"Lehrgeld" - Investition in das eigene Arbeitsvermögen

Zu Beginn des Ausbildungsjahres 2003/2004 ist die Situation auf dem Berufsausbildungsstellenmarkt so katastrophal, dass selbst die regierende Sozialdemokratie das Problem nicht übergehen konnte. ...

..."Wir müssen leider feststellen, dass sich die Lage auf dem Lehrstellenmarkt - trotz großer Anstrengung in den letzten Wochen - im Vergleich zum Vorjahr deutlich verschlechtert hat: Alles in allem standen damit im Oktober diesen Jahres 37.800 Bewerber ohne Ausbildungsplatz 13.800 offenen Lehrstellen gegenüber. Damit erhöht sich das rechnerische Lehrstellendefizit binnen Monatsfrist auf 24.000. Das Problem ist aber noch größer: Experten schätzen die Zahl der in den vergangenen Jahren nicht vermittelten Jugendlichen auf 120.000 bis 150.000, die auch heute immer noch an einer beruflichen Ausbildung interessiert sind." (SPD-Bundestagsfraktion vom 11.11.03) Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) gesteht noch Schlimmeres ein: "Fakt ist doch, dass ein Drittel aller Jugendlichen, die eigentlich eine berufliche Ausbildung haben wollen, keine bekommen und stattdessen in berufsvorbereitende Maßnahmen gehen oder in der Schule bleiben." (Frankfurter Rundschau vom 11.11.2003) Die diesjährige Berufsberatungsstatistik der Bundesanstalt für Arbeit zeigt, wie besorgniserregend die Lage auf dem Lehrstellenmarkt tatsächlich ist. In diesem Berufsberatungsjahr (Oktober 2002 bis September 2003) wurden 740.547 Jugendliche bundesweit gezählt, die sich bei den Arbeitsämtern um eine Lehrstelle beworben hatten. Ihnen standen nur 546.660 Lehrstellen gegenüber, die Betriebe Arbeitsämtern mitgeteilt hatten. Das ergibt ein Defizit von 193.887 Lehrstellen. Geht man dem Verbleib der Lehrstellenbewerber nach, dann sind 349.865 Besitzer einer Lehrstelle geworden. Damit waren weniger als die Hälfte erfolgreich, nämlich nur 48,6%. So sind 157.240 (21,9%) in Warteschleifen (wie Berufsfachschulen, allgemeinbildende Schulen, berufsvorbereitende Maßnahmen und sonstige berufsbildende Schulen) abgedrängt worden. Erschreckend ist, dass 73.079 (14,5%) direkt arbeiten, also auf eine Berufsbildung verzichten wollen. Merkwürdig ist die große Zahl von 38.834 (5,5 %) "unbekannt Verbliebenen" und der "sonstige Verbleib" von 32.867 (4,6 %). Die katastrophale Situation auf dem Lehrstellenmarkt hat die Frage nach einer Ausbildungsplatzumlage erneut wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Lange genug hatte man das Ausbildungsproblem zu kaschieren versucht. So forderten SPD-Fraktion, Bundesparteitag der SPD und die Grünen für unterlassene Ausbildung finanzielle Kompensation von entsprechenden Unternehmen. Kaum hatten die miserablen Lehrstellenzahlen ihre Runde durch die Medien gemacht, erstarb auch schon die eben erst wieder erhobene Forderung nach einer Ausbildungsplatzumlage. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) lassen keinen Zweifel daran, dass mit ihnen derartige Beschlüsse nicht zu machen sind. Sie sind entschlossen, die Wirtschaft zu mehr Selbstverpflichtung zu bringen. Seit 30 Jahren haben nun schon die verschiedenen Bundesregierungen versucht, die Wirtschaft zu einer höheren Ausbildungsleistung zu überreden. Auch Schröder und Clement sind bei dieser Strategie des Überredens und der wirtschaftsfreundlichen Politik geblieben. Gebracht hat es nichts! Im Gegenteil: Es erhalten immer weniger Jugendliche eine Ausbildungschance. Neben den Neubewerbern sind Jahr für Jahr immer mehr Jugendliche aus den Warteschleifen unterzubringen. Und für immer mehr Jugendliche geht die Chance einer Ausbildung gänzlich verloren. Das hochgelobte "duale System" der Berufsausbildung in der Bundesrepublik befindet sich in einer chronischen Krise. 1969 kam als Reaktion auf die Lehrlingsbewegung und die häufig schlechte Qualität der Ausbildung das Berufbildungsgesetz (BBiG) zustande. Schon damals hatten Wissenschaftler, Gewerkschafter, aber auch der Deutsche Bildungsrat eine Ausbildungsumlage gefordert, weil sie wegen der moderaten Anhebung der Qualitätsanforderungen an die Ausbildung (durch modernisierte Ausbildungsordnungen, verlängerten Berufsschulunterricht, die Ausbilder-Eignungs-Verordnung usw.) eine "drastische Verringerung der Lehrstellen" befürchteten (zit. in: Lutz/Winterhager 1970, 58). Dies wurde von den Unternehmerverbänden abgelehnt. So schrieb der DIHT: "Die Steigerung der Qualität der Lehrlingsausbildung ist unseres Erachtens nicht in erster Linie eine Kostenfrage, sondern in erster Linie (eine Frage) moderner und anspruchsvoller Berufsordnungsmittel Â… und ferner die Frage einer stellenweise noch wirkungsvolleren Überwachung der Ausbildungsbetriebe." (ebd., 92) Der BDI verlautbarte: "Insgesamt rechnen wir deshalb aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen auch bei verschärften Maßstäben für die Ausschaltung ungeeigneter Ausbildungsbetriebe und höherer Anforderungen an die Ausbildungsbetriebe in Folge der Modernisierung der Berufsordnung nicht mit einer wesentlichen Reduzierung der Ausbildungsbereitschaft der Industrie, auf alle Fälle nicht mit einer Umkehrung des jetzigen Verhältnisses von Lehrstellenangebot und -bewerbern." (Lutz/Winterhager 1970, 96, 108) Die Politik vertraute den Versprechungen der Unternehmer. Die Folge war ein zu Beginn der 1970er Jahre drastischer Rückgang des Ausbildungsplatzangebots. Die damalige sozialliberale Bundesregierung reagierte mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz (APlFG), einer abgeschwächten Version der von der regierungsseitig eingesetzten Edding-Kommission unterbreiteten Vorschläge. Das Ausbildungsplatzförderungsgesetz sah eine Ausbildungsabgabe für ausbildungssäumige Betriebe vor. Dieses Gesetz drohte mit einer Abgabe, sobald das Gesamtangebot an Ausbildungsplätzen hinter der Nachfrage um mehr als 12,5% zurückbleiben würde. Tatsächlich ist das Ausbildungsplatzförderungsgesetz nie angewandt worden. Dabei hatte allein seine Drohung schon zu einer Zunahme des Ausbildungsplatzangebots geführt. Allein die bayrische Landesregierung und CDU/CSU brachten das Ausbildungsplatzförderungsgesetz mit dem Bundesverfassungsgericht zu Fall, worauf das Lehrstellenangebot noch zu Beginn der 80er Jahre prompt wieder zurückging. Nur durch staatliche Lehrstellenprämien für Betriebe und außerbetriebliche Ausbildungsstätten ließ sich eine vorübergehend erträgliche Situation herbeiführen. Seit Beginn der 90er Jahre ist das Lehrstellenangebot in Ostdeutschland, wo auf 100 Lehrstellenbewerber zuletzt nur noch 53 Lehrstellen kamen, nur dank einer quasi Verstaatlichung der Berufsbildung stabilisiert worden. So wurden 40% der Lehrstellen in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten angeboten. Hinzu kamen umfangreiche Lehrstellenprämien an Betriebe. In Westdeutschland ist das Lehrstellenangebot - mit Ausnahme einer kurzfristigen Erholung um 2000 - drastisch gefallen. Daran konnte auch die Beseitigung sogenannter "ausbildungshemmender" Vorschriften (Lockerung des Jugendarbeitschutzes, Beschneidung des Berufsschulunterrichts oder die Abschaffung der Ausbilder-Eignungs-Verordnung) nichts ändern. Schon wird der entscheidende Schritt gefordert: Lehrstellenbewerber bezahlen Unternehmen für ihre Ausbildung. Sie investieren in ihr Arbeitsvermögen. Der künftige Lohn wird entscheiden, ob sich dieses "Lehrgeld" als rentabel erweisen wird. "Nur ein echter Markt für Berufsbildung kann Jugendliche angemessen qualifizieren und Unternehmen zu verstärkten Anstrengungen motivieren", erklärt das Handelsblatt. "Deutschland braucht mehr als nur Veränderungen innerhalb des dualen Systems. Nötig ist ein ›Sozialvertrag zur Berufsbildung‹. Dazu gehört, dass jeder die Berufsbildung zahlt, die er auch nachfragt... Anstatt Ausbildungsvergütung zu zahlen, muss wieder Lehrgeld erhoben werden. Nicht ein Sozialanspruch auf eine Berufsausbildung darf in unserem Land weiter mühselig kultiviert werden..." (Handelsblatt vom 28.8.2003)

Literatur

Bundesanstalt für Arbeit (Hrsg.), Berufsberatungsstatistik September 2003, URL: http://www1.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/detail/h.html Ehrenthal, B./Ulrich, J.G. (2003): Zur Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, Sonderheft 2003 Lutz, B./Winterhager W.D. (1970), Zur Situation der Lehrlingsausbildung, in: Deutscher Bildungsrat (Hrsg.), Gutachten und Studien der Bildungskommission 11, Stuttgart 1970 Kay Beiderwieden ist Sozialwissenschaftler in Hamburg. aus: Sozialismus Heft Nr. 1 (Januar 2004), 31. Jahrgang, Heft Nr. 273