Als gäbe es keinen Klassenkampf

Ich lese: "Aus seinem angeborenen Optimismus heraus, und weil Klassenkampf eine verabscheuungswürdige und gefährliche Sache ist, behauptet das große amerikanische Volk einhellig, ...

... es gäbe keinen Klassenkampf. Wobei mit dem ›amerikanischen Volk‹ die anerkannten und maßgeblichen Stimmen des amerikanischen Volkes gemeint sind, die Presse, die Kanzel und die Universität. Die Journalisten, die Prediger und die Professoren erklären praktisch einstimmig, daß so etwas wie ein Klassenkampf nicht stattfände und es in Zukunft erst recht niemals zu einem Klassenkampf kommen werde." Wenn das Wort amerikanisch durch deutsch ersetzt wird, dann beschreibt dieser Zeitungsartikel auch genau die Situation in der Bundesrepublik. Aber er ist nicht heute geschrieben worden, sondern vor 100 Jahren. Der Name des Autors: Jack London.

Ja, eben der Schriftsteller, der bei uns fast nur wegen seiner Abenteuergeschichten bekannt ist. Wie soll es ihm denn auch anders ergehen als zum Beispiel Ferdinand Freiligrath, von dem in Anthologien höchstens noch Poeme wie "O lieb solang du lieben kannst..." oder das "Auswandererlied" stehen, nicht aber die revolutionären und demokratischen Gedichte aus den Jahren 1848/1849 ("Trotz alledem" zum Beispiel)? Oder Gottfried Semper, dem Erbauer der Dresdner Oper, der dort 1849 zur Rettung der Demokratie Barrikaden errichtete, was kaum mehr Erwähnung findet?

"Steinzeitsozialisten" nennen die heutigen Meinungsmacher all jene, die den Klassenkampf von oben als solchen bezeichnen. Denn bei uns sind ja, wie Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt kategorisch feststellte, "Kapital und Arbeit längst ausgesöhnt". Er sagte dies, während die Arbeitgeber immer ungenierter mit Hilfe regierender Politiker Löhne drückten, Rentenansprüche kürzten, Sozialleistungen abbauten, die Abhängigen mittels Entlassungsdrohungen erpreßten. Und die einstige linke Schickimicki hat sich nach dem Zusammenbruch des sogenannten realen Sozialismus umgehend den Gewinnern angeschlossen und behauptet im Gefolge des amerikanischen Historikers Francis Fukuyama, mit dem "weltweiten Sieg" der "freien Marktwirtschaft" habe sich die Geschichte "erfüllt", denn der Triumph der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sei unwiderruflich.

Darum wird, um auf Jack London zurückzukommen, auch dessen großer sozialistischer Roman "Die eiserne Ferse" totgeschwiegen oder als alberner Mißgriff eines Phantasten abgetan. Dabei ist gerade dieses 1907 erschienene Werk auch heute noch aktuell, denn es hat im wesentlichen die Ereignisse vorausgesagt, die rund 85 Jahre später eintraten und andauern. Es schildert den ersten Versuch, den Sozialismus zu erbauen, und sein Scheitern - Scheitern an der Stärke der Kapitalisten und Oligarchen, aber vor allem durch das Versagen seiner führenden Repräsentanten, also aus eigener Schuld. Und es schildert, wie die herrschende Klasse die zurückgewonnene Macht rücksichtslos ausübt und genießt. Doch lese ich in dem Roman auch diese Sätze: "Für diesmal verloren. Aber nicht für immer! Wir haben viel gelernt: Morgen wird unsere Sache, stärker in Wissen und Zucht, neu erstehen."

Dies angesichts der heutigen Machtverhältnisse zustimmend zu zitieren, scheint unbegründeten, naiven Optimismus zu verraten. Aber da gibt es den "Datenreport 2004". Herausgegeben hat ihn im August das Statistische Bundesamt aufgrund sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Und da steht, daß im Gegensatz zur veröffentlichten Meinung 76 Prozent der Ostdeutschen den Sozialismus für eine gute Idee halten, die nur schlecht ausgeführt wurde. In den westlichen Bundesländern sind es immerhin auch noch 51 Prozent.

Jack Londons hundert Jahre alter Zeitungsartikel mit dem Titel "Der Klassenkampf" endet mit der aktuell gebliebenen Feststellung: "Es ist nicht länger die Frage, ob es einen Klassenkampf gibt oder nicht. Nun steht die Frage: Welchen Ausgang wird der Klassenkampf nehmen?"

aus: Ossietzky 20/2004