hartz- und Rürup-Gesetze gerade diese Umverteilungsprozesse bezwecken und bewirken: Was die Regierung dem unteren Drittel nimmt, verteilt sie als Steuer- und Sozialabgabengeschenke an das obere Drittel.
Der neue Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber in Berlin, behauptet, die Kirche werde bei Einschnitten in Sozialsysteme darauf dringen, "daß die Lasten gerecht verteilt werden". Das hätten wir im vergangenen Jahr gern einmal erlebt - Fehlanzeige. Hubers Vorgänger Kock und die gesamte Leitung der EKD fühlten sich vielmehr gedrängt, den "Verantwortung tragenden Politikern" "Mut" und "Gottvertrauen" zuzurufen bei ihrem schweren Werk der Zurücknahme sozialer "Gratifikationen".
Auch Huber denkt nicht daran, für die Ausgebeuteten, Entrechteten, Enteigneten, Erniedrigten einzutreten. Er plappert auf der Kanzel nach, was Regierungsbeamte ihm aufgeschrieben haben. In seiner Neujahrspredigt im Berliner Dom klang dieses Herrn Wort so: "Wir müssen einen kleiner werdenden Kuchen fair verteilen. Wir sollen zugunsten späterer Generationen kürzer treten. Wir haben soziale Errungenschaften einzuschränken, wenn wir sie erhalten wollen. Wir müssen schärfere Gegensätze in unserem Land aushalten. Kurzum: Es wird rauher zugehen." Bei den letzten Sätzen hören und sehen wir ihn, wie er aggressive Schadenfreude nicht unterdrücken kann - ganz preußischer Hof- und Feldprediger mit Einpeitscherqualitäten: Wenn er das Kirchenvolk dazu ermahnt, "schärfere Gegensätze" auszuhalten, dann meint er noch tiefere Spaltung zwischen reich und arm. Das ist Anstiftung zum Klassenkampf von oben, Kirchensegen für die Zufügung von Elend und Not.
Und er faselt von einem kleiner werdenden Kuchen. Damit ist das Bruttosozialprodukt gemeint. Das aber ist sogar im vergangenen Jahr nicht geschrumpft, sondern nominal um 1,2 Prozent gewachsen und soll 2004 in gleichem Maße weiterwachsen wie in den zehn Jahren zuvor. Wenn aber Jahr für Jahr mehr erarbeitet wird, wie kann er dann von einem "kleiner werdenden Kuchen" reden?
Für Einzelheiten, die nicht in sein Bild passen, interessiert sich Huber nicht. Er fragt nicht, wer die Frucht- und Sahneauflage abgegessen hat, belastet sich nicht mit Nachdenken darüber, ob denn eine Volkswirtschaft für kommende Generationen "kürzer treten" kann. Sie kann es natürlich nicht, sie müßte im Gegenteil heute möglichst viel tun für Soziales, Bildung, intakte Umwelt. Das wäre ein Segen für künftige Generationen.
Aber unsere Bischöfe wissen nichts mehr vom wahren Segen. Sie glauben an den Fluch - den Fluch kapitalistischer Profitmaximierung. Opferdienst am Kapitalfetisch ist die große Staatsreligion. Dazu wedeln die "Kirchenführer" mit ihren Weihrauchfäßchen oder ihren Hofprediger-Beffchen, um sich den Bossen von Kapital und Kabinett nützlich zu machen. Auf ihre eigene Basis nehmen sie wenig Rücksicht. Aus Caritas und Diakonie wäre ein ganz anderer Chor zu hören. Das infolge der Mittelkürzungen größer werdende Elend der zu Pflegenden, Behinderten, Kranken, arbeitslosen Jugendlichen, Drogenabhängigen usw. treibt PflegerInnen und SozialarbeiterInnen zu Tausenden auf die Straße, manchmal gar PfarrerInnen. In den Medien jedoch glänzen die großen Staatskultdiener aus den Domen zu Mainz oder Berlin - Schröders ökumenischer Klerikerchor.

aus: Ossietzky 01/2004