Gepflegte Unbildung

Eine systematische theoretische Neuaneignung der Welt durch die Linke findet heute nicht mehr statt. Das aber machte sie seit Marx aus und ist notwendige Voraussetzung zum Kampf gegen Neoliberalismus.

Ein junger Mann hat einen Artikel geschrieben. Nennen wir ihn Thomas Müller. Er ist ganz stolz und erwartet schnelle Veröffentlichung. Nur der Redakteur der Zeitschrift, bei der er seinen Text einreichte, der hat Bauchschmerzen mit dem Werk. Als Gegenstand der Betrachtung ist die globalisierungskritische Bewegung angegeben. Thomas Müller hat allerlei angelsächsische Soziologiewerke und einschlägige Mainstreamtexte aus diesem unserem Lande gelesen, zitiert sie voller Eifer und versucht dann, eine Frage zu stellen. Er meint, es finde in dieser Bewegung eine Integration statt, weil: Die Akteure treffen sich von Zeit zu Zeit an diesem oder jenem Ort, diskutieren, protestieren, demonstrieren. Und das sei mit Identitätsbildung verbunden. Er nennt das "Identitätsarbeit". Aus deutscher Sicht ist Identitätsbildung natürlich ein Arbeitsprozeß. Daß es Interessen sind, Interessenperzeptionen oder einfach ein Aufbegehren gegen als ungerecht empfundene Verhältnisse aus Gewissensgründen, das sieht er nicht. Nach seinen Ansätzen muß es eine Identität geben. Dann macht Thomas Müller Untersuchungen. Er sammelt Flugblätter und über Mailing-Listen verbreitete Aufrufe, liest und vergleicht sie. Am Ende stellt er fest, daß es so viele Gemeinsamkeiten, über den Aufruf zur Teilnahme an diesem oder jenem Treffen hinaus, nicht gibt, nur einen vergleichsweise knappen Grundkonsens der Globalisierungskritik. Er konstatiert mangelnde Identität und mutmaßt, daß nach den von ihm gewählten Ansätzen die Integration nicht so weit ausgeprägt und daher die Bewegung nicht von Dauer sein könne. Das könnte den Neoliberalen so passen, ist man versucht einzuwenden. Damit ist das Thema aber nicht erledigt. Gewiß, man könnte Müller vorwerfen, daß er eine tatsächliche "teilnehmende Beobachtung" nicht geleistet hat. Außer ein paar Verweisen auf Diskussionen, die er wohl im Studentenmilieu seiner Universitätsstadt erlebt hat, gibt es keinen Hinweis darauf, daß er auch nur ein Treffen globalisierungskritischer Gruppen erlebt hätte. Auch scheint die Auswahl der Flugblätter und Aufrufe, die er zitiert, eher zufällig zu sein; was man eben so findet, wenn man des nachts im Internet herumsurft. Am Ende hat Müller "wissenschaftlich" nichts herausbekommen, was nicht die Akteure der globalisierungskritischen Bewegung sowieso von sich sagen: daß jeder seine Identität behält und trotzdem alle kooperativ zusammenwirken. Das aber ist nicht das eigentliche Problem. Das Problem ist, daß man unter Verwendung dieser Mainstreamansätze zu anderen Fragestellungen nicht kommt und demzufolge auch nicht zu tatsächlichen Antworten. Daß der Kapitalismus, nach seinem scheinbaren Sieg von 1989/1991, die soziale Frage neu hervorbringt, oder besser, soziale Fragen, liegt völlig außerhalb einer solchen Betrachtung. Es gibt bei Thomas Müller auch nicht den Hauch einer Vorstellung davon, daß es materielle Verhältnisse sein könnten, die sich ihren ideellen, theoretischen und politischen Ausdruck suchen. Daß man über Profitraten, internationale Handelsbeziehungen und Ausbeutung reden muß, wenn man die globalisierungskritischen Bewegungen verstehen will; über Verarmung und Bereicherung, nicht als moralische Frage, sondern als sozialhistorischen Vorgang. Dann begriffe man auch den Kampf dagegen als einen sozialhistorischen Vorgang. Bei Müller aber ist der nicht ausgesprochene Subtext - der realexistierende Kapitalismus - die Annahme der Normalität oder Naturgegebenheit der Verhältnisse, so wie sie jetzt sind. Eine Bewegung dagegen erscheint als falsche Aufwallung. Fehlte nur noch der Satz von Otto Graf Lambsdorff aus den 1990er Jahren: Wer das Recht auf Arbeit in die Verfassung schreiben wolle, könne ja auch gleich ein Recht auf Sonnenschein hineinformulieren. Natürlich, bei dieser Gesellschaft ist der Platz an der Sonne nicht für alle vorgesehen. Da sei schon Hartz IV vor. Es ist aber, genau betrachtet, nicht ein Thomas-Müller-Problem. Da ist der verantwortliche PDS-Funktionär, der, in der Diskussion in die Defensive geraten, plötzlich entschuldigend geltend zu machen versucht, bei seinem Alter habe er ja keine marxistische Bildung mehr erhalten. Oder ein anderer, der ironisierend meint, das neu vermessene Dreieck der PDS-Strategie zwischen parlamentarischem und Regierungshandeln, Einbindung in soziale Bewegungen und programmatischem Verweis auf Gesellschaft jenseits des Kapitalismus versuche nur, ein transzendentales Moment aufrechtzuerhalten, um das Gemüt der Gemeinde zu pflegen. Die Frage nach der Veranstaltung theoretischer Reihen, um die Welt von heute neu verstehen zu lernen, wird mit der schönen rhetorischen Frage beantwortet, ob man denn das Parteilehrjahr von Anno dunnemals wieder einführen wolle. Junge Leute, die heute im Umfeld der Reformlinken in die Politik gehen, haben in der Regel kein kritisches Gesellschaftswissen. Gewiß, es gibt noch etliche Alte im Osten, die das Ende des Realsozialismus aus stalinistischer Klassenkampfperspektive als Verratsvorgang ansehen, und es gibt die sektenhaften Schulungszirkel im Westen, die derartiges Buchstabenwissen weiter perpetuieren. Höhepunkt für mich in dieser Hinsicht war vor einiger Zeit eine Veranstaltung in Berlin, in der ein russischer Neu-Trotzkist meinte, Trotzki hätte eine historische Alternative zu Stalin sein können, und in der Diskussion sich ein junger Mann von kaum über zwanzig Jahren meldete und in unverkennbarem Ruhrpottdialekt von sich gab: "Wir alle wissen doch, daß Trotzki grundlegende Kategorien des Marxismus-Leninismus nie begriffen hatte, wie konnte er dann eine Alternative zum Genossen Stalin sein?" Ich will jetzt nicht den Pluralis majestatis dechiffrieren, sondern nur anmerken: Das muß dem doch jemand ins Gehirn geschult haben. Der Punkt ist, daß die reformerische, demokratisch-sozialistische Linke 1989, noch in der DDR, stolz darauf war, das Parteilehrjahr abgeschafft zu haben. Es wurde aber nichts an dessen Stelle gesetzt. Die Programmdebatten der PDS verliefen als ideologische Spiegelfechtereien und wurden durch Formelkompromisse beigelegt. Eine systematische theoretische Neuaneignung der Welt hat nicht stattgefunden. Das aber machte die Linke seit Marx aus. Daß da seit dessen Zeiten Annahmen falsch waren, bedeutet doch aber nicht, auf derartige politische Bildung überhaupt zu verzichten. Die geistige Kapitulation etlicher Jungpolitiker, etwa der PDS, vor dem Neoliberalismus ist nur Ausdruck dessen, daß anderes sie nicht gelernt haben. Die Universitäten sorgen für Berufung von Mainstreamgestalten, und die bringen nur ihre Abbilder hervor. Die Kohlsche Zerstörung der universitären ostdeutschen linken Intelligenz zeigt auch hier ihre Wirkungen. Bei den Linken der SPD und der Grünen scheint es auch nicht viel anders zu sein. Man muß weit zurückgehen, um dann einen Peter von Oertzen oder einen Oskar Negt zu finden. Die Diskussionserfahrungen der 68er haben ihren aufgesetzt marxistischen Gehalt längst verloren und sind zur Debattentechnologie ohne eigenen Inhalt mutiert. Und die Wahlalternative will ja sowieso keine linke Partei sein. Das Brechen der Hegemonie des Neoliberalismus aber beginnt in den Köpfen. Vielleicht schafft es ja unser Thomas Müller auch noch.

in: Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII) Berlin, 17. Januar 2005, Heft 2

weitere Artikel im Heft:
Ines Fritz: Sich armarbeiten; Erhard Crome: Gepflegte Unbildung; August Bebel: Materielle Unabhängigkeit; Wolfgang Geier: Amoral; Rainer Vangermain: MachÂ’s doch; Günter Krone: Patriotismus; Achim Engelberg: Fremder Nachbar; M. R. Richter, Kiew: Nach der Wahl; André Brie: Reisetagebuch II; Klaus Hart, Rio de Janeiro: Chico Buarque; Hermann-Peter Eberlein: Die Pflicht; Mathias Iven: Musik und Literatur; Peter Jacobs: Leuchtendes Mecklenburg; Jens Knorr: Alexander meets Hannibal Lecter: Thomas Rüger: Früchte des Fortschritts;