Nichts vergeben, nichts vergessen

Über eine Expertise des Wittenberger Institutes für Hochschulforschung zur Ost-Berliner Wissenschaft im vereinigten Berlin und über das Unrecht der sozialen Liquidierung der DDR-Wissenschafts-Elite

Berlins Wissenschaftssenator Thomas Flierl bewies Mut, endlich. In seinem Auftrag erstellte zwischen Studentenstreiks und Studienkonten-Streit das Wittenberger Institut für Hochschulforschung eine Expertise zur Ost- Berliner Wissenschaft im vereinigten Berlin. Mit ihrer Vorstellung ist regierungsoffiziell, wenn auch "nur" von der "Betroffenen"-Partei PDS, das Unrecht der sozialen Liquidierung der DDR-Wissenschafts-Eliten in der rigorosen Vereinigungspolitik aktenkundig. Allein die Humboldt-Universität feuerte von den dort 1989 beschäftigten 3 279 Wissenschaftlern (darunter 783 Professoren) bis 1994 drei Viertel der Professoren, 87 Prozent der Dozenten und neunzig Prozent des Mittelbaus.
Für die Forscher sind es vornehmlich politische Gründe, die die Einheit auch im Wissenschaftsbereich scheitern ließ. Neben wissenschafts- und karrierepolitisch dominanten Westentscheidungen machen sie auf weitergehende Absichten der Sieger aufmerksam. Sie blenden aber aus, daß diese Vorgänge nicht allein Fehler mißlungener Wissenschaftspolitik sind, sondern Teil der Delegitimierung der DDR, des Ausschaltens ihrer geistigen Eliten und generell marxistischen, prosozialistischen Denkens.
Der Senator irrt, wenn er auf Versöhnung etwa mit einer Emeritierungsveranstaltung und auf ein Moderieren des Verhältnisses der geschaßten Wissenschaftler zu ihren alten, nun neu-westlich geführten Wirkungsstätten setzt - ganz abgesehen davon, daß der die Richtlinienkompetenz einfordernde Wowereit ihn sofort ausbremste. Das verkennt Ernst und tiefen Sinn der Einheit unter westdeutsch-kapitalistischen Vorzeichen, in der die Kolonialisierung des akademischen Bereiches zentrale Aufgaben in "bestem" Machiavellischen oder Leninschen Sinne sein mußte. Die geistigen Kommandohöhen für die nunmehrige Ostminderheit mußten naturgemäß mit jenen besetzt werden, die Gewähr für unverbrüchliche Freundschaft zur Westbindung, das klare Bekenntnis zur führenden Rolle der deutschen Wirtschaft und das unverzichtbaren Festhalten an der Macht-, äh, Demokratiefrage bieten, in der Macht dauerhaft vom Volke ausgeht und selten zur ihm zurückkommt.
Berechtigt mahnen die Hochschulforscher an, daß mit dieser Ausgrenzung Kompetenzen dauerhaft verloren gehen, die für die stockende Einheit, aber auch für Außenwirkungen unverzichtbar sein könnten: DDR-Insiderwissen, Deutungskompetenzen zur Geschichte, Osteuropawissen, marxistische Ansätze, Lehrorientierung, DDR-bezogene Lehre. Aber: Jüngst noch rückte CDU-Ex-Wissenschaftssenator Erhardt die in der DDR übliche Betreuung von Promovenden und Studenten durch gestandene Wissenschaftler in die Nähe konstitutiver Diktaturmerkmale.
Die Argumente gegen auch nur minimale Korrekturen der Vereinigungspolitik im Wissenschaftsbereich sind bekannt. Kalte Krieger und DDR-Opfer sorgen sich, daß alte Stalinisten rehabilitiert würden. Dies fürchten tatsächlich auch diejenigen, die an einer Lösung für ihre Probleme interessiert sind und sich eher zu den kritischen, zu DDR-Zeiten nur einflußlosen, mehr oder minder angepaßten Wissenschaftlern zählen. Sie begreifen trotz der jetzt prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen den DDR-Zusammenbruch als Chance einer geistigen und wissenschaftlichen Emanzipation. Dafür hatten sie sich in Wendezeiten engagiert. Daß bei ihnen neue Zwänge wirken und sie oft um des Broterwerbs willen auch heute bewußt oder unbewußt oftmals angepaßt agieren und oft nicht kritische Verteidiger einer Gesellschaftsalternative, des Marxismus und einer besseren, aber linken Politik sind, macht die Sache für die politisch Engagierteren unter ihnen nicht einfacher.
Es gibt ein weiteres Totschlagsargument: Heute gehe es allen Wissenschaftlern schlecht, die Hochschulen seien überfüllt, marode, innovationsfeindlich, sie müßten reformiert werden. Für Ostdeutsche könne keine Extrawurst gebraten werden, das wäre unsolidarisch. Abgesehen davon, daß gerade das Überstülpen jener Strukturen, die auch im Westen vor 1989 als reformbedürftig angesehen wurden, zur Malaise der ost- wie gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft beitrug, so ist doch zweierlei klar. Sonderlösungen für die Ossis wären eine Brechstange, um insgesamt Strukturen aufzubrechen. Andererseits bedürfen Ostdeutsche als Ureinwohner ihres Landes auch jenes Minderheitenschutzes, der heute Indianern in jedem anderen Teil der Welt zugestanden wird - oft, nachdem die meisten ausgerottet wurden und der Rest dem Alkohol verfallen war.
Die Wittenberger sind keineswegs blauäugig. Sie benennen Lösungen aus Sicht der Betroffenen. Sie unterscheiden zwischen Lösungen, die Geld kosten und dauerhaft etwas bringen, und jenen wohlfeilen symbolischen, die sich politisch gut machen, auch Wirkungen haben, aber Probleme nur kaschieren. Die Überlegungen reichen von einem Stellenpool beim Berliner Wissenschaftssenator und einer drittmittelabhängigen Sockelfinanzierung unabhängiger sozialwissenschaftlicher Institute über Untersuchungsaufträge zur "mittleren Generation" der "Übersprungenen" bis hin zu einer sogenannten Nach-Verabschiedung von Hochschullehrern. Ernsthaft diskutierte Ideen wie die einer "Ost-Quote" oder die Einführung von Titular-Professuren für Wissenschaftler der mittleren Generation scheitern schon am Hinweis auf vorgeblich unüberwindliche Gesetzeshürden.
An die Adresse der PDS gerichtet, haben die Autoren der Wittenberger Expertise recht: Die PDS sehe im "rot-roten Regierungsprojekt Â… ein Projekt, das ›einen Wert an sich‹ habe (Gysi), nämlich den des primären Nachweises von Regierungsfähigkeit. Im Verhältnis zu diesem erstrangigen Ziel scheint - soweit das von außen wahrnehmbar ist - die Bemühung um die Durchsetzung originär inhaltlicher politischer Anliegen sekundär zu sein Â… (Aus) dieser Konstellation (resultiert) bislang ein gebremstes Interesse der PDS, sich allzu kämpferisch und konfliktorisch für Anliegen von - zum Beispiel - marginalisierten Ost-Berliner WissenschaftlerInnen zu verwenden."
Zur Ironie gehört, daß die Hürden - vor allem finanzielle - offensichtlich von vornherein zwar noch ein Papier ermöglichten, aber Auftraggeber Flierl - er agiert augenscheinlich recht isoliert gegenüber seinen Parlamentariern und Parteigremien - nur Symbolik bleibt. Denn von seinem Auftritt vermeldet die Presse nur die leere Versöhnungsgeste der feierlichen Verabschiedung. Nur für diese Geste hätte er nicht Kopf und Kragen riskieren müssen. So schön das für die Betroffenen wäre, aber es brächte kaum etwas. Linke finden es ja nicht gut; aber jede andere Partei in der Regierung hätte längst außer ein paar Sprecherstellen einige vernünftige Verwaltungs- und Professorenstellen unter ihre Klientel gebracht.
Klartext: Es geht nicht um Versöhnung, sondern um das Aufzeigen von Freveln in der Vereinigungspolitik. Wer über Fehler und Verbrechen des DDR-Sozialismus berechtigt nicht schweigen will, der darf es auch nicht über jene klassenkämpferischen Praktiken der westdeutschen Sieger und ihrer Ost-Helfershelfer seit 1990. Sie hinterlassen doch nur wieder zwei Gesellschaften in der einen, in der Bürger (Ost) wie Wissenschaftler (Ost), unabhängig davon, ob sie es wahrhaben wollen, nur in der 2. Klasse sitzen dürfen. Solange nicht praktisch etwas getan wird und die berechneten Mini-Summen (im Jahr für den Stellenpool zwei bis vier Millionen, für die Institutsförderung eine halbe Million Euro) verwehrt werden, solange dürfen die Bücher nicht geschlossen werden.

in: Des Blättchens 7. Jahrgang (VII) Berlin, 1. März 2004, Heft 5