Amerika verstehen

oder Die Amerikanische Ausnahme

Das Engagement der Clinton-Jahre für Neoliberalismus und Globalisierung machte die USA in einer Weise zum hegemonialen Akteur, die der übrigen Welt den Verständnisversuch abverlangte, was es hieß

I. Amerikaner bilden für gewöhnlich die wichtigste

Ressource, um mit Amerika klar zu kommen. Das Engagement der Clinton-Jahre für Neoliberalismus und Globalisierung machte die USA in einer Weise zum hegemonialen Akteur, die der übrigen Welt den Verständnisversuch abverlangte, was es hieß, mit einer Macht zu tun zu haben, die keinen Rivalen - oder eine Kombination von Rivalen - als Gegengewicht hatte, während sie überall auf dem Erdball Veränderungen betrieb. Gleichgültig wie oft amerikanische Politiker darauf bestehen, dass die USA eine Macht des Status quo sei, erfahren fast alle Regierungen und Völker der Welt sie als eine niederreißende, modernisierende, wo nicht revolutionäre Gewalt. Natürlich bezweifeln Intellektuelle, dass Globalisierung als Struktur und Prozess es irgendeinem Staat, sei er noch so stark, erlaubt, sie zu initiieren, zu steuern oder zu beherrschen; noch bis vor kurzem war es schick unter Intellektuellen, für die Schwächung des Staates als einem der Eckpfeiler des Neoliberalismus zu argumentieren. Zum Beispiel haben Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem US-Bestseller Empire den Ton angegeben, indem sie eine privilegierte Stellung der USA bestritten. Ihrer Auffassung nach erzeugt das Kapital in der Imperialstruktur ihm entgegengesetzte grenzüberschreitende und verstreute Migrantengrupppen, die zum ersten Mal seit Beginn der Moderne nicht in der Lage sind, die Macht einfach dadurch zu ergreifen, dass sie einen Staat erobern. Hardt und Negri sind allerdings weniger glaubwürdig, wenn sie das Interesse der neu hervortretenden Völker an der Unabhängigkeitserklärung und an anderen Gründungsdokumenten verkennen und wenn sie meinen, die Tet-Offensive im Vietnamkrieg habe den USA die Lust auf Überseeabenteuer verschlagen. Auch wenn die chinesische Regierung ihre Politik der 1990er Jahre als "gegen-hegemonial" bestimmte, hatte Präsident Clinton leichtes Spiel, die internationalen und regionalen Interessen mit denen der USA auf Linie zu bringen, weil er die Vorstellung hegte, die USA würden durch Konsens eine Gruppe von Mächten führen, die genügend Vorteile daraus zogen, dass sie US-Leitlinien fürs Weltsystem akzeptierten. Manche der US-Interessen blieben bei Clintons Bemühungen verborgen, und Teile seiner Politik und Rhetorik ermöglichten Widerstand in komplexer Form gerade wegen der Widersprüche, die sie verkörperten. Das vielleicht klarste Beispiel dieser Komplexität betrifft die Beziehungen zwischen seiner Menschenrechtsrhetorik, den diversen Liberalisierungskämpfen in der VR China und seiner universalisierenden Unterstützung für den ökonomischen und politischen Neoliberalismus. George W. Bush brach mit Clinton in fast jeder Hinsicht. Vor allem schob er die Hegemoniepolitik beiseite im Sinne der Bemühung, verhandelte Zustimmung zur globalen Führungsposition der USA zu gewinnen und enthüllte statt dessen die unvergleichliche und brutale Gewalt des amerikanischen Militärs sowie die momentane ökonomische Macht in einer doppelten Anstrengung: die Legitimität der Imperialpolitik durchzusetzen und das US-Imperium selbst auszudehnen. Der große italienische Marxist, Antonio Gramsci, hat die Unterschiede zwischen Hegemonie und Gewalt auf eine Weise erfasst, die uns zur Wahrnehmung verhilft, dass die Entscheidung der Bush-Administration, das Schwert zu ziehen, nicht aus der Art von Bedrohung gefolgt ist, die Nationalstaaten für gewöhnlich fürchten, wenn Veränderungen ihre hegemoniale Stellung verletzlich machen. Wie wir aus einer Vielzahl von Quellen wissen, kam das Bush-Regime mit dem fertigen Projekt seiner Imperialpolitik an die Macht, lange bevor die entsetzlichen Ereignisse vom 11. September einen Kontext schufen, in dem es seine Absichten umsetzen konnte. Während Clintons Hegemoniepolitik intellektuelles Interesse weckte, haben die Aktionen und die Rhetorik des Bush-Regimes die übrige Welt regelrecht gezwungen, die USA zu studieren, um mehr über den Behemoth zu erfahren, mit dem sie fast unaufhörlich zu tun haben. Die USA zu verstehen ist nicht länger nur eine Notwendigkeit, um Beziehungen und Interessen auszuhandeln, sondern die fast fatalistische Ambition, mit einer offen ausgespielten Macht umzugehen, die kaum Neigung zum Verhandeln zeigt. Angesichts des Endes des Kalten Krieges und der erst noch bevorstehenden Umgruppierung der Macht, die nach den Berechnungen des Bush-Regimes nicht weniger als dreißig bis fünfzig Jahre brauchen wird, befindet sich die Welt in einem zeitlichen und konzeptuellen Raum zwischen Ordnungen. Die regierende Rechtsaußen-Koalition Bushs beabsichtigt, die Welt während dieser Periode beispielloser US-Dominanz umzugestalten. Die gegenwärtige Machtkonstellation sieht sie als vorübergehend, doch voller Potenziale, um die langersehnte und vieldiskutierte Pax americana hervorzubringen. Schon vor den Wahlen, die Al Gore die Mehrheit der Stimmen und Bush auf die bekannte Weise die Macht bescherten, habe ich herausgearbeitet, wie eine einflussreiche Gestalt, die jetzt in Powells Außenministerium tätig ist, Charles Haass, eine Politik formulierte, die es den USA erlaubt, auf eigene Faust zu handeln oder eine Koalition der Willigen anzuführen. HaassÂ’ Vision ist hermeneutisch und absolut utopisch: Er versteht den gegenwärtigen Moment als eine vorübergehende Gelegenheit der Machtentfaltung, um den Globus für permanente US-Interessen umzugestalten und insistiert darauf, dass eine Welt dauerhaften Friedens unter einem neoliberalen US-Regime zur neuen Ordnung werden und an die Stelle der Abirrung in Gestalt der Kalten-Kriegskonkurrenz mit der UdSSR treten wird. Großbritannien und Deutschland spielen eine wichtige öffentliche und wissenschaftliche Rolle fürs Verständnis der USA im gegenwärtigen Interregnum. Viele Amerikaner begrüßen es, dass die Deutschen im Wahlkampf der Ablehnung der US-Pläne durch die Bevölkerung Ausdruck gegeben haben, und sie begrüßen die britischen Proteste beim Labourkongress. Dieselben Amerikaner bedauern die wachsende Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und britischen Staatsintellektuellen einerseits und die dauernde Kritik britischer Linksintellektueller an Amerikas Fehlern. Es ist nicht so, dass diejenigen von uns, die sich auf einen Kampf mit Amerika einlassen, keine Bündnispartner wollen. Aber wir können nicht akzeptieren, dass von britischen Intellektuellen ein Sonderrecht beansprucht wird, den USA zu erklären, wer sie sind - ein Anspruch, der sich mit angeblich größerer wissenschaftlicher Seriosität sowie der britischen historischen Erfahrung als Imperialmacht legitimiert. Die Prominenz britischer Stimmen im Verlagswesen und den Medien der USA kam zu einer unglücklichen Zeit und hat einen unglücklichen Effekt, da nun importierte Modelle des Ringens mit den USA die Bemühungen blockieren, die USA als ein Phänomen zu fassen, das es auf dem Planeten noch nie gegeben hat und das gewiss sehr verschieden von Großbritannien in seiner imperialen Epoche ist. Man muss auch im Auge behalten, dass die britischen Politikintellektuellen eine gemeinsame Wissens- und Theoriegrundlage mit den Linksintellektuellen haben, die den US-Eliten mehr Kritik als politische Anleitung bieten. In der amerikanischen Geschichte und Kultur gibt es einen Bestand an Denkweisen, die die USA ziemlich genau erfassen, gerade weil sie von der Vorstellung ausgehen, dass die Motive der Neuen Welt, die der heute unakzeptierbaren "Amerikanischen Ausnahme" ("Exceptionalism") ihr Gesicht geben, auf etwas hindeuten, das nicht Alte Welt war, und zugleich das Wesen der USA verdunkeln. Die größten Verteidiger der Amerikanischen Ausnahme waren natürlich die Gründer, jene Puritaner in Neu-England, deren theokratisches Projekt unter Cromwells unreiner und gemischter Regierung eine beachtliche Niederlage erlitten hatte. Die Hoffnung der frühen Puritaner auf eine Rückkehr nach England, um eine revolutionäre Gesellschaft zu führen, lösten sich in Luft auf, und die Aufgabe wandelte sich im Handumdrehen zu der, eine leuchtende Stadt auf dem Berg in der Neuen Welt zu errichten. Intellektuelle haben die Ursprünge der Amerikanischen Ausnahme in jenen puritanischen Anfängen gesehen; in der Begegnung der Puritaner mit einem ›jungfräulichen Land‹; in der allgemeinen amerikanischen Erfahrung einer Grenze; im politischen Anarchismus der frühen revolutionären Dokumente, die den USA einen starken Staat verweigerten usw. Auch wenn Tocqueville den Ausdruck "Amerikanische Ausnahme" prägte, existierte das damit Gemeinte, wie aus Fennimore Coopers Romanen hervorgeht, bereits vorher. Seit Tocqueville taucht der Begriff kaum je auf, ohne dass der Franzose zustimmend zitiert wird, trotz der zweideutigen Beziehung seiner Familie zu französischen Regierungsformen und Bestrebungen in Nordafrika. Die allgemeinste und wirksamste Kritik an der Vorstellung von Amerikas Einzigartigkeit, die es allen Regeln anderer Politiken enthebt, war die schlichte Feststellung, dass universelle Differenz, die nur im Vergleich erscheinen kann, keine Ausnahme zulässt. Tocqueville z.B. räumte ein, dass er bei seinen Bemerkungen zu Amerika stets Frankreich als Vergleichs- und Kontrastfolie im Kopf hatte. Da wirksame nationale Geschichten - der politischen Institutionen, Kultur (wie Literaturgeschichten), Sprache, Klasse und Kriegsführung - untrennbar verwoben sind mit der europäischen Nationalstaatsform, der sie entspringen und die sie stützen, kann vergleichende Beschreibung nur Unterschiede innerhalb eines Nationalstaatsparadigmas identifizieren. Man muss sich nur Tocquevilles Akzentuierung der amerikanischen Zivileinrichtungen vor Augen führen, um dies wahrzunehmen. Im Ergebnis erscheinen alle Nationalstaaten als unterschiedlich, doch weder einzigartig noch als Ausnahme. Selbst Vertreter der These von der Amerikanischen Ausnahme, wie der sozial- und politiktheoretisch bedeutende Seymour Martin Lipset, insistieren schließlich auf komparativer Differenz: z.B. fehlen in den USA sozialistische Bestrebungen aus historischen Gründen, die sich in einem weltweiten Bezugsrahmen leicht erklären lassen. Nichtsdestotrotz begründet der "American Exceptionalism" eine amerikanische Ideologie, die den USA das Recht zu Aktionen und Politiken zuspricht, die andere akzeptieren oder denen sie nacheifern sollten - und dies nicht nur wegen der Einzigartigkeit der USA, sondern auch auf Grund der von ihnen verwirklichten Ideale, die für höher gehalten werden als die der übrigen Welt. Die Amerikanische Ausnahme stellt immer schon ein ›Ende der Geschichte‹ dar, ein posthistoire, demzufolge der Geist in seiner höchsten Entwicklungsform sich in der Demokratie, dem Libertarismus und der Weltführerschaft der USA verkörpert hat. Zu Recht stößt eine solche regressive ideologische Position auf den Widerstand von US-Intellektuellen und anderen rund um die Welt. Gleichwohl bleiben die Argumente für die Amerikanische Ausnahme einflussreich, vor allem unter US-Staatsintellektuellen und, ironisch genug, unter vielen amerikanischen Multikulturalisten der 90er Jahre, deren eigenes politisches Programm zum Teil auf der Annahme von der Einzigartigkeit der USA basierte, auf die sie sich berufen konnten, um gerechtere Machtbeziehungen und die Verteidigung von Rechten in den USA selbst zu erreichen. Der amerikanische Exzeptionalismus hatte noch eine andere ungünstige intellektuelle und politische Auswirkung. Für diejenigen, die sich darum bemühen, die USA zu verstehen und zu kritisieren, blockiert er die Möglichkeit, innerhalb der USA nach den stärksten Beweisen für ihre Identität und die besten Denkwege zu suchen. Tatsächlich liegt die schlimmste Auswirkung des US-Exzeptionalismus nicht in seinem ideologischen Legitimationseffekt (für ein solches allgemeines Projekt gibt es andere Beispiele), sondern in dem Anti-Intellektualismus, der das kritische Denken gegenüber den USA und ihrer eigenen intellektuellen und kulturellen Produktion usurpiert. Dies führt zum weltweiten Export eines Bildes von amerikanischem Selbstverständnis, das entweder ideologische Blindheit anbietet und/oder zur Korrektur einlädt. Das Problem für uns US-Kulturintellektuelle liegt darin, dass wir von den Staatsintellektuellen von vornherein annehmen, dass sie die USA nicht richtig verstehen. Damit ignorieren wir diejenigen, deren Programme und Anweisungen wenigstens die Eigenschaften dessen offenbaren, was sie zu dirigieren glauben. Obwohl sie gelegentlich die USA besser begreifen als v.a. die akademischen Kulturintellektuellen, sind wir nicht bereit, ihnen zuzuhören und verzichten damit auf die Chance, aus ihren Erfolgen und Fehlern zu lernen. In der Regel vergessen die Kulturintellektuellen, den Staat überhaupt in ihr Denken einzubeziehen, auch wenn sie Worte wie Macht, Demokratie und Widerstand im Munde führen. Sie scheinen beleidigt zu sein, wenn man sie daran erinnert, dass der Staat sehr wohl eigene und speziell auch strategische Intellektuelle hat, und dass diese Intellektuellen keine unwissenden Narren sind, deren Arbeiten mit einem leichten ideologischen Urteil abgetan werden können. Einer der herausragenden US-Intellektuellen ist z.B. Henry Adams, Sohn und Enkel zweier Präsidenten, bekannter Historiker der USA, satirischer Romancier von Format (sein Roman Democracy bleibt eine der wichtigsten fiktionalen Darstellungen des politischen Lebens der USA) und der Autor von The Education of Henry Adams, das die Modern Library zur besten und wichtigsten Arbeit amerikanischer nichtfiktionaler Prosa kürte. Solche Empfehlungen haben Adams zum Tabu für nahezu alle amerikanischen Kultur-Akademiker und auch für einige rechte oder linke öffentliche Intellektuelle gemacht - nicht nur weil seine Standpunkte das verletzen, was man in den Kulturkämpfen der 90er Jahre dummerweise ›political correctness‹ genannt hat, sondern auch, weil sein Denken über Amerika trotz seiner Klassenposition nicht mit den sanktionierten Geschichten über Amerikas Qualitäten übereinstimmte oder die intellektuellen Normen Amerikas illustrierte. Vor allem verweigerte sich Adams der vorwegnehmenden und utopischen Struktur des amerikanischen Denkens, v.a. des Geschichtsdenkens, und machte keine Zugeständnisse an die größten und abgedroschensten Topoi in der amerikanischen Ideologie: die Idee des Subjekts (Individualismus), des Konsenses, und der Überflüssigkeit der Intelligenz angesichts der überwältigenden Macht und Energie der USA. Intellektuelle wie Adams, die das Neue Amerikas denken können, ohne vor der amerikanischen Maschinerie von Ideologemen zu kapitulieren, begründen zuweilen diesseitige Traditionen. Von Adams kommt z.B. Georges Kennan her, der Intellektuelle des Außenministeriums, der aus Protest gegen die Militarisierung seiner Containment-Politik gegenüber der UdSSR zurücktrat; und auch R.P. Blackmur, der in Princeton lehrte und für die Rockefellers auf den Gebieten Kultur und Geopolitik arbeitete (oder auch Edward Said, der in Princeton zur Zeit von Blackmur studierte); und Thomas Pynchon, der Autor von GravityÂ’s Rainbow und der wichtigste literaturästhetische Intellektuelle und Romanautor nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber es bilden sich zwischen solchen Figuren auch Konstellationen ohne die Genetik der Tradition. Herman Melville, der Autor von Moby Dick, scheint der Aufmerksamkeit von Adams entgangen zu sein, aber für den zeitgenössischen Leser bedeutet ihr kombiniertes Interesse an der Konstitution der USA zu einer einzigartigen globalen Macht mehr als nur eine Familienähnlichkeit. Solche exotischen und exzentrischen Figuren aneinander zu reihen, gehört zum bekannten Muster einer intellektuellen Romanze - v.a. in der US-Gesellschaft, wo die Beispiele eines ernsthaften Gegensatzes zu den Normen des Nationalcharakters dünn gesät sind. Aber wichtiger ist, wie leicht sich das Denken solcher Figuren in eine Linie bringen lässt mit dem von Staatsintellektuellen wie z.B. Alfred Thayer Mahan, dessen Bildung und Erfindungsgabe auf einem nahezu einzigartig umfassenden und administrativen Begreifen der nationalen Identität der USA beruht. Mahan tat nichts weniger, als sich vorzustellen, wie die USA als ein imperialer Staat existieren, und wie dieser Staat von dem massiven ökonomischen Output einer kontinentalen Ökonomie zehrt, um das weltweit erste Imperium zu etablieren, gegründet auf Strömen, Bewegungen, Überwachung, globaler Reichweite und v.a. den Vorteilen der USA aufgrund ihrer Geschichte und Geographie, die ihr ermöglichen, die europäischen Modalitäten des Imperiums abzulösen. Sich auf Amerika einzulassen, heißt die Konstellationen solcher Figuren und ihrer politischen Arbeiten zusammenzustellen, trotz ihrer Stellung innerhalb der anerkannten Ordnung intellektueller, disziplinärer oder politischer Erwartungen. Mahan taucht z.B. nur in einer Geschichtsschreibung auf, die die Transformation der USA in eine imperiale Seemacht im späten 19. Jahrhundert behandelt. Seine Schriften über die Seemacht und seine öffentlichen Stellungnahmen für eine Ausweitung der Hochseeflotte verführt Wissenschaftler zu abgeklärten Urteilen, die ihn einordnen, ohne mit ihm zu denken. Andererseits bleibt Mahans Analyse von Seemacht, Imperium und Logistik ein grundlegendes Studienobjekt in Militärakademien. Henry Adams betonte einmal, dass er den ›Erfolg‹ untersuchte, weil dieser ihm einen Zugang zu den ökonomischen und politischen Funktionsweisen der USA verschaffte, sogar dann, wenn die Erfolgreichen selbst die Mittel ihres eigenen Erfolgs nicht adäquat verstehen können. Er hielt daran fest, dass Amerika die modernen Konzepte des Menschlichen und seiner grundlegenden anthropologischen Wissenssysteme und Disziplinen einzigartig infrage stellte. Vereinfacht gesagt war Amerika nie in der Lage, die intellektuellen Kapazitäten hervorzubringen, die seine massive Kraft und Macht lenken konnten, ganz so, als handelte es ohne Führung oder adäquates Selbstverständnis. Das Menschliche war sozusagen zu langsam für die zu lösende Aufgabe. Tatsächlich macht gerade dies Amerika zum perfekten Gegenstand eines Verstehens, das nachträglich und in der Hoffnung erfolgt, auf diesem Weg seine nächste Bewegung vorhersehen zu können. Diese Struktur verurteilt Andere zu der endlosen Aufgabe, ein Amerika zu verstehen, das sich normalerweise nicht selbst artikulieren kann - trotz der ungeheuren Summen, die in Universitäten und anderswo für amerikanische Studienprogramme ausgegeben werden. Adams glaubte, dass das Surplus der US-Macht dieser immer einen Vorsprung vor den eigenen Intellektuellen sicherte, die er gelegentlich mit dem letzten Wagen eines Personenzugs verglich, der versucht, an die Spitze zu gelangen oder mit dem Körper einer Schlange, den ein toter Kopf hinter sich herzieht. Auch gegenwärtige politische Intellektuelle wie z.B. Charles Haass glauben, dass die USA sich aufgrund ihres Macht-Surplus durchsetzen können und sich dabei voller Freude über die Verspätung ihrer Intellektuellen über das Wesen und die Richtung dieses Machtkomplexes keine Sorgen zu machen brauchen, weil sie auf seine künftige Fähigkeit vertrauen können, auch bei unvorhergesehenen Irrtümern und Konsequenzen Lösungen durchzusetzen.

II. Der Versuch, Amerika zu verstehen, ist ein struktureller Effekt dieses Amerikas selbst.

Dass die amerikanische Elite offensichtlich kaum Enthusiasmus zeigt, Amerika zu verstehen, ist vielleicht etwas, von dem wir etwas lernen können. Natürlich sammelt der Staat eine Unmenge von Daten über die Gesellschaft, die Bevölkerung usw. Als Kultur-Humanisten könnten wir dies im Licht bedeutsamer Theoretiker diskutieren. Foucault und Agamben sind perfekte Werkzeuge, um über all dies zu sprechen. Aber eigenartiger Weise kümmern sich Staatsintellektuelle überhaupt nicht um solche Analysen und sind auch nicht daran interessiert, sie durch ihre eigenen Analysen zu ersetzen. Die Bedeutung der American Studies lag aufgrund ihrer Herkunft aus dem Kalten Krieg normalerweise darin, die passenden Ideologeme für den häuslichen Bedarf und den Export herzustellen. Nur selten, wenn überhaupt, funktionierten sie als ein Forschungsprogramm, dessen Erkenntnisse vom Staat gebraucht und konsumiert wurden. Das ist einer der Gründe, warum die Kulturintellektuellen der American Studies so leicht sprechen können, ohne den Staat in ihre Überlegungen einzubeziehen. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen. Zu einem bestimmmten Zeitpunkt machten z.B. die Funktionalisten Furore, als sie über den Wohlfahrtsstaat schrieben, und dann wieder, als sie Reagan halfen, ihn zu demontieren. Aber niemals hatten die großen humanistischen Schriften über Mark Twain oder Herman Melville Auswirkungen auf die Politik, auch wenn sie bestimmte Redeweisen beeinflussten. Und ebenso wenig trugen sie zum Wissen über Amerika bei, obwohl sie politisch eine Rolle bei der Umgestaltung innenpolitischer Institutionen spielten. Im amerikanischen Alltagsverstand ist der Akt des Verstehens immer ein verspäteter. Der Gegenstand oder die Handlung, um deren Verständnis es geht, sind immer schon da und haben daher Vorrang. Das Verstehen auf der Grundlage einer Dekodierung der Vergangenheit (wie neu auch immer) kann im besten Fall Rückschlüsse auf Strukturen, Tendenzen und somit auch auf künftige Handlungen, Handlungsgrundlagen und Urteile erlauben. Ich bin sicher, dass die Verstehensanforderungen der USA an die Welt sich verändert und beschleunigt haben, und wir wissen, dass die alten Paradigmen nicht mehr funktionieren. Wir fragen zum einen, welches Verständnis wir nun haben sollen und welche neuen Institutionen, Methoden und Konzepte wir für ein solches Verständnis in einem neuartig gewalttätigen, globalen Kontext benötigen. Wer wie wir in und mit Worten arbeitet, hat bereits eine lange Erfahrung, angesichts der Veränderungen und der sie beschleunigenden Medien, zu spät zu kommen. Eine Konsequenz der amerikanischen Surplus-Macht besteht darin, dass sie diese Verspätung, die die Form einer Verstehens-Anstrengung annimmt, zum Prinzip ihres Verhältnisses zu Anderen macht. Wenn unsere Denkanstrengungen erfolgreich sein sollen, müssen sie einen sehr verschiedenen, nicht alltagssprachlichen Begriff von Verstehen zugrunde legen, oder - wahrscheinlicher sogar - den Verstehensbegriff überhaupt aufgeben und durch andere intellektuelle und politische Möglichkeiten ersetzen. Philosophisch betrachtet (v.a. in der Entwicklung von Kant zu Heidegger), beinhaltet Verstehen (dt. im Original) eine weitaus aktivere Bedeutung. Verstehen impliziert die Möglichkeiten einer Vor-Struktur, die eine Interpretation des In-der-Welt-Seins zu leisten versucht. Heidegger besteht darauf, dass dies gerade zur Vor-Struktur des Daseins selbst gehört. Aber statt uns jetzt auf eine akademische Behandlung eines so komplizierten Werkes wie Sein und Zeit einzulassen, können wir uns mit der Feststellung begnügen, dass die USA für die Anderen ein Verstehen im schwachen Sinne des anglo-amerikanischen Alltagsverstandes erzeugt. Natürlich möchte ich darauf hinaus, dass das Verstehen Amerikas eine erniedrigende Aufgabe ist.2 Das Oxford English Dictionary macht dies klar, wenn es uns erklärt, dass jemanden verstehen bedeutet, zu lernen, wie man richtig mit ihm umgeht, und v.a., dass man seine "eigene Stellung kennt und wie man sich selbst richtig verhält". Nur die Macht ermöglicht ein Verstehen, das die von seinen interpretativen Ambitionen gelieferte Vision auch praktisch durchsetzen kann. Als Formel können wir sagen, dass die USA und die Gewalt des vor-strukturierenden Wissens identisch sind. Statt Institutionen zu schaffen, um Amerika zu verstehen, müssen Amerikaner und Andere verschiedene Strategien erinnern, lernen und erfinden, um mit den USA in Beziehung zu treten. Hier liegt das grundlegende Problem für die Intelligenz und für den Staat: worin bestehen sie und wie kann man sie institutionalisieren? Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Aufgabe lenken, das amerikanische Archiv zu studieren, in dem der Geist Spuren einer Arbeit hinterlassen hat, die die Grenzen des Verstehens überschreitet. Wie kann man ein solches Archiv (und entsprechende nicht-amerikanische Depots) nutzen? Um zu verhindern, dass diese Fragen uns wieder auf die Ebene des Verstehens und der Interpretation zurückführen, müssen wir nach alternativen Modellen suchen und neue Wege des Denkens und des Aufbaus von Institutionen erfinden. Humanisten haben den Aufbau von Institutionen immer als ein Synonym für Poesie angesehen. Giambattista Vico, der große anti-cartesianische Denker aus Neapel, hat dies eindrucksvoll entwickelt, und die romantischen und post-romantischen Dichter von Shelley zu Wallace Stevens haben dies immer wieder betont. Auch die besten Kritiker haben aus dieser Tradition geschöpft, indem sie darauf bestanden, dass die ästhetische Erfahrung nicht nur die Realität, sondern auch die in Institutionen verkörperten Formen grundlegend modelliert - und zwar lange, bevor deren weniger poetische Gründer sie überhaupt bemerken. Ästhetische Objekte scheinen uns den freien Spielraum zu geben, den wir brauchen, um Alternativen zu erfinden und auf eine andere Weise Lebewesen zu sein als die degradierten Subjekte, deren Existenz uns Amerika auferlegt. Freilich ist diese Idee eine tödliche Verführung, wie man an jeder Wahl, an jedem Versuch, eine demokratische Öffentlichkeit herzustellen, sehen kann. Mehr noch, es unterstellt eine eigentümlich wurzellose Ausprägung des Menschen: ein Wesen mit allen Freiheiten ausgestattet, um zu spielen, aber ohne die Fähigkeit, die Spielregeln selbst zu ändern. Ein solches freies Subjekt bleibt auf trügerische Weise im Zustand der Verworfenheit befangen. Der große kanadische Experte für amerikanische Literatur und Kultur, Sacvan Bercovitch, veröffentlichte sein einflussreichstes Buch The American Jeremiad im Jahre 1978 - zu einer Zeit also, als die amerikanische Wirtschaft in einer Stagflation steckte, und die durch den Vietnam-Krieg geschwächte Militarmacht bei der von Jimmy Carter angeordneten Aktion zur Geiselbefreiung in der iranischen Wüste zusammenbrach. Bercovitch fing die beklagenswerte Vergeblichkeit der Periode ein, aber er transformierte sie in eine neue Version amerikanischer Stärke. Er erklärte, wie die amerikanische kulturelle Ökonomie jeder ernsten Kritik Amerikas den Wind aus den Segeln nimmt, indem sie die Kritiker daran hindert, ernsthafte Alternativen zum US-System anzubieten. Er wies überzeugend darauf hin, dass kein Amerikaner ein Kritiker Amerikas sein kann, weil dies nur möglich ist, indem man innerhalb der herrschenden ideologischen Geschichte und Rhetorik operiert und sie wiederholt. Die USA sind dazu verurteilt, sie selbst zu sein und von anderen zu verlangen, Alternativen auszudenken. Sie sind ausgestattet mit frustrierten intellektuellen Möchtegern-Opponenten, deren mitleiderregender Status als Amerikaner sie darauf festlegt, sich an der Arbeit der Nation zu beteiligen. Amerika hat Macht, Amerikaner sind verworfen und würdelos. Amerika zu verstehen und Alternativen zu ihm zu entwerfen, ist nur für andere möglich. Solche Argumente, da einflussreich und durch Reagans Wahlsieg bekräftigt, wurden v.a. von akademischen Kulturintellektuellen mit rührseliger Befriedigung aufgenommen. Sie schwelgten in dem double bind, mit dem sie konfrontiert waren, und feierten kleine Sprechakte als Formen politischen Widerstands. Kritische amerikanische Humanisten zelebrieren die erniedrigende Machtlosigkeit als die einzige Alternative zum amerikanischen Nationalcharakter. Sie wurde zu einer Variante "negativer Dialektik". Das ästhetische Projekt beschränkt sich darauf, Einschränkungen aufzulösen, also auf das, was andere als politische Subversion im Bereich der Kultur bezeichnen. Die multikulturalistische Universitätskultur der USA, die auf das Ende der theoretischen Spekulation folgte, als mit der Wahl Reagans der fremde (sprich französische) Einfluss eliminiert wurde, institutionalisierte diese Verworfenheit und unternahm nichts Wirkliches. In der Periode von Reagan zu George W. Bush intensivierte das amerikanische Wesen seine eigene Offenbarung und Macht. In den Bereichen, die man traditionell kulturell nennt, besteht das institutionelle Ziel normalerweise in einer Erziehung in und durch Nachahmung. Wir lernen dies von Aristoteles und reduzieren Poiesis auf Mimesis. Das amerikanische Archiv enthält großartige Ressourcen, um Amerika denken zu können, ohne dabei zu würdelosen Interpreten zu werden. Aber diese Ressourcen zu ›verstehen‹ oder zu ›imitieren‹ kompromittiert sie nicht nur: es tötet die Interpreten, reduziert sie auf Materialien einer Verworfenheit, die den Menschen im Rahmen einer sekundären Beziehung zur überwältigenden Macht definiert. Blackmur verwendete für Adams und Andere den Ausdruck "beunruhigte Standhaftigkeit" (distraught endurance), eine Qualität, die Edward Said als menschlichen Willen fasst, die ich aber lieber verstehen würde als eine unmenschliche Fähigkeit, ohne Stillstand und Dogma gegenüber einer ebenso unmenschlichen intelligenten nationalen Macht aktiv intelligent zu sein. Ausgehend von Melville, Mahan, Adams, Blackmur und anderen können wir komplexe interpretative Netzwerke eines Sekundär-Verstehens der USA konstruieren. Interessanterweise machen Adams und Mahan deutlich, dass Amerika eine bestimmte systemische Intelligenz in Bezug auf sich selbst hat, und dies unabhängig davon, wie unintelligent seine Intellektuellen oder Staatsmänner sein mögen bzw. zu sein scheinen. Diese Intelligenz setzt Adams oft mit Energie gleich, und manchmal verweifelt er daran, dass die Intellektuellen nicht die Energie haben, die die Intelligenz mit sich bringt. Aber meistens versteht er, dass der Intellekt selbst nicht menschlich sein muss, sondern sich nur manchmal in menschlichen Wesen manifestiert, und dass er zu Aktionen führt, die uns vieles über Intelligenz verraten und noch mehr über ihr Verhältnis zur Energie. Sogar die strategischen Intellektuellen suchen nur selten nach der Intelligenz, die innerhalb der Surplus-Macht, die sie zu bedienen meinen, wirksam ist. Dagegen theorisiert Mahan das US-Imperium als einen neuen Macht-Typ, der aus neuen Formen und Mechanismen der Abziehung ökonomischer Macht und ihrer staatlichen Anwendungen hervorgeht. Mahan denkt die USA als eine Energie in Bewegung. Suchten wir nach einem gegenwärtigen Intellektuellen, dessen Begriffe an die Mahans heranreichen, würden wir an Deleuze denken, dessen Theorien von der Lektüre amerikanischer Literatur stark beeinflusst sind. Mahan stellte seine Seemachtanalysen nicht als Untersuchungen einer Vergangenheit dar, aus der nun Lektionen abzuleiten und anzuwenden wären. Stattdessen nahm er die Aufgabe auf sich, das Archiv der Seekriegsführung neu zu schreiben, beginnend mit den Karthagischen Kriegen und endend mit den britischen Siegen über Napoleon. Er tat dies auf eine Weise, die ihm erlaubte, universelle Aspekte der maritimen Intelligenz (einschließlich des Verhältnisses zwischen Land und Meer, Gesellschaft und Territorium, Staat und Ökonomie) als Handlungsanweisungen zu formulieren. Und zur Verlegenheit vieler seiner Kommentatoren bestand er darauf, dass die Technologie dabei eine sehr geringe Rolle spielte. Seine Schriften führten die USA auf bestimmte Linien der Organisation und schufen erste Formen einer nationalen Intelligenz. Diese Einsichten sind ein Jahrhundert alt, und sie lassen uns das Denken des gegenwärtigen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld hinsichtlich der weltraumgestützten Waffen ziemlich vertraut erscheinen. Tatsächlich erscheint Rumsfeld als eine glänzende Anwendung Amerikas selbst, als eine der Figuren, in denen sich die amerikanische Intelligenz partiell verkörpert. Mahan hatte Sinn für eine amerikanische Intelligenz als einer Vor-Struktur, die sich selbst ins Werk setzt, und in seinem eigenen Denken hatte er an dieser unmenschlichen Intelligenz teil, diente ihr und schuf Nachfolger, die dasselbe taten. Was Mahan in der Seemacht sah, nämlich ein Sich-Positionieren, Zirkulieren, Sich-Bewegen und Strömen, sieht Rumsfeld in der Weltraum-Macht. Die Technologien haben sich verändert, aber die universellen Prinzipien bleiben, und die Staatsdiener unterstützen sie lärmend. Amerika lebt als ein Terrain des Kampfes, auf dem Vektoren von Energie und Intelligenz konkurrieren. Es ist abwegig, solche offensichtlichen Kritiker wie Herman Melville mit erklärten Staatsintellektuellen wie Mahan in Verbindung zu bringen, aber das Verstehen erfordert solche Abwege, und zwar selbst dann, wenn ein solches Verstehen uns als Verworfene zurücklässt. Da weder Melville noch Mahan uns den Eindruck der Verworfenheit vermitteln, müssen wir versuchen, die Intelligenz in ihnen und die Probleme, auf die wir bei ihnen stoßen, so zu denken, dass sie unseren eigenen Zielen dienen. Mahan interpretierte keine Vergangenheit; er schrieb sie, um gegenwärtige Probleme anzugehen und um sein Denken so zu perfektionieren, dass es sich an die Richtungen der amerikanischen Energie anpasste - Richtungen, die sich schon 50 Jahre zuvor in Melvilles großen Romanen abzeichneten. Es ist unmöglich, einen solchen Vortrag mit einer Empfehlung zum Handeln oder zum Aufbau einer Institution abzuschließen, obwohl dies bitter nötig wäre. Amerika ist wie ein Schicksal; wir müssen es aushalten, egal, wie sehr es uns ängstigt. Aber wir müssen uns dadurch nicht davon abbringen lassen, uns beim Denken und Schreiben nach unseren eigenen und davon verschiedenen Zielen zu richten. Wenn Verstehen nur eine Wirkung amerikanischer Macht ist, müssen wir einen anderen Kurs einschlagen - entsprechend den zu lösenden Problemen und v.a. den Gedanken, die wir brauchen, um lebendig denken zu können in einer Zeit, in der die überwältigende Macht die Verworfenheit für Amerikaner wie für Nicht-Amerikaner gleichermaßen universalisiert. Denken heute heißt Amerika denken, egal was wir zu denken meinen, und es verlangt nach seinen Akteuren und Denkern, egal, wo sie sich finden. Walt Whitman sprach 1855 von Amerikanern, wo immer man sie findet. Mit dieser einfallsreichen Geste universalisierte er die Anforderungen, die Amerikas Neuartigkeit stellte, indem sie neue Seinsweisen hervorbrachte, und formulierte die neue, von den USA weltweit gestellte Aufgabe, ein Amerikaner zu sein, indem man sich unweigerlich mit Amerika auseinandersetzen muss. Diese Zumutung des amerikanischen Dichter-Propheten ist auch heute noch gültig. Sogar die erklärten Feinde Amerikas müssen Amerika denken, und somit sind sie Amerikaner, wo immer sie sich aufhalten. Amerika ist nun der Name für den Gegenstand dieses Denkens, und Amerikaner sind diejenigen, die es in Angriff nehmen. Wir müssen gut aufpassen, dass wir die Grenzen nicht akzeptieren, die es unserem Geist, unserem Verstand, unseren Vorstellungen und Wünschen auferlegt. Obwohl es unausweichlich und beherrschend ist, müssen wir nicht so verworfen und handlungsunfähig sein, wie Bercovitch uns gerne hätte. Wir brauchen keine Hoffnung, die uns an einen alternativen Raum, eine Zukunft, ein Entrinnen glauben lässt, denn indem wir uns selber und nach unseren eigenen Bedürfnissen denken, halten wir unsere beunruhigte Standhaftigkeit aufrecht und verweigern uns der Verworfenheit. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Fritz Haug und Jan Rehmann 1 Vortrag vom 7. Oktober 2002 bei der Konferenz zur "Inauguration of the American Studies Network of the Université de Montréal". Dank für kritische Kommentare an Carol Bové, Joseph Buttigieg, Terry Cochran, Ronald Judy, Karl Kroeber, Daniel OÂ’Hara und Donald Pease 2 [Die im amerikanischen Text mehrmals verwendeten Termini ›abject‹ und ›abjection‹ bedeuten im Lateinischen (abicere/abjectus von jacere) das Weggeworfen-Sein und könnten insofern als Zustand der Verworfenheit oder Verächtlichkeit übersetzt werden. Angewandt auf die Verstehens-Problematik zwischen Intellektuellen und Surplus-Macht verweisen sie insbesondere auf eine zu-spät-kommende Machtlosigkeit, die die Spielregeln der Herrschenden aufzwingt. Hinzu kommen freilich die damit korrespondierenden subalternen Haltungen der Würdelosigkeit, der Erniedrigung bis hin zum Kriecherischen. Wir übersetzen meistens mit Verworfenheit oder Erniedrigung, weil dies sowohl den objektiven wie den subjektiven Aspekt beinhaltet; Anm. d. Ü.] Aus: Das Argument 252