Gewerkschaften am Scheideweg

Siemens, DaimlerChrysler, Karstadt, Opel, VW...neben dem Angriff der großen Koalition von SPD-Grünen-CDU/CSU-FDP auf alle sozialstaatlichen Errungenschaften...

...nun also eine nicht enden wollende Kette betrieblicher Auseinandersetzungen, die zu immensen Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen führen - und ganz nebenbei auch die Relevanz der Flächentarife in Frage stellen. Soll man die Gewerkschaften nun bedauern, weil sie die "Prügelknaben der Nation" sind, die Opfer der vehementen Angriffe von Unternehmern und Regierung, die als Sündenböcke auch noch dafür herhalten müssen, dass die Arbeitslosigkeit weiter steigt, während es doch die neoliberale Politik und die Lohnsenkungen sind, die die Stagnations- und Krisentendenzen der kapitalistischen Wirtschaft weiter verschärfen? Oder soll man über die Gewerkschaften den Kopf schütteln, weil sie ihre - trotz aller Mitgliederverluste und der jahrzehntelangen Passivierung ihrer Basis durch Stellvertreterpolitik - immer noch bestehende organisatorische Stärke nicht einmal ernsthaft einsetzen, um den Angriffen von Regierung und Unternehmern etwas entgegenzusetzen? Weil sie borniert an dem sprichwörtlichen "deutschen Konsensmodell" festhalten, an einem fordistischen Klassenkompromiss, den die Kapitalseite längst aufgekündigt hat? Die Integration der Gewerkschaften in das "Exportmodell Deutschland" (vgl. Esser 1982) scheint im Großen und Ganzen weiter zu funktionieren wie eh und je, als wenn nichts wäre. Und das, obwohl gegenwärtig alle Dämme brechen, die in über 100jährigen Kämpfen aufgerichtet wurden, um den Lohnabhängigen hierzulande unter kapitalistischen Bedingungen ein einigermaßen erträgliches Leben zu ermöglichen. Schon aus ihrem Eigeninteresse, um als Organisation zu überleben, müssten die Gewerkschaften darüber nachdenken, wie sie die fortgesetzten Mitgliederverluste endlich stoppen können. Dazu ist eine offene und solidarisch geführte strategische Richtungsdebatte dringend notwendig. Es wäre fatal zu glauben, die Gewerkschaften hätten lediglich ein Kommunikations- und Vermittlungsproblem, das mit einer Kommunikationskampagne wie der des DGB unter dem nichtssagenden Titel "Das machen wir!" behoben werden könnte. Die Klemme, in der die Gewerkschaften stecken, kommt nicht aus heiterem Himmel. Es ist notwendig, sich Entwicklungen der Vergangenheit zu vergegenwärtigen, um die heutige Situation zu verstehen.

Über Jahrzehnte hinweg bestand die Stärke der deutschen Gewerkschaften darin, dass sie zugleich Ordnungsfaktor und Gegenmacht waren. Nach ihrer Niederlage im Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz Anfang der 1950er Jahre haben sie von antikapitalistisch motivierten politischen Ambitionen der Demokratisierung der Wirtschaft weitgehend Abstand genommen und sich pragmatisch mit der kapitalistischen Rekonstruktion Westdeutschlands arrangiert (vgl. Pirker 1979). Unter den Bedingungen des fordistischen "Wirtschaftswunders" ist es ihnen gelungen, bedeutende Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen für die Lohnabhängigen durchzusetzen. Die Einbindung der Lohnabhängigen durch die Mitbestimmung entwickelte sich zugleich zu einer tragenden Säule des auf dem Weltmarkt außerordentlich erfolgreichen "Exportmodells Deutschland". Der - allerdings seit jeher selektive, weil primär auf die Interessen von deutschen, männlichen Facharbeitern bezogene - Korporatismus der deutschen Gewerkschaften schien sich zunächst auch unter den Bedingungen der Krise des Fordismus zu bewähren. Die Gewerkschaften akzeptierten die Notwendigkeit der Anpassung des einheimischen Kapitals an die veränderten Weltmarktbedingungen und ordneten ihre eigene Politik dem unter. Im internationalen Vergleich wurde dadurch eine außergewöhnlich hohe Quote industrieller Beschäftigung gesichert, wenngleich die Massenarbeitslosigkeit mit jedem Konjunkturzyklus weiter zunahm. In den 1980er Jahren trug der Kampf um die 35-Stundenwoche, der international von Gewerkschaftern und Linken weithin als Vorbild angesehen wurde, nicht unerheblich dazu bei, dass die von der Regierung Kohl propagierte "geistig-moralische Wende" sich nicht wie Thatcherismus und Reaganomics zu einem Frontalangriff auf die Lohnabhängigen entwickeln konnte.

Das Ergebnis des Kampfes um die 35-Stundenwoche war allerdings ambivalent. Zum einen gelang es nicht mehr, die 35-Stundenwoche branchenübergreifend zu verallgemeinern und als gesellschaftlichen Standard zu etablieren. Zum anderen wurde die Arbeitszeitverkürzung von den Gewerkschaften nur um den Preis der Flexibilisierung der Arbeitszeiten durchgesetzt. Dadurch gelang den Arbeitgebern nicht nur die Verlängerung der Maschinenlaufzeiten, d.h. eine ökonomischere Nutzung ihres fixen Kapitals und damit eine Erhöhung der Profitabilität, sondern vor allem auch der Einstieg in die Dezentralisierung der Arbeitsbeziehungen. Innerhalb der Gewerkschaften führte dies zu heftigen Debatten, da die damit verbundenen Gefahren deutlich gesehen wurden. Letztendlich beschritten die Gewerkschaften jedoch einen Weg, der zu der zunehmenden Aufwertung der betrieblichen Ebene gegenüber der Branchenebene im Aushandlungsprozess führte.

Der Übergang zu einem immer stärker dezentralisierten "concession bargaining" gewann in der ersten Hälfte der 1990er Jahre an Dynamik, als die Konjunkturkrise Deutschland - wegen des durch die "Wiedervereinigung" ausgelösten Booms zwar verspätetet, aber dafür recht heftig - traf. Die "Standortdebatte" flammte auf, und die gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretungen der Lohnabhängigen schienen nur noch die Wahl zwischen der Scylla eines umfangreichen Arbeitsplatzabbaus und der Charybdis weitreichender Zugeständnisse zur betrieblichen Kostensenkung zu haben. Im Ergebnis fand beides statt: Die Massenarbeitslosigkeit stieg - so weit wie möglich "sozialverträglich" geregelt - weiter an, und die Lohnentwicklung wurde zunehmend von der Produktivitätsentwicklung abgekoppelt, d.h. die Reallöhne stagnierten.

Die Gewerkschaften proklamierten zwar das Ziel einer makroökonomisch verantwortlichen, am Produktivitätswachstum und an der Inflationsrate orientierten Tarifpolitik, doch nutzten sie den verteilungsneutralen Spielraum für Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen kaum aus (vgl. Wendl 2004). Dies ist wohl verschiedenen Ursachen geschuldet. Möglicherweise war unter den gegebenen Bedingungen (Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaftsbasis, politische und wirtschaftliche Kräfteverhältnisse) einfach nicht mehr durchsetzbar. Allerdings findet sich auch innerhalb der Gewerkschaften die Befürchtung, "zu hohe" Lohnsteigerungen könnten der Wettbewerbsfähigkeit der in Deutschland ansässigen Unternehmen schaden. Im Einzelfall - d.h. aus betriebswirtschaftlicher Perspektive - mag diese Befürchtung unter den Bedingungen der Globalisierung durchaus begründet sein, doch hier spielt auch der Einfluss neoliberalen Gedankengutes in den Gewerkschaften eine Rolle. Ein weiterer Aspekt war wohl, dass die Gewerkschaften befürchten mussten, eine offensivere Lohnpolitik würde die Erosionstendenzen bei den Arbeitgeberverbänden beschleunigen, zu Verbandsaustritten führen und somit die Flächentarife untergraben (vgl. Schroeder/Ruppert 1996). Des weiteren bestand sicherlich zeitweise ein Zusammenhang zwischen der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und den Versuchen, mit Arbeitgebern und Regierung ein tripartistisches "Bündnis für Arbeit" zu schließen, obwohl die Gewerkschaften nach außen hin verkündeten, Einkommenspolitik könne nicht Gegenstand der Bündnisgespräche sein. Fatalerweise durchkreuzte die mit dem "Bündnis für Arbeit" einhergehende Lohnzurückhaltung auch die - ohnehin nur halbherzig verfolgten - Bemühungen um eine gewerkschaftliche Koordinierung der Tarifpolitik in Europa. In kaum einem anderen Land wurde der Anstieg der Lohnstückkosten so stark gebremst wie in Deutschland, d.h. wenn es in Europa ein Lohndumping gibt, so geht es nicht zuletzt von Deutschland aus. Dabei müssten die Gewerkschaften des wirtschaftlich stärksten Land im Grunde gerade eine Führungsrolle bei den Lohnsteigerungen übernehmen.

Letztendlich hat die Lohnzurückhaltung vielleicht zwar die Verbandsflucht der Arbeitgeber, nicht aber die Erosion der Flächentarife aufhalten können. Denn letztere wurden zunehmend durch betriebliche Sondervereinbarungen zur Standortsicherung überlagert und ausgehöhlt. Das "concession bargaining" auf der Betriebsebene drehte sich in den 1990er Jahren zunächst um die Abschmelzung übertariflicher Leistungen, doch gab es in einzelnen Fällen auch juristische Auseinandersetzungen, als Betriebsräte gemeinsam mit dem Management untertarifliche Arbeitsbedingungen vereinbaren wollten. Bisher stellte der Tarifvertrag in der Regel eine Mindestnorm dar, d.h. betriebliche oder einzelvertragliche Regelungen des Arbeitsverhältnisses konnten vom Tarifvertrag nur "nach oben" abweichen. Nur so können die Tarifverträge ihre Schutzfunktion für die Arbeitnehmer erfüllen - ansonsten wären sie nur unverbindliche Empfehlungen. Allerdings waren die Gewerkschaften unter dem Druck von Arbeitsplatzabbau und angedrohten Standortverlagerungen schließlich bereit, tarifliche Öffnungsklauseln zu vereinbaren, die - zunächst nur bei Krisensituationen bzw. nachgewiesener Existenzgefährdung von Unternehmen - die betriebliche Vereinbarung untertariflicher Standards mit Zustimmung der zuständigen Gewerkschaft ermöglichten.
Die Konzessionen von Betriebsräten und Gewerkschaften im Zuge von Standortsicherungsvereinbarungen bzw. "betrieblichen Bündnissen für Arbeit" sind allerdings kein konjunkturelles Phänomen geblieben. Vielmehr haben sich derartige Vereinbarungen auch während des Konjunkturaufschwungs in den späten 1990er Jahren weiter verbreitet und verallgemeinert. Die Konzessionen wurden während des Booms nicht zurückgenommen, sondern erneuert und erweitert. Sie sind auch kein Phänomen, das primär in kleinen und mittleren oder krisenhaften Unternehmen anzutreffen wäre, sondern sie existieren ebenso in profitablen Großunternehmen. Und sie tauchten zuerst in der Automobilindustrie auf, in einer Branche, die wie kaum eine andere für den Exporterfolg der deutschen Industrie steht. Dabei waren es interessanterweise Ford und die General Motors-Tochter Opel, die zuerst versuchten, das "concession bargaining" aus den USA nach Deutschland zu übertragen und die auch die ersten Standortvereinbarungen aushandelten (vgl. Rehder 2003: 55ff).

Mit der erneuten Konjunkturkrise zu Beginn des neuen Jahrtausends haben die Standortdebatte und die Konzessionspolitik von Betriebsräten und Gewerkschaften erneut an Virulenz gewonnen. Mit dem Pforzheimer Tarifabschluss 2004 der IG Metall wurde die Möglichkeit der Vereinbarung ergänzender Tarifregelungen und befristeter Abweichungen von tariflichen Mindeststandards auf betrieblicher Ebene erneut ausgeweitet. Abweichungen von tariflichen Mindeststandards setzen nun nicht mehr die existenzielle Krise eines Unternehmens voraus, sondern können auch zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit vereinbart werden. Diese weitere Sanktionierung betrieblicher Verhandlungen war geradezu eine Einladung an die Arbeitgeber, nun auf der Unternehmensebene in die Offensive zu gehen.

Vorausgegangen war dem Pforzheimer Tarifabschluss die Niederlage im Streik um die Einführung der 35-Stundenwoche in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie 2003. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert war die IG Metall gezwungen, einen Streik ohne Ergebnis abzubrechen. Gewiss hätte die Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung durch eine Kampagne in der Öffentlichkeit besser vorbereitet werden müssen, und gewiss hat die IG Metall die Schwierigkeiten eines Streiks in Ostdeutschland - in Anbetracht von nur einer Handvoll streikfähiger Betriebe und eines kompromisslosen Arbeitgeberverbandes in Sachsen - unterschätzt (vgl. Schmidt 2003). Gleichwohl wurde das Desaster dieser Niederlage auch durch den organisationsinternen Zwist um die Nachfolge Klaus Zwickels und die mangelnde Solidarität von Betriebsräten in der westdeutschen Automobilindustrie mitverursacht. Einzelne prominente Gewerkschafter wie der Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Opel AG, Klaus Franz, sprachen sich während des Streiks öffentlich gegen diesen aus - ein einmaliger Vorgang. Offenbar waren führende Gewerkschafter bereit, in der internen Auseinandersetzung um die Führung die gewerkschaftliche Organisation und die Interessen der ostdeutschen Beschäftigten aufs Spiel zu setzen. Von dieser Niederlage wird die IG Metall noch lange zehren - in historischer Perspektive könnte sie sich als Wendepunkt in der Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland erweisen.

Die Niederlage erinnert an einen anderen gescheiterten Streik - den ersten und bisher letzten Streik in der bundesdeutschen Chemischen Industrie im Jahr 1971. Damals war es der IG Chemie nicht gelungen, die Betriebsratsfürsten bei der Bayer AG und der Hoechst AG auf Linie zu bringen und die Hauptwerke der beiden Konzerne in den Arbeitskampf miteinzubeziehen (vgl. Kädtler/Hertle 1997: 60ff). In den folgenden Jahren kam es in der Organisation, die innerhalb des DGB in den 60er Jahren eher links angesiedelt gewesen war, zu einer Hexenjagd auf Linke und zu einer immer rigideren Verteidigung gegen jegliche Kritik, die den Status quo der Branche in Frage stellte, ob es nun um die Atomkraft oder um die Chlorchemie ging, um die Gentechnik oder den Wettbewerbskorporatismus des "Modell Deutschland". Es könnte sein, dass der IG Metall ähnliche Auseinandersetzungen noch bevorstehen, wenn der Burgfrieden zwischen den Fraktionen um Jürgen Peters und Berthold Huber in der IG Metall-Führung endet und der organisationsinterne Machtkampf wieder aufbricht. Häufig genug treffen Ausgrenzungsprozesse und Ausschlussverfahren gerade linke "Abweichler" - die deutschen Gewerkschaftsführungen verstehen unter Einheitsgewerkschaft zumeist eine sozialdemokratische Einheit mit christdemokratischem Feigenblatt. Es bleibt zu hoffen, dass die Kräfteverhältnisse in der IG Metall verhindern, dass es zu einer Entwicklung wie in der IG Chemie kommt.

Nach dem gescheiterten Streik der IG Metall in Ostdeutschland wäre es auch gut vorstellbar gewesen, dass die Arbeitgeber die Gewerkschaft in der Tarifrunde 2004 voll auflaufen lassen. Insofern überraschte der relativ schnelle Tarifabschluss in der baden-württembergischen Metallindustrie im Februar. Es schien zunächst, als habe die IG Metall eine mäßige Lohnsteigerung durchgesetzt und die Forderung der Arbeitgeber nach Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich halbwegs abgewehrt (auch wenn die Quote der Beschäftigten, die nun 40 Wochenstunden arbeiten können, erhöht wurde). Im Rückblick wird jedoch das strategische Kalkül der Unternehmer deutlich, die nun dezentral Arbeitszeitverlängerungen, Lohnsenkungen und die weitere Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen durchsetzen. Entscheidend war es, die IG Metall mit dem Pforzheimer Abschluss zu einer weiteren Tariföffnung auf der betrieblichen Ebene zu bewegen.

Schon wenige Tage nach dem Abkommen distanzierte sich der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Heinrich von Pierer, verbal von dem Tarifabschluss und drohte mit dem Austritt aus dem Arbeitgeberverband. Dies war das Signal, mit dem der Kampf um Arbeitszeitverlängerung und Lohnsenkung an den Siemens-Standorten in Bocholt und Kamp-Lintfort eröffnet wurde. Nicht zufällig wurde hier gleichsam das schwächste Glied in der Kette zuerst angegriffen. Denn die Drohung mit der Verlagerung der Fertigung von Handys und schnurlosen Telefonen nach Ungarn bzw. mit der Fremdvergabe an einen Kontraktfertiger war außerordentlich glaubhaft, ist dies doch ein Bereich der Elektronikindustrie, der heute bereits weitgehend an Niedriglohnstandorte verlagert ist. Dass Siemens diese Fertigungen noch in Eigenregie in Deutschland betreibt, ist in der Branche eher ungewöhnlich. Hinzu kommt, dass Siemens traditionell nicht gerade eine gewerkschaftliche Hochburg ist. Die standortübergreifende Mobilisierung der Beschäftigten beschränkte sich auf einen Aktionstag, der für das Management kalkulierbar und belanglos blieb. Die Beschäftigten an anderen zentralen Siemensstandorten wurden in die Auseinandersetzung kaum hineingezogen. Insofern konnte es nicht überraschen, dass die IG Metall der von Siemens geforderten Rückkehr zur 40-Stundenwoche ohne Lohnausgleich letztlich zähneknirschend zustimmte.

Das nächste Glied in der Kette war DaimlerChrysler. Für das Ansehen der Gewerkschaft waren die Zugeständnisse bei DaimlerChrysler auf den ersten Blick weniger schädigend als die bei Siemens, da es sich hier weitgehend um die Abschmelzung übertariflicher Leistungen handelte und ein Teil der Arbeitgeberforderungen durch die stärkere standortübergreifende Mobilisierung der Belegschaften abgewehrt werden konnte. Dennoch ist die Betriebsrats- und Gewerkschaftspolitik im Fall DaimlerChrysler letztlich noch enttäuschender als die im Fall Siemens. Denn die IG Metall nutzte bei DaimlerChrysler nicht die weitaus günstigeren Kräfteverhältnisse und die Chance, die Offensive der Unternehmer insgesamt zu stoppen. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Erich Klemm hatte schon in einer frühen Phase der Auseinandersetzung dem Management eigene Vorschläge zur Kostensenkung unterbreitet, obwohl für derartige Zugeständnisse bei der Mercedesfertigung am allerwenigsten Anlass bestand. Die Belegschaften in Bremen und Stuttgart waren solidarisch und kampfbereit, und die Drohung einer Verlagerung der Mercedesfertigung ins Ausland, z.B. nach Südafrika, war nicht realistisch. Erst vor wenigen Jahren hatten die Arbeiter bei Daimler ihre Macht demonstriert, als sie durch spontane Kampfaktionen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verteidigten. Doch diesmal waren die Betriebsratsspitzen offenbar gar nicht glücklich, als z.B. die Mettinger Arbeiter eine Demonstration auf der nahen Bundesstraße veranstalteten.
Bei Opel wiederholt sich ein ähnliches Muster: Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende spricht sich wie der sozialdemokratische Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen gegen die spontanen Arbeitsniederlegungen bei Opel Bochum aus, sie stören seiner Ansicht nach die Verhandlungen mit dem Management. Was ist nur aus dem Ex-Sponti Klaus Franz geworden? Durch eine zweistündige Kundgebung und Unterschriftensammlungen wird sich das GM-Management jedenfalls nicht beeindrucken lassen.

In der jüngsten Tarifauseinandersetzung bei VW wurde ein typischer Zwiespalt zwischen Betriebsrat und Gewerkschaft deutlich: Während die IG Metall eine Lohnforderung aufstellte, hielt die Betriebsratsspitze dies offenbar für überzogen und setzte ausschließlich auf Beschäftigungssicherung. Das Management hatte pünktlich die passenden Zahlen geliefert: Ein Gewinneinbruch im dritten Quartal, der den Kostensenkungsforderungen den nötigen Nachdruck verlieh. Trotz überwältigendem Organisationsgrad wollte oder konnte die IG Metall unter diesen Bedingungen keinen Streik anzetteln und akzeptierte schließlich gravierende Lohnsenkungen für die Beschäftigten und vor allem die zukünftigen Beschäftigten.
Zieht man ein vorläufiges Resümee all dieser betrieblichen Auseinandersetzungen, so wird ein allgemeines Muster deutlich: Die Gewerkschaft stimmt Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen zu und erhält dafür als Gegenleistung die vage Zusage der Beschäftigungssicherung. In der Regel heißt dies nur: Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen und Fortsetzung des "sozialverträglichen" Beschäftigungsabbaus. Im besten Fall wird wie bei VW versprochen, ein bestimmtes Niveau der Beschäftigung zu wahren, und es wird diese Versprechung mit konkreten Zusagen für Investitionen und Produktionsumfänge verbunden. Jedoch enthält auch der Vertrag bei VW wie der bei DaimlerChrysler eine Revisionsklausel für den Fall, dass z.B. Einbrüche des Absatzes die vereinbarten Investitions- und Standortentscheidungen obsolet machen.
Es wäre vollkommen verkürzt und irreführend, den "Verrat" der Gewerkschaftsführung, die Kooptation von Funktionären und Betriebsräten alleine für diese Politik verantwortlich zu machen, wie dies aus linker Perspektive zuweilen getan wird. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass immer noch eine große Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder hinter der Politik ihrer Führung steht. Das primäre Interesse der Beschäftigten ist es, ihren Arbeitsplatz zu behalten. Dafür werden sie im Zweifelsfall immer bereit sein, auf Lohn zu verzichten oder länger zu arbeiten. Dies ist die Politik des kleineren Übels. Aus der betriebswirtschaftlichen Sicht erscheinen die Forderungen des Managements auch plausibel. Hinter all dem steht die verschärfte brancheninterne und branchenübergreifende Konkurrenz. Zwar sind die Drohungen der Standortverlagerung nicht in jedem Fall gleichermaßen ernst zu nehmen, doch generell führt an der Erkenntnis kein Weg vorbei, dass die Globalisierung, der Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" und die europäische Integration die Handlungsbedingungen für das Management wie für die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen gravierend verändert haben.

Gewerkschaften und Betriebsräte, die eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nach der anderen aushandeln, mögen aus der Perspektive des Kapitals als massenintegrative Apparate noch nützlich sein - für die Lohnabhängigen sind sie es aber nicht, letztlich machen sie sich selbst überflüssig. Die Gewerkschaften können ihre ureigensten Funktionen nur ausüben, wenn es ihnen gelingt, die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen so weit wie möglich aufzuheben, um der Tendenz zu einem "race to the bottom" entgegenzuwirken. Dies war und ist die Funktion der Flächentarifverträge - obwohl sie inzwischen löchrig sind wie ein Schweizer Käse. Da die Konkurrenz heute jedoch international wirkt, werden auch die Gewerkschaften als Gewerkschaften nur überleben können, wenn sie sich international organisieren, so utopisch dies klingen mag (vgl. Riexinger/Sauerborn 2004). Die europäischen Betriebsräte, die internationalen Gewerkschaftsdachverbände, die Versuche einer tarifpolitischen Koordinierung auf europäischer Ebene, die bestehenden Basis-Netzwerke, die Kampagnen für die Durchsetzung internationaler Arbeits- und Sozialstandards sind in diesem Zusammenhang allesamt wichtig, auch wenn sie alle ihre spezifischen Grenzen aufweisen. Bis zur Aufstellung und Durchsetzung international abgestimmter Tarifforderungen ist es allerdings noch ein weiter Weg.

Der Bruch mit der Politik des kleineren Übels, die letztlich dazu führt, jeder Verschlechterung zuzustimmen, ist nicht nur in der Tarif- und Betriebspolitik, sondern auch in der Gesellschaftspolitik notwendig. Hierzu müssen sich die Gewerkschaften von der Sozialdemokratie unabhängig machen. Die Angst davor, mit Protesten gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Sturz der rot-grünen Regierung beizutragen, ist absurd. Auch Willfährigkeit gegenüber Rot-Grün wird diese Regierung nicht noch einmal retten. Die Gewerkschaften haben den Protest gegen den Sozialabbau bisher nur sehr halbherzig unterstützt und in der Vergangenheit mit ihrer Politik im Grunde der Spaltung von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen Vorschub geleistet.

Notwendig wäre es, die Ansätze für ein Bündnis zwischen den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen, die sich bei der Massendemonstration am 3. April oder bei dem diesjährigen "Perspektivenkongress" manifestiert haben, weiter auszubauen. Insgesamt ist eine Repolitisierung der Gewerkschaften notwendig. In programmatischer Hinsicht können keynesianisch orientierte wirtschaftspolitische Überlegungen eine wichtige Funktion bei der notwendigen Kritik neoliberaler Denkweisen haben. Letztlich reicht jedoch eine keynesianische Programmatik nicht aus, da sie die destruktiven Potentiale, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnen, unterschätzt und auf viele soziale und ökologische Probleme keine Antwort geben kann. Notwendig ist vielmehr eine antikapitalistische Orientierung, die den Kampf im Lohnsystem in einen Kampf gegen das Lohnsystem überführt. Ob die deutschen Gewerkschaften zu einer solchen Selbsttransformation in der Lage sind, ist keineswegs ausgemacht. Vielleicht müssen auch ganz neue Organisationen entstehen. Auf eine Gewerkschaft, die diesen Namen verdient, können die Lohnabhängigen jedenfalls nicht verzichten.

Literatur
Esser, Josef (1982): Gewerkschaften in der Krise. Frankfurt am Main.
Kädtler, Jürgen (1997): Sozialpartnerschaft und Industriepolitik. Strukturwandel im Organisationsbereich der IG Chemie-Papier-Keramik. Opladen.
Pirker, Theo (1979): Die blinde Macht. Die Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepublik. Berlin.
Rehder, Britta (2003): Betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland. Mitbestimmung und Flächentarif im Wandel. Frankfurt am Main/New York.
Riexinger, Bernd/Sauerborn, Werner (2004): Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle. In: Sozialismus, 31. Jg., Heft 10, Supplement.
Schmidt, Rudi (2003): Der gescheiterte Streik in der ostdeutschen Metallindustrie. In: PROKLA 132, 33. Jahrgang, Nr. 3, 493-509.
Schroeder, Wolfgang/Ruppert, Burkard (1996): Austritte aus Arbeitgeberverbänden: Eine Gefahr für das deutsche Modell? Marburg.
Wendl, Michael (2004): Die Lohnbewegung im letzten Konjunkturzyklus (1993-2001). In: Sozialismus, 31. Jg., Heft 10, 27-34.

PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 136, 34. Jg., 2004, Nr. 3