Emanzipation der Lohnarbeit im 21. Jahrhundert

Utopie als politischer Kampfbegriff

Das Projekt einer linken Wahlalternative zu den Sozialdemokraten und Bündnisgrünen nimmt einen gewichtigen Teil in der kleinen linken Öffentlichkeit ein. ...

... Die Ablehnung der von der rot-grünen Regierungskoalition betriebenen Strukturreformen der "Agenda 2010" ist nach wie vor breit. In Meinungsumfragen wird die Politik des "Rückbaus" des Sozialstaates und der Beschneidung einer solidarischen Finanzierung der sozialen Sicherung von weit über zwei Dritteln aller Befragten abgelehnt. Doch daraus entstehen noch keine Mehrheiten für eine "andere Politik". Dazu wären neben der Verteidigung wichtiger sozialer Errunhenschaften wohl auch Perspektiven einer emanzipatorischen Politik von Nöten.

Während die Kritik am Sozialstaat seite Ende der 1970er Jahre zur programmatischen und praktischen Handlungsmaxime der wirtschaftlichen und intellektuellen Elite geworden ist, hat die Unterstützung für dieses System bei der Mehrheit der Lohnabhängigen zugenommen. "Diese Eliten wollen strukturelle Reformen, die Teil-Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, sie wollen die Entstaatlichung und Deregulierung und im Kern den Systemwechsel... Aber das Volk ist bockbeinig, will das nicht einsehen, hängt an der sozialen Sicherung und vertraut immer noch auf den Staat und öffentliche Leistungen." (Müller 2004) Es gibt trotz hartnäckiger Informationspolitik keine politische Legitimation für einen "Rückbau" oder gar für die Abschaffung des Sozialstaates.

Die Gewerkschaften protestieren vor allem gegen die Verschlechterung der sozialen Rechte und finanziellen Unterstützungszahlungen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern. In der sozialdemokratischen Wählerschaft und Partei äußert sich die Kritik in einem beträchtlichen Anstieg von Wahlenthaltung und Austritten aus der Parteiorganisation. Gleichwohl trifft der Versuch, eine politische Wahlalternative zur Politik von Grünen und Sozialdemokratie aufzubauen, auch auf Vorbehalte und mehr oder minder deutliche Kritik.

Aus der breiten Gemengelage dieser Kritik sollen hier drei Aspekte herausgegriffen werden:

1. Der Versuch des Aufbaus einer alternativen Wahlformation zur Sozialdemokratie wird als wenig erfolgreich eingeschätzt. Die Vertreter der Strukturreformen der Agenda 2010 setzen darauf, dass früher oder später nicht nur der Erfolg sichtbar wird, sondern der Durchbruch zu einer neuen Reformära auch zu einem Neubeginn in den Köpfen von jetzt noch kritischen BürgerInnen führen wird. Andere plädieren mit Blick auf die wahrlich systemsprengenden Umbaukonzeptionen der Parteien des bürgerlichen Lagers für eine Unterstützung der geringeren Übels. Optimisten rechnen schließlich mit Blick auf die lange Kette von verlorenen Wahlen mit einer linkspopulistischen Regeneration der Sozialdemokratie in der Opposition.

2. Die wachsende Distanz größerer Bevölkerungsgruppen zum politischen System (Repräsentativsystem und Legitimation durch Wahlen) schlägt sich heute vielfach in einer Ablehnung jedes Ansatzes nieder, über Parteistrukturen und Wahlformationen die Kritik auf die Ebene parlamentarischer Auseinandersetzungen zu heben. Die Perspektive könne nur der außerparlamentarische Protest und Widerstand sein. Jede Wahlformation tendiere zu einer Degeneration und Entfremdung wie bei anderen Parteien.

3. Ein Teil der Kritiker geht davon aus, dass wir es nicht mit einer der üblichen politischen "Krisen" in einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft zu tun haben. Auch Gewerkschaften haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts erhebliche Schwierigkeiten, eine Interessenvertretung der Lohnabhängigen in Betrieben und Verwaltungen oder deren gesellschaftspolitische Ansprüche umzusetzen. Bei den (sozialistisch-)sozialdemokratischen Parteien zeigen sich nicht nur programmatische Unsicherheiten über die Gestaltung der Zukunftsperspektive des Kapitalismus, sondern zugleich wird innerparteilich die Frage aufgeworfen, welche sozialen Schichten und Milieus überhaupt vertreten werden sollen. Der Entwicklung von linkssozialistischen Alternativen zu den sozialdemokratischen Parteienformationen wird wenig Chancen eingeräumt. So wie die PDS in Deutschland offenkundig von der breiten Protestbewegung nicht als politischer Bezugspunkt wahrgenommen wird, kommen auch in anderen europäischen Ländern die linkssozialistischen bzw. kommunistischen Alternativen über den Status von linken Splitterparteien nicht hinaus. Dadurch verfestigt sich rückwirkend die Marginalität dieser politischen Option, denn für die bekannten theoretisch-programmatischen und strategischen Grundsatzdebatten oder Streitereien wollen sich größere Teile der Protestbewegung nicht engagieren.

Die Schlussfolgerung aus dieser disparaten Kritik kann nicht darin bestehen, dem Prozess der Konzentration der politischen Willensbildung auf einen immer kleineren Kreis von Politikexperten und damit einer faktischen Entdemokratisierung tatenlos zuzusehen. Andererseits: Die politische Konstellation in den kapitalistischen Hauptländern ist komplex, einfache Antworten oder politische Lösungen kann es nicht geben. Der Widerstand gegen die Politik der Strukturreformen der Agenda 2010 ist beständig damit konfrontiert, den politischen Weg für eine noch rigorosere Umverteilungspolitik durch die Parteien des bürgerlichen Lagers freizumachen.

Perspektive der Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratie weist die Kritik, dass sie unbegründet eine Zerstörung des Sozialstaates und eines politisch regulierten Kapitalismus betreibe, zurück. Umfassende Strukturreformen seien schon längere Zeit überfällig gewesen und nur mit einem neuen, offensiven Politikstil durchzusetzen. Hinter dieser Konzeption steht die Überlegung: "Deutschlands Eliten haben zu lange über Symptome geredet und sich wechselseitig blockiert." (Machnig 2004: 30) Die Strukturreformen seien also kein Selbstzweck, sondern die Voraussetzung für eine Rückkehr zu wirtschaftlichem Wachstum und mehr noch für einen Aufbruch in eine neue Entwicklungsetappe. "In den nächsten Jahren werden wir auf marktwirtschaftlicher Grundlage ein Comeback des wirtschaftlich gestaltenden Staates in einer neuen, intelligenteren Form erleben... Die gegenwärtigen Sozialreformen werden von den Zielsetzungen der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte sowie der Lohnnebenkostenentlastung der Unternehmen geleitet. Dies sind zweifelsohne wichtige Rahmenbedingungen. Den Sozialstaat auf die Anforderungen der Wissensgesellschaft auszurichten, heißt aber in erster Linie, Selbständigkeit und Eigenverantwortung zu stärken. Kerngedanke eines aktivierenden Sozialstaates ist es, die Menschen zur eigenständigen Gestaltung der Biographie zu befähigen. Dies bedeutet, überholte Sicherheiten infrage zustellen, aber auch, unter den Flexibilitätsanforderungen der Wissensgesellschaft neue Sicherheiten zu bieten." (Machnig 2004: 38)

Vom Anspruch her gesehen, geht es bei der Politik der Strukturreformen - gleich ob in der sozialdemokratischen Variante oder in der radikalen Version der konservativ-bürgerlichen Parteien - um eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, um Ideen zur Zukunftsgestaltung. Auch die Kritiker dieser Strukturreformen - in den Gewerkschaften, den globalisierungskritischen Bewegungen oder den Initiativen für eine Wahlalternative - wollen nicht bei der bloßen Ablehnung stehen bleiben, sondern fordern einen radikalen Politikwechsel. Sozialdemokraten wie bürgerliche Parteien verfolgten seit Jahrzehnten im Grundsatz einen ähnlichen Politikansatz: Abbau der vermeintlich überholten Sicherheiten, ohne ein für alle Bevölkerungskreise finanzierbares neues System sozialer Sicherheiten anzubieten. Der soziale Zusammenhalt, die bisherige solidarische Absicherung gegenüber existenziellen Risiken der Lohnarbeit und das zivilgesellschaftliche Engagement werden der Flexibilität geopfert. Eine der absonderlichen Konsequenzen der Herrschaft des entfesselten oder flexiblen Kapitalismus ist, dass bei den unteren Schichten der Lohnabhängigen die soziale Sicherheit zurückgeschnitten wird, was selbst bei jenen besser situierten ArbeitnehmerInnen große Verunsicherung erzeugt, die sich über kapitalgedeckte Versicherungen und Vermögensanlage andere Formen der Sicherheit erschließen könnten. Zurecht notiert der amerikanische Sozialwissenschaftler Sennett, dass "die Fähigkeit für sich selbst zu sorgen, mehr ist als ein Geisteszustand; sie erfordert Geld, Status und Bildung." (Sennett 2000: 440) Wer darauf hinarbeiten will, dass künftig alle Menschen in den kapitalistischen Hauptländern die Gestaltung der Lebensverhältnisse eigenverantwortlich handhaben, der muss für entsprechende ökonomisch-soziale Rahmenbedingungen sorgen. Die erreichte Individualität basiert auf der bisherigen solidarischen Regelung von sozialer Sicherheit und Bildung. Es ist absurd, eine höhere Stufe der Eigenverantwortung anzustreben, indem man die bisherigen Formen der sozialen Sicherheit abschafft und die neuen Formen der Absicherung allein den Individuen und einer erfolgreichen Anlage auf den Finanzmärkten überantwortet.

Umgekehrt trifft die Vermutung auf breitere Resonanz, dass ein Teil jener Sozialdemokraten, die nach teilweise über zwanzigjähriger Mitgliedschaft die Partei verlassen, an einer bloßen Verteidigung des langjährigen Status quo interessiert sei. Eine bloße Wiederherstellung des überlieferten Sozialstaates kann es im Zeitalter des entfesselten oder flexiblen Kapitalismus aber nicht geben. Im Prinzip muss es um eine Neuerfindung des Sozialstaates unter den neuen Bedingungen gehen. Damit berühren wir den neuralgischen Punkt des widersprüchlichen Prozesses:

Die Sozialdemokratie befindet sich seit längerem im politischen Niedergang - die Mitgliederentwicklung und die generelle Tendenz bei den Stimmanteilen sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Eine politische Konzeption des Sozialstaates in Absetzung von jener der zurückliegenden fordistischen Entwicklungsetappe, aber auch in Konfrontation zum Staatsminimalismus des Neoliberalismus wurde nicht entwickelt.
Die linkssozialistischen oder reformkommunistischen Parteien Westeuropas haben das Scheitern der realsozialistischen "Experimente" weder programmatisch-politisch noch historisch-theoretisch verarbeitet. Diese westeuropäischen Parteiformationen mit ihrer eher traditionalistischen Kritik am Reformismus der Sozialdemokratie kommen über den Status von marginalisierten Minderheiten nicht hinaus. Einen politischen Zugang zum wachsenden Protest breiter Bevölkerungsschichten gegen die Entfesselung des Kapitalismus und die Zerstörung des Sozialstaates haben sie nicht entwickelt.
Mindestens die bundesdeutschen Versuche, eine Wahlalternative zu den Parteien des bürgerlichen Lagers und der Sozialdemokratie zu entwickeln, segeln mehr oder minder bewusst im bekannten Fahrwasser der sozialdemokratischen Politik und Tradition. Hier stellt sich dann die Frage, ob ein solcher Ansatz überhaupt tragfähig ist. Der langjährige Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche, selbst nach langer Mitgliedschaft aus der Sozialdemokratie ausgetreten, bringt die skeptische Sympathie vieler mit dem Projekt Wahlalternative 2006 und den an sie gestellten Anforderungen mit drei Argumenten auf den Punkt:

1. "Kurzum, das Land braucht eine soziale und emanzipatorische Alternative, auch zum Wohle der Demokratie. Enttäuschung und Resignation, die sich derzeit in Wahlenthaltung niederschlagen, können, durchsetzt von Abstiegsängsten, auch für rechtsextreme Botschaften empfänglich machen."

2. "Die PDS, so scheint es, kann diesen Part nicht übernehmen... Für das Projekt einer emanzipatorischen Entwicklung, die neben der sozialen Sicherung auch die freiheitlichen Chancen der gesellschaftlichen Veränderungen aufgreift, die in Bildung, Kultur und auch in der Arbeit die Individualität zu ihrem Recht kommen lässt - eine solche Zukunft verheißt die PDS derzeit nicht."

3. "Noch fehlt das linke, d.h. das soziale, emanzipatorische, ökologische und weltoffene Projekt. Erst die Vision einer besseren Zukunft schafft Identifikation, Anziehungskraft und die Bereitschaft mitzuarbeiten. Ein solches Projekt lässt sich jedoch weder dekretieren, noch am Schreibtisch oder in gelehrten Hinterzimmern entwickeln. Es kann nur das Ergebnis konkreter Auseinandersetzungen mit den Widersprüchen der herrschenden Politik, konkreter Konflikte und Aktionen und deren Verallgemeinerungen sein." (Hensche 2004: 13-16)

Diese Anforderung - wir brauchen ein realisierbares Zukunftsversprechen - drückt sein deutliches Unbehagen am gegenwärtigen Politikangebot aus: Die SPD habe ihren Hoffnungs- und Utopieüberschuss verloren, die PDS sah sich nie einer emanzipatorischen Entwicklung verpflichtet, aber auch die Bewegung zu einer Wahlalternative sei bislang ohne konkrete Utopie.

Die Linke zwischen Realpolitik und Utopieverlust

Auch innerhalb der Sozialdemokratie ist der Utopieverlust ein Thema. Der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachen, Sigmar Gabriel, ordnet die Debatte um ein neues Grundsatzprogramm der SPD im Wesentlichen als Erneuerung einer sozialdemokratischen Utopie ein: "Ob Mitglieder oder Wählerinnen und Wähler: Zu allen Zeiten haben die Menschen von uns ein Zukunftsversprechen erwartet... Zur Zeit kommen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten häufig eher als ›Techniker der Macht‹ daher denn als Teil einer Emanzipationsbewegung... Machterringung an sich und ihr Erhalt ist für die Mitglieder und Wählerinnen und Wähler der SPD kein Ziel, für das engagiert geworben, gestritten und gerungen wird. Erst der ›Hoffnungsüberschuss" auf eine bessere Zukunft weckt den Kampfes- und Mehrheitswillen in der SPD." (Gabriel 2004: 19f.) Dass die SPD ihre alte Utopie verloren hat, liege letztlich an der Globalisierung. Die bisher verfolgte Strategie zur Emanzipation - Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums - greife im nationalen Rahmen nicht mehr. "Im Gegenteil: Die auf dieser Strategie aufbauenden Strukturen und Systeme der sozialen Sicherung sind selbst zum Hindernis einer emanzipatorischen Entwicklung für viele Menschen in unserer Gesellschaft geworden... Statt den Menschen Freiheit und Gerechtigkeit zu sichern, erleben diese die staatlichen Institutionen häufig als Hindernisse und Einschränkungen von Kreativität, Dynamik und Gestaltungswillen." (ebd.: 23)

Die angedeutete Schlussfolgerung aus diesem Utopieverlust: Die neue Sozialdemokratie müsse sich einem neuen Sozialstaat verpflichten, in dem persönliche Leistung, Eigenvorsorge und individuelle Entscheidungsfreiheit im Zentrum stehen. Wenn aber die Kapitalakkumulation und damit die Steuerungsfunktion der Märkte aufgewertet wird, die grundlegenden Existenzrisiken wieder in die Hände der Einzelnen gelegt werden, dann verstärkt sich die soziale Differenzierung und Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen. Auf diese Weise dürfte ein aus dem Ziel der Emanzipation der eigentumslosen Schichten resultierender Hoffnungsüberschuss nicht zu entwickeln sein. Umgekehrt stellt sich aber auch die Frage, ob eine neue Linkspartei einfach die von der Sozialdemokratie aufgegebene Utopie übernehmen kann.

Erneuerung der utopischen Energien?

Die These von der Erschöpfung des Hoffnungsüberschusses und der Reduktion des Projektes der europäischen Sozialdemokratie auf bloße "Machttechnik" hat durch Habermas eine sozialphilosophische Begründung erfahren. Bereits 1984 konstatierte er: "Die Sozialstaatsentwicklung ist in eine Sackgasse geraten. Mit ihr erschöpfen sich die Energien der arbeitsgesellschaftlichen Utopie." (Habermas 1984: 157) Für Habermas hat das utopische Denken nach wie vor eine wichtige Funktion, insofern es - in Absetzung vom erfahrungsgesättigten historischen Denken - überhaupt erst eine Zeitdiagnose und die Bewegung eines Zeitgeistes ermöglicht und so die Voraussetzung schafft, "Handlungsalternativen und Möglichkeitsspielräume zu erschließen, die über die geschichtlichen Kontinuitäten hinausschießen." (ebd.: 142) Angesichts des Problemgebirges an der Schwelle des 21. Jahrhunderts - Hochrüstung, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Verarmung des Südens, Massenarbeitslosigkeit, Umweltbelastungen und unbeherrschbare moderne Technologien - wäre es ein folgenreicher Fehlschluss, auf ein Ende des utopischen Denkens überhaupt zu spekulieren. Die Veränderung des Zeitbewusstseins und die verbreitete Ratlosigkeit indizieren etwas anderes: "An ein Ende gelangt ist vielmehr eine bestimmte Utopie, die sich in der Vergangenheit um das Potential der Arbeitsgesellschaft kristallisiert hatte." (ebd.: 145)

Die Konzeption einer politisch und sozial emanzipierten Arbeit hat sicherlich nicht nur die Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt, sondern die europäische Arbeiterbewegung inspiriert und sich in gesellschaftlich dominanten Zielvorstellungen und Programmatiken niedergeschlagen. Zwar hat sich - so Habermas - über diverse Schritte der Humanisierung der Lohnarbeit und der Zivilisierung der Kapitalakkumulation der utopische Kern einer sozialen Emanzipation und Revolutionierung der Lohnarbeit verflüchtigt, aber die Grundkonstellation dieser arbeitgesellschaftlichen Utopie lebt in der Sozialstaatsprogrammatik weiter. Wenn schon die Entfremdung der Lohnarbeit nicht vollständig aufgehoben werden kann, dann müssen zumindest die Grundrisiken der Lohnarbeit (Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Sicherheit im Alter) und die Garantie der Vollbeschäftigung im gezähmten Kapitalismus verwirklicht sein. "Für Belastungen, die mit einem gepolsterten Status abhängiger Erwerbsarbeit immer noch verknüpft sind, wird der Bürger in seiner Rolle als Klient wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien mit Rechtsansprüchen, und in seiner Rolle als Konsument von Massengütern mit Kaufkraft entschädigt. Der Hebel für die Befriedung des Klassenantagonismus bleibt also die Neutralisierung des im Lohnarbeiterstatus angelegten Konfliktstoffes." (ebd.: 148)

Rückblickend ist unstrittig, dass die Sozialstaatsentwicklung im Kontext von wachsenden Problemen der Kapitalakkumulation in eine politische Sackgasse geraten ist. Fakt ist auch, dass die Steigerung der Arbeitsproduktivität im Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung steht, d.h. die gesamtgesellschaftlich notwendige Arbeitszeit geht zurück, so "dass trotz des säkularen Trends der Arbeitszeitverkürzung immer mehr Arbeitskräfte freigesetzt werden." (ebd.: 149)

Seit Habermas auf den sich abzeichnenden Umschlag im Zeitgeist aufmerksam gemacht hat, debattiert die politische Linke, wie man zu einer gesellschaftlichen Steuerung und Zähmung der Kapitalakkumulation zurückfinden kann. Der Prozess der Verflüchtigung der arbeitsgesellschaftlichen Utopie zeigt sich letztlich praktisch in einer Abkehr der Sozialdemokratie von der Programmatik des Sozialstaates. Je länger die Massenarbeitslosigkeit ihre zersetzende Erosion der sozialstaatlichen Institutionen entfaltet, desto absurder und kontraproduktiver werden die politischen Therapien. Heute zeichnet sich die weitgehende Entfesselung der Kapitalakkumulation, die Privatisierung der Risiken im Lohnarbeitsverhältnis und die Kommodifizierung aller öffentlichen Güter und allgemeinen Dienstleistungen ab. Der säkulare Trend zur Arbeitszeitverkürzung hat sich verflüchtigt und - entgegen allen Warnungen des Alltagsverstandes - sucht die Politik (auch die sozialdemokratische Politik) in der Verlängerung der Arbeitszeit einen Ausweg aus der politischen Sackgasse.

Habermas betont die Unübersichtlichkeit: "Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus." (ebd.: 161) Auf absehbare Zeit gilt es in der Wüste zu überleben und bislang lag er mit dieser Prognose richtig. Für ihn wäre überhaupt nur eine Fortsetzung der arbeitsgesellschaftlichen Utopie vorstellbar, die aber angesichts der sozialstaatlichen Entfremdung und der Umweltproblematik nicht realistisch und realisierbar ist: die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens. Seit den 1980er Jahren debattiert die politische Linke entlang dieser Linie - ist Vollbeschäftigung überhaupt möglich und wünschbar oder muss mit der Einführung eines garantierten BürgerInneneinkommens die Erschöpfung der utopischen Energien endlich durchbrochen werden. Im entfesselten Kapitalismus - so Habermas - kann es "nicht mehr um die Einfriedung einer zur Norm erhobenen Vollzeitbeschäftigung gehen. Ein solches Projekt dürfte sich nicht einmal darin erschöpfen, durch Einführung des garantierten Mindesteinkommens den Bann zu brechen, den der Arbeitsmarkt über die Lebensgeschichte aller Arbeitsfähigen verhängt... Dieser Schritt wäre revolutionär, aber nicht revolutionär genug - sogar dann nicht, wenn die Lebenswelt nicht allein gegen menschenunwürdige Imperative des Beschäftigungssystems abgeschirmt werden könnte, sondern gegen die kontraproduktiven Nebenfolgen einer administrativen Daseinsvorsorge im ganzen." (ebd.: 157)

Seit Habermas vor dem Hintergrund der anhaltenden Sozialstaatskritik der wirtschaftlichen und politisch-intellektuellen Elite die Erschöpfung der arbeitsgesellschaftlichen Utopien zum Thema erhoben hat, beherrscht der Widerspruch zwischen Emanzipation in der Lohnarbeit und Emanzipation gegen die Lohnarbeit die Debatte. Die Forderungen nach einem existenzsichernden Grundeinkommen (Existenzgeld) sind angesichts der hohen Produktivität, dem wachsenden Vermögen und Vermögenseinkommen einerseits und der sozialen Spaltung und der Armut andererseits plausibel. Andererseits kann dieser Widerspruch nur aufgelöst werden, indem die Arbeitszeit verkürzt, die Erwerbsarbeit verallgemeinert, die Bedingungen der Arbeit radial verändert und im Kontext der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen entfremdeter Arbeit eine gesellschaftliche Kontrolle und Steuerung der Reichtumsproduktion entwickelt wird.

Die Wüste lebt

Im Zentrum des Problems der hochentwickelten kapitalistischen Metropolen steht die Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Die Gesellschaften sind potenziell wohlhabend, können aber mit den aus der hochproduktiven Arbeit resultierenden Effekten - Arbeitslosigkeit, Verteilung von Arbeitseinkommen und Profit (Vermögen) sowie ökologischen Belastungen - nicht umgehen. Während Habermas aus dieser Konstellation auf eine Erschöpfung der arbeitsgesellschaftlichen Utopie schließt, plädiert Negt auf eine Rückbesinnung: "Die Arbeitsproduktivität steigt ... gerade in den letzten 20 Jahren in einem Maße, dass demgegenüber die Arbeitszeitverkürzung höchst minimal ausfällt... Gemessen am tatsächlich produzierten gesellschaftlichen Reichtum... steht der qualitative Sprung in der Verkürzung der Arbeitszeit noch aus... Da dieser Rückstand der Arbeitszeit gegenüber der tatsächlichen Reichtumsproduktion jedoch noch nicht allgemein ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, bedarf es einer Rückbesinnung auf Arbeitsutopien, welche die Geschichte des Kapitalismus wie Schatten begleiten." (Negt 2001: 440)

Es ist also strittig, ob wir es mit einer Erschöpfung der Arbeitsutopie zu tun haben, oder ob das Problem darin liegt, dass in den entwickelten Gesellschaften keine umfassende Kulturdebatte geführt wurde und daher die kapitalistische Durchrationalisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche zu einer Rückständigkeit des öffentlichen Bewusstseins geführt hat. Die von einem betriebswirtschaftlichen Blick durchtränkte Ideologie erfasst alle Seiten des Alltags, sodass die gesellschaftliche Kontrolle und Steuerung der Gesamtökonomie auf der Strecke bleibt. Die These von der Rückbesinnung auf die Arbeitsutopie speist sich aus den Chancen einer gesellschaftlichen Verständigung - einer neuen Kulturdebatte - über den Sinn und die Reichweite kapitalistischer Verwertung. "Die Ökonomisierung dieser gesellschaftlich notwendigen Arbeit scheint heute kein Problem mehr zu sein; die rationelle Gestaltung des Arbeitsprozesses ist, was die technischen Regelungen des Stoffwechsels mit der Natur betrifft, so weit vorangetrieben, wie sich Marx das nie hätte träumen lassen. Ein Problem ist dagegen die gemeinschaftliche Kontrolle der Menschen über diese Prozesse, das Brechen der blinden Macht der gegenständlichen Welt, die der lebendigen Arbeit die Regeln des Vollzugs vorschreibt, und vor allem die Frage nach den für die menschliche Natur würdigsten Bedingungen, unter denen produziert wird." (Negt 2001: 442)

Das emanzipatorische Projekt des 21. Jahrhunderts

Die neue Sozialdemokratie wird noch lange auf der Suche sein nach einer modernen sozialdemokratischen Erzählung, einem neuen Hoffnungsüberschuss. Sie will den Bezug auf die bisherige Arbeitsutopie als Kompass des Emanzipationsprojektes der Gewerkschafts- und Arbeitsbewegung nicht mehr, ohne einen Bezug auf eine neue Utopie auch nur andeuten zu können. Sie versteht nicht, dass das Kapital in den zurückliegenden Zeiten durch enorme Produktivitätssteigerungen die Voraussetzungen für eine Kontrolle und Steuerung des gesellschaftlichen Reichtums geschaffen hat. Weil die Sozialdemokratie sich von einer Politik der Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse, der kollektiven Absicherung von existenziellen Risiken der Lohnarbeit und eines breiten Angebots an öffentlichen Gütern und Dienstleistungen abwendet, muss ein radikaler Politikwechsel mit einer neuen politischen Formation vertreten und vorangebracht werden. Das Programm eines entschiedenen Politikwechsels orientiert sich an der Arbeitsutopie und dem zentralen Stellenwert der Arbeitszeitverkürzung (vgl. dazu Herbert Schui in diesem Heft).

Die Behauptung, wir lebten in kapitalistischen Hauptländern wie Deutschland über unsere Verhältnisse, ist falsch. Das soziale Hauptproblem ist die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und das Hauptproblem der deutschen Wirtschaft ist ihre anhaltende Wachstumsschwäche. Beide Probleme haben weder mit Globalisierung noch mit Demografie etwas zu tun. Sie sind hausgemacht und stehen in einem ursächlichen Zusammenhang. Wichtigste Quelle dieser Probleme ist die Fehlentwicklung in der Verteilung dessen, was unsere Gesellschaft Jahr für Jahr erwirtschaftet. Wenn in dieser Gesellschaft keine soziale Steuerung der mit der Arbeitsproduktivität verbundenen Effekte etabliert wird, droht infolge von klassenmäßiger Spaltung, politischer Entmündigung und Entdemokratisierung erneut der Absturz in eine Spirale der Selbstzerstörung der bürgerlichen Zivilgesellschaft. Größer werdende Teile des produzierten Reichtums wandern in die Taschen der vermögenden Minderheit, statt im gerechten und ausgeglichenen Verhältnis der Allgemeinheit und damit der Mehrheit in der Gesellschaft zugute zu kommen. Politikwechsel heißt daher: Steuergerechtigkeit, Schaffung sinnvoller Arbeitsplätze, solidarische Finanzierung öffentlicher Leistungen.

Status der Lohnarbeit und seine Zerstörung

Die entscheidende Veränderung in der historischen Entwicklung der kapitalistischen Hauptländer vollzog sich nach langwierigen gesellschaftlichen Konflikten im Status der Lohnarbeit, damit im Verteilungsverhältnis zwischen notwendiger und Surplusarbeit oder im Verhältnis der Klassen. Hat sich die persönliche Freiheit der Arbeiter und damit die Lohnarbeit in den kapitalistischen Hauptländern auf nationalem Maßstab durchgesetzt, verändert sich mit ihrer Selbstorganisation in Gewerkschaften zunächst ihre ökonomische Position in der Verteilungsauseinandersetzung und nach und nach auch ihre politische Position. T.H. Marshall fasste die mit Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Periode folgendermaßen zusammen: "Sie sah die ersten großen Fortschritte sozialer Rechte, die deutliche Veränderungen der egalitären Prinzipien, wie sie im Staatsbürgerstatus zum Ausdruck kamen, beinhalteten. Das Ansteigen der ungleich über die sozialen Klassen verteilten Geldeinkommen veränderte die wirtschaftliche Distanz, die diese Klassen voneinander trennte... Zweitens stauchte ein immer stärker gestaffeltes System direkter Besteuerung die gesamte Skala verfügbarer Einkommen zusammen. Drittens ermöglichte die Massenfertigung für den Binnenmarkt ... den weniger Wohlhabenden die Teilhabe an einer materiellen Kultur, deren Qualität sich im Unterschied zu früher weniger deutlich von der der Reichen absetzte. Das alles veränderte auf grundlegende Weise den Rahmen, in dem sich der Fortschritt der Staatsbürgerrechte abspielte." (Marshall 1992: 66)

Im 20. Jahrhundert hat sich das Lohnarbeitsverhältnis nach und nach "zu einer stabilen gesellschaftlichen Position entwickelt, mit der Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche verbunden wurden, die geeignet waren, einen gesellschaftlichen Bürgerstatus zu begründen. Diese Verknüpfung von Arbeit und sozialer Sicherung kann als die große Innovation der Erwerbsgesellschaft gesehen werden." (Castel 2001) Das Arbeitseinkommen (Lohn) entspricht nicht mehr nur einem Entgelt für die unter der Regie des Kapitals verrichtete Arbeitszeit, sondern stellt eine neue Form von gesellschaftlichem Eigentum dar, durch das die existenziellen Risiken wie Krankheit, Arbeitsunfälle, Arbeitslosigkeit und Altersversorgung sozial abgesichert werden. Es handelt sich zunächst um einen sozialen Status für Lohnabhängige, der allerdings auch eine existenzielle Mindestsicherung (Mindestlohn) oder Existenzsicherung im Falle der Nicht-Arbeit (soziale Mindestsicherung) einschließt. "Bis annähernd zum Beginn der 70er Jahre konnte man ... beobachten, wie das Lohnarbeitsverhältnis durch Ausweitung kollektiver Regelungen konsolidiert wurde, durch kollektive Vereinbarungen, kollektive Rechte in Bezug auf Arbeit und soziale Sicherheit, starke Präsenz der Gewerkschaften, starke Präsenz des Staates Kompromisse zwischen mächtigen kollektiven Akteuren und dergleichen. Man konnte damals insoweit von einem Kompromiss sprechen als mächtige kollektive Akteure in der Lage waren, den Marktmechanismen die Stirn zu bieten." (ebd.)

Dieser Klassenkompromiss basiert auf einer bestimmten gesellschaftlichen Betriebsweise (fordistisch-tayloristisches Produktionsmodel), einem Modus der sozialen Regulierung von Kapital- und Arbeitsmärkten und redistributiven Sozialtransfers. Für die hochentwickelten kapitalistischen Länder galt die Konzeption einer "contervailing power" (Galbraith) und zwar gerade auch auf dem Terrain der Ökonomie. "In der heutigen westlichen Gesellschaft läuft die Nettobilanz des Staatshaushaltes regelmäßig auf eine beträchtliche Einkommensumverteilung zugunsten der Arbeiter und der ärmeren Schichten überhaupt hinaus, die unterdessen gelernt haben, die Wahlurnen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Gleichermaßen wird den Arbeitnehmern Absicherung gegen die Folgen der Konjunkturschwankungen gewährt, und das Anwachsen der Staatsausgaben ist zu einem Großteil auf die Ausweitung der Sozialleistungen zurückzuführen. Umgekehrt spricht aber auch vieles dafür, dass die Unternehmerklasse, sobald die Existenz des kapitalistischen Systems bedroht ist, fähig ist, ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, um dessen Stabilität sicherzustellen." (Pollard 1952: 185) Die mächtigen Wirtschafts- und Sozialinteressen und ihre Gegenkräfte sorgen über den Einfluss innerhalb des politischen Systems dafür, dass keine ruckartigen Veränderungen bei sozialen Besitzständen oder im Kräfteparallelogramm stattfinden. Dieser Kompromiss wird seit den letzten drei Jahrzehnten zunehmend in Frage gestellt. Freilich gilt es auch festzuhalten, dass ein großer Teil der politischen Linken die epochemachende Veränderung der Lohnarbeitsgesellschaft nicht verstand und folglich mit der seit der Überakkumulationskrise der 1970er Jahre einsetzenden Zerstörung nicht zurande kommt.

Die fortschreitende Rückbindung von Lohnarbeit an ein flexibles Produktions- und Akkumulationsmodell erzeugt zudem eine Reihe von Desintegrationserfahrungen. Diese Erfahrungen schlagen sich individuell-biografisch in Anerkennungszerfall, Befürchtung eines sozialen Abstiegs (sowohl für das Individuum wie die nachfolgende Generation) und Zukunftsängsten nieder. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang: Auch wenn der gesellschaftliche Wandel in der Regel nicht verstanden wird, so wirkt doch der Veränderungsprozess nicht an sich bedrohlich, sondern die Tatsache, dass die Dynamik und Richtung dieses Prozesses offenkundig nicht reguliert und gesteuert wird. Zugespitzt kann man sagen, dass wir mit einer verschränkten Krisenerfahrung auf drei Ebenen konfrontiert sind.

Die betrieblichen Erfahrungen von Leistungsdruck, Konkurrenz und Zukunftsängsten konstituieren heute das Alltagsbewusstsein vieler Lohnabhängiger. Die Verarbeitung und Deutung dieser Krisenerfahrungen ist geprägt von Ohnmachtsgefühl. Viele Strukturen des modernen Kapitalismus werden häufig nur personalisierend interpretiert. Die Regel bei der Deutung der Entwicklungen und Strukturbrüche sind Ausflüchte, Wunschprojektionen, Klischees und Stereotype.
Der Leistungsdruck, die unübersehbare Entsolidarisierung und die Ohnmachtsgefühle gegenüber dem Wandel der gesellschaftlichen Machtverhältnisse schlagen sich in der Regel in der Vorstellung einer als ungerecht empfundenen Verteilung von Lasten und Vergünstigungen nieder. Selbst die oberen Schichten der Lohnabhängigen teilen den Eindruck einer fortbestehenden Gerechtigkeitslücke. Der ökonomisch vermittelte Leistungsdruck und die weitgehend als undurchsichtig empfundene Umverteilungsstruktur des gesellschaftlichen Reichtums auf überbetrieblicher Ebene bilden das Unterfutter für ein soziales Klima, in dem soziale Beziehungen und Konflikte in ethnische und kulturelle umgedeutet und dadurch mit Vorurteilen aufgeladen werden. Anders als in früheren Ausbrüchen von Rechtspopulismus ist der Antisemitismus nur ein untergeordnetes Moment und die dominante Bewusstseinform ist eine Verknüpfung von Verteilung und Fremdenfeindlichkeit in seinen verschiedenen Facetten.
Es dominiert die Vorstellung, dass die Lohnabhängigen in der politischen Arena ohne die früher übliche Repräsentanz sind. Die Politiker erfüllten heute nicht einmal mehr die Funktion der Reparaturen im bestehenden politischen System. Politik werde heute auf dem Rücken der "kleinen Leute" ausgetragen. Wir erleben eine massive Absage an das Engagement bei der politischen Willensbildung. Keine beruhigenden Aussichten für eine demokratische Gesellschaft.

Vom Zorn über den gesellschaftlichen Widerstand zur Utopie

Die tiefgreifende Entfremdung zwischen Zivilgesellschaft und politischem System schafft eine labile politische Konstellation, die jederzeit durch rechtspopulistische Parteien und Bewegungen aufgebrochen werden kann. Deshalb brauchen wir politische Initiativen, die die Bereitschaft der BürgerInnen, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, fördern. Wir brauchen neue politische Formationen, die die politische Linke zusammenführen und ihre Alternativen im politischen Raum vertreten. Dabei kann es allerdings nicht darum gehen, nur den Platz der "alten Sozialdemoratie" einzunehmen, weil deren Niedergang entscheidend damit zu tun hatte, dass die Veränderungen in den Arbeits-und Lebensbedingungen die sozialdemokratischen Milieus aufgelöst haben. Für die Fortsetzung des Projekts der politischen und sozialen Emanzipation ist es deshalb unerlässlich, eine den neuen Bedingungen ensprechende politische Kultur zu entwickeln. Dabei gilt es die Erarbeitung und Verbreitung von Alternativen zur Agenda 2010 mit der Perspektive sozialer Emanzipation zu verbinden.

Detlef Hensche hat Recht mit dem Hinweis, dass das emanzipatorische Projekt das Ergebnis konkreter Auseinandersetzungen mit der herrschenden Politik, konkreter Konflikte und Aktionen ist. In diesen Konflikten orientieren wir uns an der Grundsubstanz der Arbeitsutopie, die im 19. und 20. Jahrhundert der Bezugspunkt aller politisch-gewerkschaftlichen Anstrengungen zur Emanzipation der Lohnarbeit war. Wir gehen dabei von der Überlegung aus, dass es eine der zivilisatorischen Seiten des Kapitals ist, dass es die Arbeitsproduktivität steigert, dass es Surplusarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der Entwicklung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Schöpfung der Elemente für eine höhere Form der Gesellschaftlichkeit vorteilhafter sind als in den früheren Formen der Sklaverei, Leibeigenschaft usw. Das Kapital führt - wie wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehen - eine Stufe herbei, wo einerseits der Zwang und die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung mit ihren materiellen und intellektuellen Vorteilen für einen Teil der Gesellschaft auf Kosten des anderen wegfallen können; anderseits hat es dadurch die materiellen Mittel und damit den Keim zu Verhältnissen geschaffen, die es erlauben, in einer höheren Form der Gesellschaft die Surplusarbeit mit einer größeren Reduktion der der materiellen Arbeit gewidmeten Zeit überhaupt zu verbinden. Entscheidend für die gesellschaftlich organisierte Kombination von Surpluszeit und Aufwendungen für das Reich der Notwendigkeit ist die Reduktion des Arbeitstages.

Massenarbeitslosigkeit ist durch Lohnsenkung, Arbeitszeitverlängerung und weitere Verschlechterung von Arbeitsbedingungen nicht aufzuheben. Im Gegenteil: Die private Nachfrage und damit die wichtigste Säule der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage sinkt weiter. Es müssen also andere Wege beschritten werden. Dabei kommt den Gewerkschaften und der Politik eine wesentliche Rolle zu. Die Fähigkeit der Gewerkschaften zur Durchsetzung von angemessenen Einkommensforderungen und zur Durchsetzung von Arbeitszeitverkürzungen schafft die Grundlage für erhöhten privaten Konsum und in der Folge beschäftigungswirksamer Effekte.

Die wachsende Produktivität lässt sich nutzen:

für deutliche Arbeitszeitverkürzungen bei gleichem Lohn.
für ein höheres Realeinkommen.

Damit wird die Arbeitsproduktivität wiederum zur wesentlichen wirtschaftlichen Grundlage des Sozialstaates des 21. Jahrhunderts. Sie ermöglicht steigende Einnahmen für öffentliche und soziale Kassen und stellt sicher, dass ein umfassendes System sozialer Sicherung entwickelt wird und allgemeine, öffentliche Aufgaben wahrgenommen werden können.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen verweisen also auf ein neues Zeitalter der Lohnarbeit, falls gesellschaftlich ein neues Regulationsmodell durchgesetzt werden kann. "In diesem Zeitalter werden Gesellschaft, Wirtschaft und Politik grundsätzlich von dem Zentralproblem her bestimmt, die Arbeitsvermögen der Einzelnen auszubilden, zu pflegen und zu nutzen sowie die mit diesem Arbeitsvermögen verbundenen Rechte anzuerkennen. Dieses Zeitalter wird gleichzeitig ein Zeitalter der öffentlichen Güter und maßgeblich durch die Arbeit der Menschen an Menschen, an ihrer Gesundheit, Bildung und kulturellen Entfaltung geprägt sein." (Hengsbach/Möhring-Hesse 2002: 233) Bedingung für dieses Zeitalter des Arbeitsvermögens ist also: Überschreitung des Horizontes der Lohnarbeit, radikale Veränderung der Verteilungsverhältnisse, gesellschaftliche Steuerung der Produktion und eine grundlegende Reform von Politik und öffentlichem Sektor. In diesem Sinne gilt die These in der von Marx formulierten Arbeitsutopie weiter: "Die Reduktion des Arbeitstages ist die Basis" - die Basis für eine neue Entfaltung der Zivilgesellschaft und der politischen Kultur der Gesellschaftsmitglieder; die Basis dafür, die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung mit ihren materiellen und intellektuellen Vorteilen für einen kleinen Teil der Gesellschaft, die wirtschaftlichen Eliten und die Vermögenden, auf Kosten der großen Mehrheit aufzuheben. Die Verkürzung des Arbeitstages schafft die Bedingungen dafür, die Surplusarbeit, d.h. die Steigerung der Arbeitsproduktivität, so umsetzen, dass eine optimalere Bedürfnisbefriedigung aller Gesellschaftsmitglieder verbunden werden kann mit einer weiteren Reduktion der der materiellen Arbeit gewidmeten Zeit überhaupt. Die assoziierten Produzenten können ihren Stoffwechsel mit der Natur rationeller regeln als je zuvor, sie bringen ihn unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle und werden von ihm nicht mehr als einer blinden, verselbständigten Macht beherrscht; das weiter existierende Reich der Notwendigkeit wird mit dem geringsten gesellschaftlichen Kraftaufwand und unter den der menschlichen wie sonstigen Natur würdigsten Bedingungen vollzogen.

Literatur
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Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus. Letzte Buchveröffentlichung: "Entfesselter Kapitalismus. Transformation des europäischen Sozialmodells", Hamburg 2003.

aus: Sozialismus 7-8/2004