Opfer des Kapitalismus

Ein einstiger Kanzlerberater plauderte jüngst, Gerhard Schröder habe der hochwassergeförderte Wahlsieg im Jahre 2002 überhaupt nicht in die Lebensplanung gepaßt...

... Nach vier Jahren Bonn-Berliner Medienzirkus hatte er endlich richtig und vor allem sozial abgesichert Geld verdienen wollen - nach einer weichen Landung in der Wirtschaft.
Das Ticket zum Absprung hat der Kanzler in den vergangenen anderthalb Jahren nun auch ohne Wahlniederlage, dafür mit schweren Opfern (die allerdings andere zu erbringen haben), erworben und dabei seinen Preis erheblich zu steigern vermocht. Denn so effektiv hatten weiland weder Heinrich Brüning noch seine durch ihn mächtig gewordenen Nachfolger die von der Arbeiterbewegung erkämpften sozialen Standards abzusenken verstanden - Gerhard Schröder hat überdies niemandem auch nur ein Haar gekrümmt. Das ist wahrer Fortschritt.
Schröder deutete unterdessen in einem Interview an, die Agenda 2010 fallenlassen zu wollen - es fand sich natürlich sofort ein "Analytiker", der das als großen Sieg der Protestbewegung zu verkaufen suchte. Die Neunmalklugen werden eben nicht weniger. Nachdem der Sozialstaat erfolgreich in ein Terrorinstrument gegen Sozialschwache umgemendelt worden ist, kann sich Schröder natürlich von der Agenda 2010 medienwirksam verabschieden. Das Programm ist fast vollständig umgesetzt; das Logo wird nicht mehr benötigt.
Nach dem Wegsterben des - sozial zweifellos sehr unterschiedlich ausgestalteten - Kasernensozialismus in Europa stehen den Eignern der großen Kapitalien keine relevanten Gegner mehr gegenüber; entsprechend lautet das Motto statt Wohlstand und Demokratie für alle heute Liberalisierung - oder weniger akademisch ausgedrückt: Profitmacherei ohne jegliche moralische Hemmung. Diese, die Kapitalseite erfreuende Entwicklung wird von revolutionären Umbrüchen in den Technologien begleitet: Für die Profitproduktion bedarf es immer weniger Arbeitskraft. In den heutigen Industriestaaten hören immer mehr Menschen auf, hochentfremdete Anhängsel der Maschine zu sein - indem sie aus dem Produktionsprozeß, und in Deutschland dank der Politik der jetzigen Bundesregierung auch aus der Gesellschaft, ausgeschieden werden.
Zwischen Politik und "großem Geld" scheint geradezu ein Wettbewerb ausgebrochen zu sein, wer mehr Opfer des Kapitalismus produziert. Wir sind Zeugen einer Asozialität, wie sie "die Wirtschaft" seit der Ausplünderung der Sowjetunion nicht mehr entfalten konnte; im Moment verstärken sich politische und technologische Entwicklung gegenseitig. So unbedroht haben sich die oberen Zehntausend zuletzt vor dem Aufstieg der Arbeiterklasse zu einer politischen und kulturellen Macht gefühlt.
Vorgezogen wird die Ausbeutung von Arbeitskraft dem Einsatz von Maschinerie nur noch dort, wo die Arbeitskraft wenig mehr Kosten verursacht, als die deutsche Wirtschaft für sowjetische Zwangsarbeiter aufzuwenden hatte: in Osteuropa und in China. Für die Mittel, die in Deutschland für die Ausbeutung von 2 000 Ingenieuren ausgegeben werden müssen, kann Siemens in China 12 000 Fachleute fronen lassen. Um wieviel billiger wird da erst der einfache Facharbeiter? Und all das ist möglich, ohne in riskanten Feldzügen gegen den Bolschewismus sich die Finger schmutzig zu machen.
Die in den Industriestaaten über viele Jahrzehnte angewachsene Arbeiterschaft schrumpft sowohl durch das Heraustreten des Menschen aus der unmittelbaren Produktion als auch durch das "antinationalistische " Verhalten des Großkapitals. Deshalb steigt seit dreißig Jahren die Zahl der Ausgegrenzten stetig - selbst in Zeiten der Konjunktur und mit der Folge, daß die Gewerkschaften eine immer kleiner werdende privilegierte Gruppe sozialstaatlich beschützter Arbeiter vertreten. Wie wenig "Politik und Wirtschaft" die einst gefürchtete gewerkschaftliche Organisationsmacht heute glauben noch berücksichtigen zu müssen, haben eindrucksvoll die Reaktionen auf die von den Gewerkschaften usurpierten Proteste vom 3. April gezeigt. Die oberen Zehntausend haben längst begriffen, daß die Interessen der verbleibenden Arbeiterschaft - strategisch gesehen - nicht mehr mit den Interessen der Gesellschaftsmehrheit übereinstimmen. Eine Epoche neigt sich ihrem Ende zu.
Solch frohe Botschaft heizt die Gier zusätzlich an. So wie zu feudaler Zeit wird die Gesellschaft erneut in ein unmittelbares Ausbeutungsobjekt verwandelt: mit der Freigabe von Wasser, Energie, Transport, Bildung, Gesundheit für die Verwertung. Das Kapital folgt dem einstigen - noch auf außerökonomischen Zwang angewiesenen - Feudaladel und wird zum Parasiten am Leib der Gesellschaft.
Bleiben die Opfer dieses Kapitalismus. Allein am 1. Januar 2005 werden etwa 500 000 Menschen jegliche Bezüge verlieren, weil das Einkommen der Haushalte, in denen sie leben, über dem Sozialhilfesatz liegt. Das ist von der Politik bewußt und gezielt herbeigeführte Verelendung. Zu Beginn des Kapitalismus - während der ursprünglichen Akkumulation in England - "fraßen Schafe Menschen": Mit der durch Staatsterror abgesicherten Enteignung und Umwandlung von Ackerland in Weideland zum Zwecke der Wolleproduktion waren Bauern massenhaft ihrer Existenzgrundlage beraubt und in den Tod getrieben worden. Das Bild für die Wirkung der Hartzgesetze ist noch nicht gefunden.
Gerhard Schröder und der nichtinfantile Teil der Grünen-Führung scheinen zu glauben, endlich aus ihren Marx-Studien von ehedem doch noch Nutzen ziehen zu können. Beim Alten aus Trier hatten sie gelernt, daß das Lumpenproletariat deklassiert, vereinzelt, kooperationsunfähig, moralisch verkommen und unstet sei - es sich also nicht wehren könne und deshalb von ihm für den Kapitalismus keine echte Gefahr ausgehe. Auf diese Marxsche These scheint sich die Sozialpolitik der jetzigen Bundesregierung zu gründen; aus ihr scheinen die Schreibtischtäter ihre Sicherheit beim Vernichten kapitalunwerter Existenzen zu ziehen.
Doch was ist, wenn MarxÂ’ Befund, den er zu Zeiten einer sich in jeder Hinsicht im Aufstieg befindenden Arbeiterklasse erhob, unter Bedingungen, in denen diese Klasse auf einen privilegierten Rest schrumpft, nicht mehr zutrifft? Was geschieht, wenn die Ausgegrenzten ihre Ausgrenzung annehmen statt der Illusion eines gewerkschaftlich geschützten Arbeitsplatzes nachzuhängen; was, wenn sie den von amtswegen einkalkulierten Selbstmord verweigern und sich in dem Aus, in das sie geschickt wurden, ökonomisch auf nichtkapitalistischer Grundlage organisieren; was, wenn die gut Ausgebildeten und Kreativen unter ihnen beginnen, in freier Kooperation und in subversiver Anwendung der sich rasant ausbreitenden Informationstechnologien eine Gegengesellschaft zu bilden, gegen die kein militärisch noch so hochgerüsteter Überwachungsstaat etwas auszurichten vermag? Was geschieht, wenn die Opfer des Kapitalismus aufhören, sich nach dem Kapitalismus zu sehnen?

in: Des Blättchens 7. Jahrgang (VII) Berlin, 26. April 2004, Heft 9