"Überzählige" und "Überflüssige".

Empirische Annäherungen an die gesellschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit

Der französische Soziologe Robert Castel identifiziert in seiner "Chronik der Lohnarbeit" drei "Kristallisationskerne" der neuen sozialen Frage (Castel 2000: 357ff.): ...

... Erstens, die wachsende Destabilisierung ehemals stabiler Beschäftigungsformen. Davon sind, so Castel, "ein Teil der integrierten Arbeiterklasse und der abhängig Beschäftigten der kleinen Mittelklasse" betroffen. Sozialer Absturz droht. Zweitens, das "Sich-Einrichten in der Prekarität". Dessen Kennzeichen sind das stete Wechselspiel "zwischen Erwerbsarbeit und Inaktivität", die Mobilität des "provisorischen Durchwurstelns" und die chronische Ungewißheit von Beschäftigungsperspektiven. Wiederkehrende Arbeitslosigkeit, befristete Beschäftigung und "ständige Zeitarbeit" sind die erwerbsbiographischen Muster dieser "Kultur des Zufalls" (Rouleau-Berger 1992). Dauerhafte Prekarität droht. Ein dritter "Kristallisationskern" der neuen sozialen Frage ist für Castel die Existenz der "Überzähligen", die für den Arbeits- und Produktionsprozeß keine Funktion mehr besitzen, und die in der öffentlichen Wahrnehmung als "Kostgänger" den wohlfahrtsstaatlichen Kassen zur Last fallen. Das Verschwinden im sozialen Niemandsland der Dauerarbeitslosigkeit droht.
Diese "Kristallisationskerne" der neuen sozialen Frage widerspiegeln eine Arbeitswelt, in der sich im Zuge des beschleunigten technologischen Wandels die Verwertungsbedingungen der Ware Arbeitskraft verändert haben, in der sich die Orte und Zeiten der Beschäftigung neu konfigurieren, und in der die Biographien und Erwerbsverläufe der Menschen an Sicherheit und Stabilität verlieren. Dieser Umbruch in der Arbeitswelt verändert auch die Physiognomie der Arbeitslosigkeit. Sie verliert ihren periodischen Charakter. Neue soziale Spaltungen bzw. Ungleichheiten zwischen denen, die am Erwerbsleben teilhaben und denen, die weitgehend davon ausgeschlossen sind, sind die Folge. In Westdeutschland begann sich bereits in den achtziger Jahren eine soziale Schicht der Dauerarbeitslosen herauszubilden (Kronauer et al. 1993). Nach der "Wende" etablierte sich in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft sehr rasch eine neue Soziallage der "Überzähligen" (Vogel 1999).
Diese wachsenden sozialen Ungleichheiten am Arbeitsmarkt in Ost und West markieren die Schwierigkeiten bestimmter Gruppen der erwerbsfähigen Bevölkerung, dauerhaft Zugang zum Erwerbsleben zu finden. Das gilt vor allem für Ältere, für Arbeitskräfte ohne berufliche Qualifikation oder mit gesundheitlichen Einschränkungen. Ende der neunziger Jahre konstatierte eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Die Arbeitslosigkeit spaltet sich. Ein kleiner werdender Teil der Arbeitslosen kehrt nach kurzer Zeit zurück in Arbeit, ein größer werdender Teil gerät dauerhaft ins Abseits am Arbeitsmarkt (Karr 1999). Mittlerweile ist die verfestigte Arbeitslosigkeit kein Ausnahmefall mehr, die nur auf die passende arbeitsmarktpolitische Antwort wartet. Vielmehr wird die Dauer der Arbeitslosigkeit zu einem Risiko eigener Qualität. Eine infas-Studie zeigt, "daß der größte Teil der Übergänge [aus der Arbeitslosigkeit, B.V.] in eine Erwerbstätigkeit in die ersten zwei Jahre der Arbeitslosigkeit fallen. (...) Mit zunehmender Arbeitslosigkeitsdauer nimmt also die Chance, wieder erwerbstätig zu werden, deutlich ab" (Gilberg et al. 1999: 284). Zwei Jahre ohne Arbeit - wer diese Grenze überschreitet, dessen Chancen auf Rückkehr ins Erwerbsleben sinken drastisch. Es spricht vieles dafür, daß dieser Trend der strukturellen Verfestigung der Arbeitslosigkeit durch die aktuelle Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik eher bestärkt denn gebremst wird - denn qualifizierende, weiterbildende oder überbrückende Maßnahmen richten sich im Rahmen der Gesetzgebung zur "Modernisierung des Arbeitsmarktes" (vulgo: Hartz-Reform) mehr und mehr nur noch an diejenigen Arbeitslosen, die erst kurzzeitig ohne Erwerbsarbeit sind und deren persönliche Merkmale (Alter, Qualifikation etc.) nicht von vornherein "vermittlungshemmend" wirken. Die Langzeitarbeitslosen bzw. diejenigen, die gemeinhin als sogenannte Problemgruppen des Arbeitsmarktes der Öffentlichkeit vorgestellt werden, geraten dagegen verstärkt zur Zielgruppe arbeitsamtlicher "Bestandssenkung" - sie werden mit repressiven Mitteln aus der Statistik und damit aus dem Zuständigkeitsbereich der Arbeitsverwaltung gedrängt (Süddeutsche Zeitung: 2004). Kurzum, die Struktur der Arbeitslosigkeit hat sich in der vergangenen Dekade grundlegend verändert.
Zugleich gewinnt die Erwerbsarbeit an Attraktivität. Von einem gesellschaftlichen Wertewandel, der die subjektive Bedeutung des Erwerbslebens grundlegend relativiert, kann heute weniger denn je die Rede sein. Im Gegenteil: Die dauernde Beanspruchung durch die und in der Erwerbsarbeit ist ein Statussymbol. Nicht mehr der "demonstrative Müßiggang" (Veblen 1997) fördert das gesellschaftliche Ansehen, sondern die demonstrative Dauererwerbstätigkeit. Insbesondere in den höher qualifizierten Berufsgruppen (aber nicht nur dort) etablierte sich in den neunziger Jahren eine "Kultur der langen Arbeitszeiten" (Franks 1999: 93). Die Erwerbsarbeit hat - im Vergleich zu anderen Arbeiten und Tätigkeiten, die nicht entlohnt werden - ein nie gekanntes Prestige erlangt. Wer nicht erwerbstätig ist, der gerät mehr und mehr in ein soziales Niemandsland. Das gilt für Arbeitslose ebenso wie für diejenigen, die sich aufgrund familiärer Bindungen oder aus gesundheitlichen Gründen nicht am Erwerbsleben beteiligen können. Auch die soziale Statusalternative der Hausfrau und Mutter hat heute weitgehend abgewirtschaftet, denn den Frauen bringt die Kindererziehung kaum mehr soziale Anerkennung ein. Von den Männern ganz zu schweigen. Ein Mann, der nicht zur Arbeit geht, ist kein Mann. Weder in den Augen seiner erwerbstätigen Geschlechtsgenossen, noch in den Augen der Frauen. Die Erwerbsarbeit ist für Männer wie Frauen, für Alt und Jung die zentrale gesellschaftliche Anerkennungs- und Integrationsmaschine. Der Verlust der Arbeit in einer erwerbsarbeitsfixierten Gesellschaft ist daher immer enger mit Gefühlen sozialer Unterlegenheit und des Ausgeschlossenseins verknüpft. Denn auf der einen Seite wächst der Zwang zur Erwerbsbeteiligung, um sozial respektiert zu werden und dem "sozialen Tod" (Bourdieu 1997) durch Arbeitslosigkeit oder Nichtbeteiligung am Erwerbsleben zu entkommen. Andererseits haben immer mehr Menschen Schwierigkeiten, längerfristig und regelmäßig Zugang zur Erwerbsarbeit zu finden.
Aus dieser Konstellation struktureller Benachteiligung bestimmter Gruppen am Arbeitsmarkt, sozialer Abwertung sowie Stigmatisierung derer, die nicht am Erwerbsleben teilhaben können oder wollen, betritt in den neunziger Jahren die soziale Figur des "Überzähligen" oder des "Überflüssigen" die Bühne der alten und der neuen kapitalistischen Gesellschaften. Auf der Grundlage eigener empirischer Untersuchungen, die wir in den vergangenen Jahren am Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen durchgeführt haben (Kronauer/Vogel 2001; Vogel 2001a), skizziert der Text diese sozialen Figuren. Drei Fragen sind hierbei zu diskutieren: (1) Wer sind die "Überzähligen"? (2) Was sind die Gründe und Triebkräfte, die eine Soziallage der "Überzähligkeit" konstituieren? (3) Was sind mögliche Folgen einer zunehmenden Spaltung und Ungleichheit der Arbeitswelt, deren Prototypen die "Überzähligen" sind?

"Überzählige", "Überflüssige" - von wem ist die Rede?
Viele Wege führen an den Rand der Arbeitsgesellschaft. Hier finden sich unterschiedliche Gruppen der Erwerbsbevölkerung. Sie sind verschiedener sozialer Herkunft, sie unterscheiden sich in ihren Erwerbsbiographien, sie sind stärker oder schwächer in institutionelle und soziale Netzwerke eingebunden und sie können im Einzelfall mehr oder weniger auf familiäre oder wohlfahrtsstaatliche Unterstützung rechnen. Kurzum, ihnen stehen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung, und sie erleben ihre Situation vor dem Hintergrund spezifischer sozialer Laufbahnen und Erwerbsgeschichten. Nur eines ist ihnen allen gemeinsam: Am Arbeitsmarkt haben sie aktuell keine oder nur noch sehr geringe Chancen. Dieser Umstand prägt in starkem Maße ihre soziale Lage, ihr Selbstbild und ihr Verhältnis zur Gesellschaft der Erwerbstätigen. Auf wen treffen wir in den Randlagen der Arbeitsgesellschaft?
Wir treffen auf Arbeiter, deren Arbeitsplätze im Zuge der Deindustrialisierung und des betrieblichen Strukturwandels verschwunden sind. Diese Männer und Frauen, die in der Regel über spezifische Qualifikationen und Fertigkeiten verfügen, die sie in langen Jahren stabiler Betriebszugehörigkeit erworben haben, finden wir in den industriellen Brachlandschaften Ostdeutschlands und in westdeutschen Krisenregionen, die in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandel durchlaufen haben. Nach ihrer Entlassung wurden sie sofort mit großen Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert. Die Vermittler im Arbeitsamt, die Sachbearbeiter im Sozialamt und mögliche Arbeitgeber klassifizieren sie als zu alt, zu krank, zu immobil und als fehlqualifiziert. Sie erhalten mithin deutliche Signale, daß ihre Zeit im Erwerbsleben nun abgelaufen ist. Insbesondere das Arbeitsamt behandelt sie nur noch mit wohlwollendem Desinteresse und gibt ihnen recht deutlich zu verstehen, daß man nichts mehr für sie tun kann. Das gilt nicht nur mit Blick auf den sogenannten ersten Arbeitsmarkt, sondern beispielsweise auch für die Vermittlung in umschulende Maßnahmen. Zur weiteren wohlfahrtsstaatlichen Versorgung werden sie an die Sozialämter verwiesen. Die Biographie dieser Langzeitarbeitslosen kennzeichnet ein scharfer Bruch, der ein stetiges Erwerbsleben in der Arbeitsgesellschaft der DDR oder in über Jahrzehnte stabilen Industriebranchen Westdeutschlands von einem dauerhaften Leben in Arbeitslosigkeit trennt. Doch gerade dieser Generation der Arbeiterklasse ist in Ost und West gemeinsam, daß der Betrieb für sie immer mehr war als nur ein Arbeitplatz. Er war ihr Lebensmittelpunkt. Ihre soziale Laufbahn ist in der Regel nicht von der Geschichte des Betriebs zu trennen. Umso schwerer trifft sie der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Zentrale Halte- und Orientierungspunkte gehen verloren. Soziale Isolation ist die Folge. Das Wissen darum, mit dem Verlust der Erwerbsarbeit am Endpunkt der eigenen Erwerbsbiographie angelangt zu sein, läßt diese Langzeitarbeitslosen resignieren. Ihre Erwerbsbiographie ist stillgestellt. An eine Chance auf Rückkehr in Arbeit glauben sie nicht mehr. Ohne rechte Perspektive räsonieren sie melancholisch über den Umstand, daß man "früher" wenigstens noch eine "Aufgabe" hatte, und vor allem "einen Platz in der Gesellschaft". Heute wissen sie nicht mehr, woran sie sich halten können. Im Bewußtsein der eigenen "Überzähligkeit" finden sie keine Antwort auf ihre ausweglose soziale Lage.
Unter den "Überzähligen" treffen wir zudem auf deklassierte Facharbeiter und Angestellte aus unterschiedlichen Branchen, die aufgrund des technischen Wandels der Arbeitswelt, aber auch aus familiären oder gesundheitlichen Gründen in eine berufliche Abstiegsspirale geraten sind, aus der sie sich nicht mehr befreien konnten. Ihre stabile Beschäftigung verloren diese Arbeitslosen in den "besten Jahren" ihres Erwerbslebens. Zum Zeitpunkt des Arbeitsplatzverlustes waren sie beruflich, sozial und familiär etabliert. Als besonders problematisch für ihre weitere Erwerbskarriere erwies sich in der Folgezeit, daß sie sich von Beschäftigungsphase zu Beschäftigungsphase zu immer weiteren Abstrichen und Zugeständnissen am Arbeitsmarkt gezwungen sahen - gegenüber den Inhalten der auszuführenden Tätigkeiten (das hatte Qualifikationsverluste zur Folge); gegenüber den Zeiten und Formen der Beschäftigung (das hatte immer kürzere Beschäftigungsphasen zur Folge); und gegenüber der Entlohnung (das hatte erhebliche finanzielle Einschnitte zur Folge). Ihre Bereitschaft, den eigenen sozialen Abstiegsprozeß durch Konzessionen an die Arbeitsmarktlage und demonstrative Flexibilität zu stoppen, zahlte sich für sie nicht aus. Das Wechselspiel von Kurzfristjobs, Leiharbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Fortbildung führte sie Schritt für Schritt in die unsicheren und gefährdeten Randbereiche der Arbeitsgesellschaft. Sie wurden zum Opfer ihrer eigenen Mobilitätsbereitschaft bzw. der Bereitschaft, die Ansprüche an eine Arbeitsstelle herunterzuschrauben. Die Mehrzahl dieser Arbeitslosen kann dabei auf regelrechte Maßnahmekarrieren zurückblicken. Im Unterschied zu anderen Arbeitslosen bekamen sie in der Vergangenheit immer wieder Maßnahmen angeboten bzw. wurden mit mehr oder weniger sanftem Druck von Seiten der Arbeitsverwaltung auf diese Maßnahmen verwiesen. Doch alle diese Aktivitäten konnten keine neuen Orientierungs- und Anhaltspunkte vermitteln, die eine Rückkehr in stabile Beschäftigungsformen möglich machten. In die Mühlen der Arbeits- und Sozialverwaltung zu geraten, markiert nach dem Empfinden dieser Arbeitslosen vielmehr den Anfang vom Ende ihrer beruflichen und sozialen Etablierung. Die Arbeits- und Sozialämter haben in der Sichtweise dieser Arbeitslosen eher noch zu einer Verschärfung ihrer ohnehin prekären Arbeitsmarktlage beigetragen, indem sie sie dazu drängten, perspektivlose Maßnahmen zu durchlaufen oder minderwertige Beschäftigung zu akzeptieren. Hinzu kommt, daß der häufige Wechsel zwischen Beschäftigung und Nichtbeschäftigung nicht nur die beruflichen Ambitionen zerstörte, sondern mehr und mehr auch soziale Bindungen. Infolge der immer wiederkehrenden Arbeitslosigkeit und der vergeblichen Versuche, im Erwerbsleben Fuß zu fassen, gingen familiäre Bindungen, Freundschaften oder auch nachbarschaftliche Kontakte in die Brüche. Der beruflichen Deklassierung folgte häufig eine soziale. Der allmähliche Abstieg innerhalb des Erwerbslebens blieb nicht ohne Folgen für den Alltag und die private Sphäre. In den Interviews mit diesen Arbeitslosen ist die Hilflosigkeit und die Verzweiflung darüber spürbar, daß der Kampf gegen den Abstieg erfolglos blieb; aber auch ihr Ressentiment gegenüber anderen Arbeitslosen. Denn im Unterschied zu ihnen selbst, die sich (wie sie stets betonen) niemals "für eine Arbeit zu schade waren", sind nach ihrer Auffassung andere "selbstverschuldet" in die Arbeitslosigkeit geraten. Daß man mit diesen Arbeitslosen nun "in einen Topf geworfen wird", schmerzt und beschämt sie.
Um einen eher großstädtischen und westdeutschen Typus des "Überzähligen" handelt es sich im Falle der Arbeitslosen, die sich in ihrer Erwerbslaufbahn stets als Grenzgänger zwischen Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit bewegt haben. Von anderen Langzeitarbeitslosen unterscheiden sie sich vor allen Dingen in einem Punkt: Im Laufe ihres Arbeitslebens ist diesen Frauen und Männern niemals ein Einstieg in ein längerfristiges Beschäftigungsverhältnis geglückt; bzw. von einer Minderheit unter ihnen wurde ein solcher Einstieg auch gar nicht angestrebt. Mit wiederkehrenden Unterbrechungen waren sie als Hilfsarbeiter im Transportgewerbe, auf dem Bau, im Handel oder im Bereich privater Dienstleistungen beschäftigt. Zwischenzeitlich durchliefen sie auch Maßnahmen des Arbeitsamtes oder hielten sich mit Schwarzarbeit über Wasser. Ihre Erwerbsbiographie war stets eine Gratwanderung am Rande der Arbeitsgesellschaft. Als Pendler zwischen Erwerbstätigkeit und unterschiedlichen Formen des Arbeitens außerhalb "regulärer" Arbeitsmärkte bewegten sie sich in den Grauzonen prekärer und instabiler Beschäftigung. Sie waren kontinuierlich diskontinuierlich beschäftigt. Die Verfestigung ihrer spezifischen Soziallage zur Dauerarbeitslosigkeit ist einem erwerbsbiographischen Bruch geschuldet, der das langjährige Arrangement von Arbeit und Nichtarbeit beendete. Für diesen Bruch waren unterschiedliche Gründe verantwortlich: das Alter, gesundheitliche Probleme und Einschränkungen, aber auch der sich für Gelegenheitsjobs und Jedermanntätigkeiten verändernde städtische Arbeitsmarkt (vgl. beispielhaft STEB 2000). Gleichwohl gilt für diese Grenzgänger an den Rändern der Arbeitsgesellschaft, daß ihr dauerhaftes Abgleiten in die Arbeitslosigkeit in geringerem Maße soziale Bindungen zerstörte als in anderen Fällen, zum Beispiel im Falle der beruflich und sozial deklassierten Arbeitslosen. Sie sind weniger sozial isoliert als andere dauerhaft Arbeitslose. Trotz ihrer Verdrängung aus dem Erwerbsleben können sie soziale Beziehungen aufrecht erhalten und stabilisieren. Das gilt für familiäre Bindungen, aber auch für das Vorhandensein bzw. die Verfügbarkeit sozialer Netzwerke im Wohnquartier. Zu den Ämtern (Arbeits- und Sozialamt) haben diese Langzeitarbeitslosen ein zwiespältiges Verhältnis. Auf der einen Seite sind sie häufig in einen langwährenden Kampf insbesondere mit dem Sozialamt verwickelt, das sie als repressive Kontrollinstanz erleben und das ihnen heute wie früher mit Argwohn gegenübertritt. Andererseits verstehen sie es besser als andere Arbeitslose, die Ämter für sich zu nutzen. Sie sind über ihre Rechte als Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger vergleichsweise gut informiert und fordern diese auch ein. Im Unterschied zu anderen Arbeitslosen betrachten sie Sozialhilfe als ein Recht, für dessen Inanspruchnahme sie sich nicht zu schämen brauchen. Konflikte und Konfrontationen mit den Ämtern bestimmen in starkem Maße den Alltag dieser Arbeitslosen. Insgesamt wird deutlich: Arbeitslosigkeit ist für sie - im Unterschied beispielsweise zu den Arbeitslosen, die mit einem abrupten Ende ihrer über lange Jahre stabilen Erwerbslaufbahn konfrontiert waren - kein unvorstellbarer Zustand, keine soziale Lage, die hilflos macht und zur Resignation zwingt. Hier kommen die Erfahrungen dieser langzeitarbeitslosen Grenzgänger mit prekären biographischen Arrangements zum Tragen.
In den Randlagen der Arbeitsgesellschaft - in den neuen Bundesländern noch stärker als in den alten - treffen wir schließlich auf Jugendliche ohne Beruf, die dem wachsenden Professionalisierungsdruck des Erwerbslebens nicht gewachsen sind (Vogel 2001b). Die meisten von ihnen sind ohne Schulabschluß und haben bereits zahlreiche Warteschleifen in öffentlich geförderter Beschäftigung oder im außerbetrieblichen Berufsbildungssystem durchlaufen. Doch diese Maßnahmen haben sie immer wieder abgebrochen und es ist ihnen nicht gelungen, sich auf diesem Weg beruflich zu qualifizieren. Ihr Einstieg in den regulären Arbeitsmarkt ist blockiert. Im Vergleich zu anderen Arbeitslosen erfahren sie gleichwohl die größte arbeitsmarktpolitische Aufmerksamkeit. Sie sind in Ost und West die zentrale Zielgruppe aktiver Arbeitsmarktpolitik. Von ihrer Seite werden diese Aktivitäten jedoch zwiespältig wahrgenommen: einerseits als eine mögliche Brücke in Erwerbsarbeit, andererseits als ein sinnloser Zeitvertreib, der ausschließlich der Disziplinierung in der Arbeitslosigkeit dient. Ihre Chancen, sich im Erwerbssystem zu etablieren, schätzen sie sehr pessimistisch ein. Ihre bisherige Isolation in arbeitsmarktexternen Maßnahmen setzt sich in Gefühlen der Vereinzelung und des sozialen Zurückbleibens fort. Gegenüber anderen - insbesondere erwerbstätigen - Altersgenossen sehen sich als sozial abgehängt. Von den Statussymbolen der Mobilität (Auto, Wochenendausflug und regelmäßige Urlaubsreisen) fühlen sie sich ausgeschlossen. Als defizitäre und "fehlerhafte Konsumenten" (Zygmunt Bauman) können sie die materiellen Standards ihrer Altersgruppe nicht erfüllen. Vielmehr klagen sie über soziale Konkurrenzen, über eigene Gefühle der Unterlegenheit und die Überlegenheitsdemonstrationen ihrer Altersgenossen. Ein wichtiger Unterschied zwischen diesen jüngeren Langzeitarbeitslosen und den anderen Arbeitslosen unserer Untersuchung liegt freilich darin, daß sie aufgrund ihres Alters ihre soziale Lage nicht als irreversibel betrachten. Sie können zumindest darauf hoffen, in Zukunft eine Anbindung an das Erwerbssystem zu finden - wie brüchig diese auch immer sein mag. Zwar beschreiben sie sich häufig als "ausgeschlossene Einzelgänger", die am Arbeitsmarkt bestimmte Hürden einfach nicht überspringen können. Aber auf der anderen Seite wissen sie zum einen um die Brücken, die ihnen von Seiten der Ämter gebaut werden, und zum anderen finden einige Unterstützung in familiären Netzwerken und sind auf diese Weise sozial eingebunden. Dennoch dürfen wir im Falle dieser Arbeitslosen nicht übersehen, daß der erschwerte Zugang zu Beschäftigung bereits am Beginn der Erwerbsbiographie das Gefühl der eigenen sozialen Randständigkeit und der fehlenden materiellen Teilhabemöglichkeiten unterstreicht.

"Überzähligkeit", "Überflüssigkeit" - was sind die Gründe?
Die soziale Frage des Industriezeitalters rückte einstmals die ungleiche Verteilung der Erträge der Erwerbsarbeit in den Vordergrund. Sie thematisierte das Leiden an der Arbeit und sie machte die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft zu einem zentralen Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Und heute? Die angesprochene soziale Frage ist keineswegs gelöst, nur weil wir uns mittlerweile in der Epoche der Deindustrialisierung befinden. Die Erträge der Erwerbsarbeit sind nach wie vor ungleich verteilt, das Leiden an der Arbeit ist nicht aus der Welt geschafft, und Ausbeutung ist im betrieblichen Alltag kein Fremdwort geworden. Doch in der Frage nach den "Überzähligen" und "Überflüssigen" scheint eine neue soziale Frage auf. Sie nimmt die ungleichen Zugangschancen zum Erwerbsleben in den Blick und sie beschreibt die Misere des Lebens ohne Erwerbsarbeit. Sie rückt jene dysfunktionalen Gruppen der Erwerbsbevölkerung in den Vordergrund, die nicht einmal mehr zum Objekt der Ausbeutung taugen. Was sind die Gründe dafür, daß sich die soziale Frage mit Blick auf die Arbeitswelt in dieser Weise verschoben hat? Warum sprechen wir heute von "Überzähligen" oder "Überflüssigen"? Es sind offensichtlich unterschiedliche Gründe und Triebkräfte, die hierbei eine Rolle spielen.
Eine wichtige Rolle spielt beispielsweise der grundlegende produktions- und informationstechnologische Wandel, der seit den achtziger Jahren die Arbeitswelt zu Lasten bestimmter Gruppen der Erwerbsbevölkerung verändert hat (Cohen 1998: 81-101). Die Folgen sind rasante Produktivitätssteigerungen und eine beschleunigte Professionalisierung des Arbeitslebens. "Einfache" Tätigkeiten in Produktion, Dienstleistung und Verwaltung werden sukzessive durch Maschinensysteme und Computer aus der Arbeitswelt verdrängt. Der Zutritt zum Erwerbsleben erfordert in immer stärkerem Maße berufsfachliche Qualifikationen, die in spezifischen, zertifizierten Ausbildungsgängen erworben werden müssen. Betriebliches Erfahrungswissen und manuelles Geschick, die freilich nicht das Ergebnis einer Berufsausbildung sind, verlieren dagegen an Wert (Greffrath 2001). Damit geht der Niedergang eines bestimmten Tätigkeitstyps, der formal unqualifizierten Arbeit, einher (Reinberg 1999). "Im Westen Deutschlands war 1997 fast jeder vierte und im Osten bereits mehr als die Hälfte aller Personen ohne Berufsabschluß arbeitslos" (Engelbrech 1999: 3). Zwischen 1985 und 1995 ist der Anteil der sogenannten gering Qualifizierten an der Gesamtbeschäftigung um 8,4% auf 16,7% zurückgegangen. Bis zum Jahre 2010 wird von Arbeitsmarktforschern ein weiterer Rückgang auf nur noch 11,4% vorhergesagt (Reinberg 1999: 438).
In engem Zusammenhang mit den genannten Veränderungen in der Produktions- und Informationstechnologie stehen neue Konzepte der Unternehmensorganisation und der betrieblichen Personalplanung und -rekrutierung. Eine zentrale Folge dieser internen wie externen Neuausrichtungen betrieblichen Handelns - in denen der "neue Geist des Kapitalismus" (Boltanski/Chiapello 1999) zum Ausdruck kommt - ist, daß vor allen Dingen die (Groß-)Unternehmen ihre soziale Funktion als integrative Institutionen mehr und mehr verlieren. Robert Castel macht darauf aufmerksam, daß zu einer Zeit, in der uns das Unternehmen apologetisch als "die Quelle nationalen Reichtums, Schule des Erfolgs, Modell für Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit" (Castel 2000: 352) vorgestellt wird, es mehr und mehr seine integrative Kraft verliert. Und nicht nur das. Die veränderten betrieblichen Organisationsstrukturen im Sinne "interner Flexibilisierung" und die Aufspaltung von Unternehmen in Zulieferernetzwerke im Sinne "externer Flexibilisierung" befördern Selektions- und Ausgrenzungsprozesse unter den Beschäftigten. "Innerhalb des Unternehmens selbst bewirkt der Wettlauf um Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit die Dequalifizierung der am wenigsten Angepaßten. Das ,partizipative Management‘ verlangt die Mobilisierung nicht nur von technischen, sondern auch von sozialen und kulturellen Kompetenzen, welche im Widerspruch zur traditionellen Berufskultur einer Mehrheit der Beschäftigten stehen" (ebd.). Die Beschäftigten - und hier insbesondere die Älteren, gesundheitlich Angeschlagenen und die sogenannten Minderqualifizierten - geraten unter den Druck "permanenter Selektion". Der Ausgangspunkt von Ausgrenzung und Marginalisierung am Arbeitsmarkt liegt in der Erwerbssphäre. Die Herausbildung einer Soziallage der "Überzähligen" kann ohne Berücksichtigung der veränderten Arbeitswelt in den Betrieben nicht verstanden werden.
Auch die Fragilität sozialer Bindungen, das Schrumpfen familiärer Netze und der Zuwachs an Einpersonenhaushalten spielen im Zusammenhang unserer Frage nach den Gründen und Triebkräften der "Überzähligkeit" eine wichtige Rolle. Denn gerade diejenigen, die aus der gesellschaftlichen Integrations- und Anerkennungsmaschinerie der Erwerbsarbeit herausfallen, bekommen die negativen Folgen der Individualisierung deutlich zu spüren, und zwar in doppelter Hinsicht: Auf der einen Seite verstärken der wiederholte Verlust der Erwerbsarbeit oder die dauerhafte Arbeitsmarktprekarität die Gefahr, soziale Bindungen zu verlieren. Arbeitslosigkeit und eine schwache Position im Arbeitsleben machen einsam. Auf der anderen Seite geraten insbesondere diejenigen Erwerbspersonen in Langzeitarbeitslosigkeit, deren soziale Bindungen ohnehin schwach ausgeprägt sind. In der Arbeitslosigkeit soziale Kontakte zu knüpfen oder Bindungen herzustellen, fällt sehr schwer. Ein Teufelskreis wird sichtbar. Der Trend zur Individualisierung, den Ulrich Beck bereits in den achtziger Jahren hellsichtig, doch zu optimistisch beschrieben hat (Beck 1986) und der sich in den neunziger Jahren, angetrieben von den neuen Informationstechnologien und Kommunikationsmedien (Greffrath 2001), noch beschleunigt hat, verschärft die soziale Lage derer, die aus dem Erwerbsprozeß ausgegliedert werden. Die Lage der "Überzähligen" und "Überflüssigen" behindert bzw. verhindert den Aufbau sozialer Kontakte und das Knüpfen sozialer Netze. Denn nur derjenige ist heute stark auf den Märkten der Gesellschaft, der im Erwerbsleben seinen Mann oder seine Frau steht. Das gilt gleichermaßen für den Konsummarkt, den Heirats- und Partnerschaftsmarkt und den Arbeitsmarkt. Darauf bezugnehmend schreibt Zygmunt Bauman: Die "Sicherheitsnetze, selbstgeknüpft und instand gehalten, jene Rückzugslinien, die einst der nachbarschaftliche oder der Familienverband boten und hinter die man sich mit seinen Wunden aus den Scharmützeln auf dem freien Markt zurückziehen konnte, sind, wenn nicht ganz zerfallen, so doch zumindest erheblich geschwächt" (Bauman 1999: 46f.).
An Konstituierung und Verlauf von Ausgrenzungsprozessen am Arbeitsmarkt wirkt schließlich in ganz entscheidender Weise die wohlfahrtsstaatliche Politik mit. Institutionelle und rechtliche Regelungen strukturieren die Arbeitslosigkeit. Insbesondere den Interventionen und Weichenstellungen der Arbeitsmarktpolitik kommt bei der Regulierung und Organisation des Zugangs zum Erwerbssystem eine Schlüsselstellung zu. Die Arbeits- und Sozialämter sind maßgebliche Instanzen, die darüber bestimmen, welche Personengruppen welchen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen zugewiesen werden bzw. welche Personengruppen überhaupt noch integrative Angebote erhalten und welche nicht. Die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik eröffnet oder verschließt Zugänge zu Erwerbsarbeit. Das heißt auch, daß eine integrative Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik differenzierende und differenzierte - also selektive - Angebote voraussetzt. Ohne Selektion keine Integration und umgekehrt (vgl. Vogel 1999: 59ff.). Die Chancen des Marktzugangs und die Risiken des Marktausschlusses sind in starkem Maße politisch determiniert. Die Regelungen zum Vorruhestand, die den Arbeitsmarkt "entlasten", indem sie einer bestimmten Generation von Arbeitskräften den Rückzug aus dem Erwerbsleben mit mehr oder weniger sanftem Druck nahelegen, sind ein Beispiel für die politische Regulation des Arbeitsmarktes. Das gilt auch für die außerbetrieblichen Qualifikations- und Bildungsmaßnahmen. Die Frage, welche Gruppen der Erwerbsbevölkerung welche qualifizierenden Maßnahmen angeboten bekommen bzw. welche Gruppen überhaupt noch in solche Maßnahmen einbezogen werden, eröffnet oder verschließt Chancen bzw. Zugänge am Arbeitsmarkt. Am Beispiel der oben skizzierten erwerbsbiographischen Konstellationen von Langzeitarbeitslosen kann das politische Spannungsfeld von gezieltem Ausschluß, allmählicher Ausgliederung, Aufbewahren ohne Perspektive und gezielten Integrationsangeboten nachgezeichnet werden. Und gerade das Beispiel des ostdeutschen Transformationsprozesses zeigt, daß sich eine Soziallage "überzähliger" Erwerbspersonen nicht trotz, sondern aufgrund der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik herausgebildet hat. Die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern nach 1990 war von vornherein auf die Reduzierung der ostdeutschen Erwerbsbevölkerung und somit auf deren Strukturierung und Selektion angelegt. An den Strukturen des ostdeutschen Arbeitsmarktes bzw. Beschäftigungssystems läßt sich bis heute gut ablesen, in welchem Maße die institutionellen Arrangements der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der "Nachwendezeit" die Formen, den Umfang und die Struktur der Erwerbstätigkeit und der Nichterwerbstätigkeit prägen.

"Überflüssigkeit", "Überzähligkeit" - was sind die Folgen?
Jede Zeit kennt ihre prototypischen sozialen Figuren. Diese signalisieren neue soziale Ungleichheiten, sie markieren die Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und antizipieren den sozialen Wandel. Der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts brachte den "Proletarier" und den "Bourgeois" hervor. Die "glorreichen Jahre" des westeuropäischen Nachkriegskapitalismus prägten den Typus des "Arbeitnehmers" und des "Managers".
Doch welche sozialen Figuren betreten in der Epoche des flexiblen Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts die gesellschaftliche Bühne? Geben uns die "Überzähligen" und die "Überflüssigen" einen Blick in die Zukunft des Kapitalismus? Vieles spricht dafür. Doch sind sie auch Vorboten gesellschaftlichen Zerfalls? Kehren in der Epoche der Deindustrialisierung die "gefährlichen Klassen" des Industriezeitalters wieder? Vieles spricht dagegen. Zu unterschiedlich sind die Erwerbs- und Lebensgeschichten derer, die in die Randlagen der Arbeitsgesellschaft abgedrängt wurden. Zu sehr sind sie in den Kampf mit der materiellen und sozialen Organisation ihres prekären Alltags verstrickt, der nun maßgeblich von den Auseinandersetzungen und Konflikten mit Behörden und Institutionen bestimmt wird. Das Leben am Rande einer wohlhabenden Gesellschaft vereinzelt und bleibt weitgehend unsichtbar. Hierzu trägt auch die wohlfahrtsstaatliche Kontrolle und Steuerung dieser Verdrängungsprozesse bei. Zudem findet Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung heute im Unterschied zu den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht in einem Umfeld gesellschaftlicher Krise und wirtschaftlicher Depression statt, sondern in Zeiten nach wie vor relativ breiten materiellen Wohlstands. Die aktuelle Arbeitslosigkeit beunruhigt die Gesellschaft, aber sie bringt sie nicht aus der Fassung. Das gilt selbst im Falle der ostdeutschen Massenarbeitslosigkeit.
Gleichwohl, die Herausbildung einer Soziallage der "Überzählig- oder Überflüssigkeit", die sozialstrukturelle Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit bzw. die Verdrängungsprozesse aus dem Erwerbsleben bleiben nicht ohne Folgen für das soziale Gefüge und das politische Klima. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht. Das Auftreten des Sozialfiguren der "Überzähligen" und "Überflüssigen" wird in vielen Bereichen des Arbeitslebens von Statusunsicherheit und Angst vor dem sozialen und beruflichen Absturz begleitet. Der Druck auf die, die im Erwerbsleben stehen, wächst. Das gilt nicht für alle Beschäftigten gleichermaßen, aber doch für viele. Brüchige und verwundbare Beschäftigungsformen (befristete Beschäftigung oder Leiharbeit) gewinnen an Gewicht - nicht dramatisch, aber allmählich. Kollektive Gefühlslagen der Unsicherheit reichen mittlerweile bis weit in die Mitte der Arbeitsgesellschaft hinein. Die Diskussion um "soziale Verwundbarkeit" und "prekären Wohlstand" markiert soziale Fragilität und berufliche Gefährdung insbesondere in der "arbeitnehmerischen Mitte" der Gesellschaft (Vogel 2004). Gerade Beispiele aus den neuen Bundesländern zeigen, in welcher Weise mit Arbeitslosigkeit Politik gemacht wird. Das Aussetzen oder Aufkündigen tarifvertraglicher Regelungen, Lohndumping, die Durchsetzung von Leiharbeit oder die Bereitschaft zu überlangen Arbeitszeiten sind im Osten des Landes von der Ausnahme zur Regel geworden (Artus et al. 2000).
Zudem entfacht die zur Soziallage verfestigte Arbeitslosigkeit Verteilungskämpfe um knapper werdende wohlfahrtsstaatliche Mittel. Gerade die Mittelklassen, die seit den sechziger Jahren in besonderem Maße vom Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu profitieren vermochten, sehen nun ihre Besitzstände gefährdet und sind für jede "Faulenzer-Debatte" empfänglich, die Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger diskreditiert. Die Systeme sozialer Sicherung und Fürsorge werden von den im Erwerbssystem Etablierten in wachsendem Maße als ein sozialmoralisch zweifelhafter Kostenfaktor oder als ein Hemmschuh wirtschaftlicher Entwicklung thematisiert. Die "neue Mitte", deren sozialer Ursprung im kleinbürgerlichen Milieu der Arbeiterklasse oder des einfachen Dienstleistungspersonals liegt, sieht den Genuß der Früchte des eigenen Aufstiegs durch die dauerhafte Präsenz neuer Absteiger gefährdet. Das Institutionengefüge des Wohlfahrtsstaates steht nicht nur unter Finanzierungsdruck, sondern auch vor erheblichen Legitimationsproblemen. "Der Empfang von Sozialleistungen [hat sich, B.V.] von einer Ausübung bürgerlicher Rechte in das Stigma der Unfähigkeit und Sorglosigkeit verwandelt. ‚Nur für die wirklich Bedürftigen‘, abhängig von immer strengeren und demütigenderen Überprüfungen, verunglimpft als Belastung für den Steuerzahler, im öffentlichen Bewußtsein assoziiert mit Schmarotzertum, tadelnswerter Gleichgültigkeit, sexueller Freizügigkeit oder Drogenmißbrauch, verwandeln sich die Sozialleistungen immer mehr in die zeitgenössische Variante eines Lohns der Sünde - eines Sündenlohns, den wir uns nicht nur ,nicht leisten können‘, sondern für den wir auch keinen moralischen Grund sehen, warum wir ihn uns leisten sollten." (Bauman 1999: 70).
Und ein weiterer Punkt kommt hinzu. Die Existenz der "Überzähligen" hat eine politische Dimension, die weit über das engere Aufgabenfeld der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik hinausgeht. Mit dem periodischen oder dauerhaften Herausfallen aus dem Erwerbsleben droht die Gefahr einer Schwächung sozialer Kontrolle und sozialen Zusammenhalts. In den Debatten um die Zukunft und Vergangenheit der Erwerbsarbeit wird allzu oft übersehen, daß die regelmäßige Lohnarbeit und die Einbindung in Beschäftigung immer auch machtvolle Instrumente sozialer Kontrolle und Kohäsion waren. Die Erwerbsarbeit strukturiert die (Lebens-)Zeit, sie stiftet Sinn und stärkt den sozialen Zusammenhalt, ohne daß die dahinter stehenden Strukturen der Macht stets sichtbar sind (Dahrendorf 2000). Arbeit für alle bedeutete immer auch Kontrolle über alle; insbesondere über den männlichen Teil der Bevölkerung. Dessen Nichtbeteiligung am Erwerbsleben nährt seit jeher den Verdacht von Unordnung, Verbrechen und Verfall, von Rebellion und Renitenz. Das dauerhafte und regelmäßige Erwerbstätigsein sorgte hingegen für Eingliederung in ein betriebliches und gesellschaftliches Herrschaftsgefüge. Doch genau dieser Eingliederungsprozeß wird brüchig und steht im Zuge neuer Organisationsformen der Beschäftigung und infolge langfristiger Arbeitslosigkeit mehr und mehr in Frage. Die letzte Instanz allumfassender sozialer Kontrolle droht zu schwinden. In seinem Aufsatz "Globale Klasse und neue Ungleichheit" schreibt Dahrendorf: "Zuerst verloren die Kirchen ihre Kraft, dann die Familie, die Gemeinde, die Nation. Überall sind Gesellschaften den Weg von ständischen zu vertraglichen Bindungen gegangen. Am Ende war der Arbeitsvertrag fast die einzige noch übrig gebliebene Methode, um dem Leben von Menschen Struktur zu geben. In dem Maße, in dem das nicht mehr die Regel, ja für die meisten nicht mehr die Lebenserfahrung ist, entsteht eine gefährliche Leere." (Dahrendorf 2000: 1065) Die Frage ist nun, in welcher Weise und mit welchen politischen Praktiken diese "gefährliche Leere" aufgefüllt wird. Die Zeichen der Zeit deuten auf autoritative Praktiken. Das Spektrum reicht hierbei von Repressionen gegen Empfänger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen, die mit allen Mitteln in eine Erwerbsarbeit gezwungen werden, bis hin zu einer grundsätzlich "bestrafenden Sozialpolitik", die Wacquant für die USA beschreibt (Wacquant 2000). Diese "Formen des Autoritarismus" (Dahrendorf 2000: 1067), die zur Kontrolle der "Überzähligen" und des sozialen Niemandslandes der Dauerarbeitslosigkeit dienen sollen, führen - mehr oder weniger deutlich spürbar für alle - zu einer Lockerung der institutionellen, organisatorischen und rechtlichen Grundlagen demokratisch verfaßter Gesellschaften. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß sich die Folgen dieser Politik nicht auf das Arbeitsleben beschränken werden, denn die Infragestellung von Arbeitnehmerrechten wird auch die Stabilität allgemeiner Bürgerrechte nicht unberührt lassen.
Alles in allem rechtfertigt das Auftreten der Sozialfigur der "Überzähligen" zwar keine depressiven Szenarien gesellschaftlicher Desintegration oder gar Anomie. Die Gefahren sozialer Ausgrenzung konzentrieren sich bislang weitgehend auf bestimmte Milieus der Arbeiterschaft, auf absteigende Branchen und deindustrialisierte Regionen. Weder bilden sich hierzulande innerstädtische Ghettos, noch geraten Vorstädte außer Kontrolle. Dennoch sind seit den 90er Jahren mit Blick auf den Wandel der Erwerbsarbeit und auf die Strukturen der Arbeitslosigkeit bemerkenswerte Veränderungsprozesse in Gang gekommen. Vor allem, aber keineswegs ausschließlich im neuen Osten der Republik. Die "Kristallisationskerne" der neuen sozialen Frage, von denen Robert Castel spricht, treten in der de- und neoindustrialisierten Arbeits- und Beschäftigungslandschaft Ostdeutschlands nur besonders markant hervor (Vogel 1999; Willisch 1999). Im Unterschied zum Westen ist die Arbeitswelt dort sehr stark von Klein- und Mittelbetrieben geprägt. Sie kennt kaum tarifliche Bindungen, sie befindet sich weitgehend in ortsfremdem Eigentum, sie steht vor dem Problem der anhaltenden Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte und Auszubildender, sie weist eine breite Arbeitsmarktzone fragiler bzw. instabiler Beschäftigung und verfestigter Arbeitslosigkeit auf, und sie ist durchdrungen von kollektiven Gefühlen der Unsicherheit.
Liegt also im Kapitalismus des neuen Ostens die Zukunft des alten Westens? Das ist ungewiß. Gewiß ist aber, daß in Ost und West die Arbeitslosigkeit ihre gesellschaftliche Qualität verändert hat. Sie hat tiefe Spuren in den Biographien, im sozialen und politischen Klima sowie im Strukturgefüge der Erwerbsarbeitsgesellschaft hinterlassen. Die "Überzähligen" bzw. "Überflüssigen" als aktuelle Sozialfiguren der Arbeitslosigkeit repräsentieren ein weiteres Kapitel in der "Chronik der Lohnarbeit" (Castel 2000). In diesem Kapitel wird der historische Siegeszug der Lohnarbeit von der verdammten und verachteten Fron zum sozialen Glücksversprechen der Gegenwart sichtbar. Hieran bemißt sich aktuell die subjektive Dramatik der Arbeitslosigkeit - denn Anerkennung, Prestige und Wohlstand sind heute nur denen versprochen, die Zugang zur Erwerbsarbeit haben.

Literatur
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aus: Berliner Debatte INITIAL 15 (2004) 2 S. 11-21