Das Doppelleben der Schere

Ökonomische Realitäten und der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2004

Mittlerweile ist es schon zur Tradition geworden. Auch in diesem Jahr legte die Bundesregierung ihren Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit im September vor.

Der Bericht 2003, der erstmalig vom Bundesminister Stolpe vorgelegt wurde, unterschied sich schon mal wohltuend von denen seines Vorgängers Rolf Schwanitz (SPD): realistischer und differenzierter in der Analyse und nicht schon wieder der Verweis auf die für alles verantwortlich gemachte "Misswirtschaft" der DDR.

Wer in diesem Jahr eine Fortführung dieser positiven Ansätze erwartet hatte, wurde enttäuscht. Zwar sind in dem neuen Bericht umfangreiche statistische Angaben zur ökonomischen Situation Ostdeutschlands, mehrere Erfolgsstories, die sich insbesondere auf die Entwicklung innovativer Zentren, die Dynamik des verarbeitende Gewerbes, den Ausbau des Tourismus, den Stadtumbau und Infrastrukturprojekte beziehen, sowie eine Vielzahl konkreter, unterstützenswerter Vorschläge zu finden. Trotzdem macht die Lektüre unzufrieden. Ärgerlich sind Grundmängel des Berichts.

Erstens: Der Bericht ist durch Schönfärberei gekennzeichnet. Grundsätzliche Probleme werden weggelassen. So wird versucht, das Scheitern der ökonomischen Ost-West Angleichung mit verschiedenen Tricks umzudeuten. Tritt die deutsche Wirtschaft auf der Stelle, glauben die Berichterstatter aus der minimalen Wachstumsdifferenz zwischen Ost und West im Jahre 2003 (+ 0,2% Ost, - 0,1% West) ihren Lesern ein tendenzielles Schließen der Schere zwischen Ost und West weiß machen zu können. Damit setzen sich Stolpes Referenten über die zum Zeitpunkt der Vorstellung des Berichts bekannte Tatsache hinweg, dass das Wirtschaftswachstum im ersten Halbjahr 2004 in den neuen Ländern niedriger lag als in den alten. Auch die für Ostdeutschland ungünstigen Prognosen für das gesamte Jahr 2004 sowie für 2005 haben die Behörde nicht interessiert.

Unredlich und im ökonomischen Kern falsch ist die Feststellung: "Das Wachstumstempo hat sich in den neuen Bundesländern ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre sogar noch beschleunigt." (S. 12) Grundlage für diese Behauptung ist bei der Berechnung des BIP das Aussparen eines ganzen Wirtschaftsbereichs, nämlich des Baugewerbes. Auch die Wahl des Basisjahres 1991 ist unter dem Gesichtspunkt des erwünschten Ergebnisses erfolgt. 1992 wäre für die Rechenschaft von Nachteil gewesen, da der wirtschaftliche Rückgang des verarbeitenden Gewerbes gegenüber dem letzten DDR-Jahr erst in dieser Zeit seinen Tiefpunkt erfuhr. Ein realistischer Vergleich müsste die Zeiträume 1993-1995 und 1996-2003 gegenüberstellen. Ein solcher Vergleich (ohne Baugewerbe) führt zum entgegengesetzten Ergebnis, ein Rückgang des durchschnittlichen Wachstums pro Jahr von 5% (1993-1995) auf 3,9% (1996-2003). Beim BIP einschließlich Baugewerbe liegt die durchschnittliche Wachstumsrate in dem letzten Zeitraum nur bei 1,1%. Durch diese statistische Akrobatik wird die eindeutige Feststellung, dass der reale Aufholprozess, der die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Leistung (BIP) umfasst, faktisch seit 1997 zum Stillstand gekommen ist, in ihr Gegenteil verwandelt.

Zweitens: Der Bericht bleibt bei Aussagen, die den Aufholprozess betreffen, äußerst allgemein und unverbindlich. Es wird zwar betont, dass die Bundesregierung am Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse festhält. Im Zusammenhang mit den Vorausberechnungen zum Prozess der Rentenangleichung heißt es sogar: "Die Bundesregierung unterstellt in den Vorausberechnungen langfristig eine vollständige Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Ländern an die der alten Länder. Das bedeutet insbesondere eine Angleichung der Löhne." (S. 114) Was heißt hier "langfristig"? Bis wann und in welchen Etappen soll dies erreicht werden? Nach Vorlage des Berichts hat Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) angekündigt, dass der Lebensstandard bis 2019 in Ost und West annähernd gleich sein werde. Allerdings versäumte der Minister, wohl nicht ganz zufällig, die Präzisierung, was er mit "annähernd gleich" gemeint hatte. Wie und auf welcher Grundlage dieses Versprechen eingehalten werden soll, bleibt völlig im Dunkeln.

Überhaupt ist es für den ganzen Bericht charakteristisch, dass konkrete Aussagen über Ausmaß, Etappen und Tempo des ökonomischen Angleichungsprozesses vermieden werden. Klar scheint nur zu sein, dass an den finanziellen Abmachungen im Solidarpakt II für den Zeitraum 2005 bis 2019 festgehalten werden soll: 105 Mrd. Euro Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für Infrastruktur und zum Ausgleich finanzieller Defizite der öffentlichen Haushalte (Korb I) und weitere 51,1 Mrd. Euro in Form von Sondermitteln für die Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern (Korb II). Die tatsächliche Höhe der aus dem Korb II in den einzelnen Jahren verfügbaren Mittel ist noch offen. Die jährlich verfügbaren Mittel aus dem Korb I von etwas über 10 Mrd. Euro in den Jahren 2005-2008 gehen auf im Durchschnitt 5 Mrd. Euro in den Jahren 2011 bis 2019 zurück. Wie unter diesen Bedingungen die für ein höheres Wirtschaftswachstum notwendige Erhöhung der Investitionen im produzierenden Gewerbe gesichert werden, bleibt unklar.

Es gibt keinerlei Zielvorstellung für die Verringerung der Ost-West-Kluft im BIP/Einwohner. 2003 betrug diese Kennziffer in den neuen Bundesländern (ohne Berlin) 63% des westdeutschen und 68% des bundesdeutschen Standes. Ein konkretes Ziel könnte sein, dass bis 2019 (Auslaufen Solidarpakt II) im Durchschnitt der neuen Länder das BIP je Einwohner zumindest das Niveau der westdeutschen Bundesländer mit dem geringsten BIP je Einwohner (Schleswig-Holstein, Rheinland Pfalz, Niedersachsen) - etwa 89% des bundesdeutschen Durchschnitts - erreicht wird. Das würde bedeuten, dass die gesamtwirtschaftliche Leistung je Einwohner in den neuen Ländern, ohne Berlin, von gegenwärtig 68% auf 89%, um 21 Prozentpunkte steigen müsste. Dazu wäre neben anderen Bedingungen ein größeres, langfristiges, auf Innovationen und Strukturänderung zielendes staatlich gefördertes Investitionsprogramm insbesondere für das verarbeitende Gewerbe der neuen Bundesländer unverzichtbar. Dazu steht jedoch im Jahresbericht leider kein Wort.

Hinsichtlich der Angleichung der Lebensverhältnisse müssten von der Bundesregierung konkrete Zielstellungen für die zeitlichen Etappen, insbesondere zur Angleichung der Einkommen, darunter Aufhebung der tarifpolitischen Ost-West-Unterschiede sowie der unterschiedlichen Regelsätze der Sozialsysteme, festgelegt werden.

Drittens: Im Bericht wird deutlich, dass es außer der Bereitstellung finanzieller Mittel keinerlei gesamtwirtschaftliches Konzept zur Lösung dieser Aufgaben gibt. Das Fehlen realistischer makroökonomischer Vorstellungen für den Angleichungsprozess wird noch dadurch verstärkt, dass das Erreichen von Fortschritten in der Ost-West-Angleichung von der Durchsetzung der neoliberalen "Reformen" zur Umgestaltung der Arbeits- und Sozialsysteme abhängig gemacht wird. So heißt es: "Diese Strategie für Ostdeutschland kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie eingebettet ist in eine umfassende Reform der Arbeits- und Sozialpolitik Gesamtdeutschlands. Programm hierfür ist die Agenda 2010. Sie erhöht die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes und gestaltet die sozialen Sicherungssysteme angesichts des demografischen Wandels um. Damit trägt sie zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und zur Bewahrung des Sozialen in der Marktwirtschaft bei." (S. 20) Es ist in anderen Beiträgen schon umfassend begründet worden, warum die Agenda 2010 und ihr Herzstück, die Hartz-Reformen, nicht nur die soziale Ungerechtigkeit verschärfen werden, sondern auch gesamtwirtschaftlich durch die Schwächung des Binnenmarkts kontraproduktiv sind. Sie tragen weder zur Erhöhung der wirtschaftlichen Dynamik noch zur Verringerung der Massenarbeitslosigkeit bei. Dabei sind ihre negativen Folgen für Kaufkraft und Binnenmarkt in Ostdeutschland infolge der mehr als doppelt so hohen Arbeitslosenquote und des überdurchschnittlich hohen Anteils der Langzeitarbeitslosen, die von den Reformen besonders hart betroffen werden, besonders hoch.

Viertens: Die beschönigende, einseitige Bewertung von vergangenen und zukünftigen Entwicklungsprozessen ist auch bei den Aussagen zur Entwicklung des ostdeutschen Forschung- und Entwicklungs-(FuE-) Potenzials und zur Osterweiterung der EU augenfällig.

Nach 1990 gab es eine verheerende und nicht wieder gutzumachende Zerstörung der FuE-Potenziale im Wirtschaftssektor, speziell in der Industrie Ostdeutschlands. Die Anzahl der (FuE) Beschäftigten ging zwischen 1989 und 1994 im Wirtschaftssektor von 86.000 auf 16.000, darunter in der Industrie von 74.000 auf 12.000, auf weniger als ein Fünftel zurück. Nach 1994 gab es zwar wieder einen gewissen Zuwachs der Beschäftigten in FuE. Der Anteil der je 1.000 Einwohner in FuE Tätigen liegt in Ostdeutschland jedoch nur bei etwa einem Drittel des westdeutschen Niveaus. Hierzu heißt es in völliger Verdrehung der Realität: "Mit der Wissenschafts- und Forschungspolitik wurde der Grundstein für die Restrukturierung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft gelegt und es wurden zusätzliche Innovationsimpulse gesetzt, die den Zusammenbruch der ostdeutschen Industrieforschung kompensierten (Hervorhebung K.S.)." Direkt im Gegensatz zu der verkündeten besonderen Unterstützung von Innovationen ist im Entwurf des Bundeshaushalts für 2005 eine Reduzierung der für die Förderung von Forschung und Technologie in den neuen Ländern vorgesehenen Mittel von 397 Mill. Euro (2004) auf 345 Mill. Euro (2005) vorgesehen.

Im Zusammenhang mit der Osterweiterung der EU wird zu Recht auf neue Chancen und Vorteile hingewiesen. Die neuen Risiken und Probleme werden aber nicht erwähnt. Es fehlen auch notwendige Maßnahmen, um die Chancen zu nutzen und die Risiken einzuschränken. Wichtig wären vor allem die gezielte Förderung einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und eine wirksamere Unterstützung der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) beim Export nach Osteuropa, um ihre ungünstigeren Voraussetzungen gegenüber den westdeutschen Großunternehmen zumindest teilweise auszugleichen.

Fünftens: Trotz der Vielzahl der im Bericht enthaltenen Beispiele über Erfolge in Ostdeutschland und mehrerer sinnvoller konkreter Vorschläge zur Weiterentwicklung der wirtschafts- und strukturpolitischen Instrumente, überwiegt nach dem Lesen ein Gefühl der Enttäuschung. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass entscheidende Hemmnisse für das Erreichen einer sich selbst tragenden wirtschaftlichen Entwicklung und für die Angleichung der Lebensverhältnisse verschwiegen werden bzw. konkrete Lösungsvorstellungen fehlen. Insbesondere folgende grundlegenden Fragen bleiben unbeantwortet:
- Wie soll die gegenüber Westdeutschland mehr als doppelt so hohe Arbeitslosigkeit überwunden werden? Verlässt sich die Bundesregierung auf eine Art "Selbstlösung" durch Abwandern und die Folgen des Geburtenrückgangs (passive Sanierung)?
- Wie soll die prekäre Haushaltssituation der ostdeutschen Länder und Kommunen, die eine aktive Struktur- und Beschäftigungspolitik verhindert, überwunden werden? Eine zugespitzte Problematik gibt es auch in einigen westdeutschen Ländern und vielen westdeutschen Kommunen, im Durchschnitt betrug jedoch die Steuerdeckungsquote 2003 in den neuen Ländern weniger als zwei Drittel des Niveaus in den alten Ländern.
- Wie kann das weitere Abwandern junger, qualifizierter und motivierter Fachkräfte eingeschränkt werden?
- Wie können die Investitionen insbesondere im produzierenden und verarbeitenden Gewerbe zur Sicherung einer stärkeren Ausbreitung von Innovationen und einer höheren Wirtschaftsdynamik wirksamer gefördert werden? Das Investitionsvolumen hat sich in Ostdeutschland 2003 gegenüber 1995 wesentlich verringert, insgesamt (in Mrd. Euro) von 105 auf 70, im produzierenden Gewerbe von 21 auf 14 und im verarbeitenden Gewerbe von 11 auf 9. Allein Infrastrukturinvestitionen sichern nicht das notwendige Wachstum.
- Was ist notwendig, um den Absatz, insbesondere den überregionalen Absatz, in Ostdeutschland zu fördern? Die Exportquote im Bergbau und verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands hat sich zwar in den letzten Jahren beträchtlich erhöht (von 12% 1995 auf 24,5% 2003, liegt aber noch beträchtlich unter der westdeutschen Exportquote von 39,4%. Der Anteil Ostdeutschlands (ohne Berlin) am gesamtdeutschen BIP beträgt 11%, am Export der Bundesrepublik jedoch nur rund 5%.

Nicht nur um einen positiven Abschluss zu haben, soll hervorgehoben werden, dass im Bericht viele gute, begrüßenswerte Vorschläge zur Stärkung der innovativen Potenziale und zu ihrer wirksameren Nutzung für die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland enthalten sind. Hier gewinnt man den Eindruck, dass zahlreiche Vorschläge, die schon seit längerer Zeit von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe) und der PDS gemacht wurden, übernommen werden, was ja zu begrüßen ist. So heißt es im Bericht: "Um diesen Weg zu einem breiten, selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung in Ostdeutschland weiter zu verfolgen, ist die qualitative Fortentwicklung der Struktur- und Förderpolitik notwendig. Die Anforderungen an den Wirtschaftsstandort neue Bundesländer heißen:
- Mehr Innovationen - Schaffung eines Klimas von Kreativität und Ideen
- Vernetzung der Potenziale - Nutzung von Synergie- und Wachstumspotenzialen
- Stärken weiter stärken - sich an Erfolgen orientieren
- Perspektiven für die Fläche - strukturschwächere Regionen ebenfalls zielorientierter fördern und positive Ausstrahlungseffekte von Wachstumszentren nutzen." (S. 14/15)

Zu unterstützen sind auch solche Aussagen: "Die Politik in den neuen Ländern .... muss mehr noch als bisher einem Ansatz von unten folgen, der vor allem die regionalen Initiativen der Wirtschaft und ihre endogenen Potenziale aufgreift." (S. 15) "Auf die Regionen wird generell eine stärker eigenständig geprägte Rolle als ›Gestaltungsakteure der Zukunft‹ zukommen." (S. 15) Die Ansatzpunkte für eine neue Qualität der Struktur- und Innovationspolitik konzentrieren sich vor allem auf: "die Förderung von zwischenbetrieblichen Kooperationen und Unternehmensnetzwerken, die Herausbildung von Branchenschwerpunkten, die Unterstützung von innovativen Kompetenzfeldern".

Es bleibt nur zu hoffen, dass diesen Vorsätzen auch notwendige Taten der Bundesregierung folgen. Dazu sind aber einschneidende Veränderungen in der Wirtschaftspolitik nicht nur in und gegenüber Ostdeutschland, sonder auch in Gesamtdeutschland, notwendig. Dafür gibt es jedoch bisher keinerlei Anzeichen.

Klaus Steinitz ist Sprecher der AG Wirtschaftspolitik beim Parteivorstand der PDS. (Aus: Sozialismus 11-2004; den kompletten Inhalt des neuen Heftes gibt es unter www.sozialismus.de

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