Das Labyrinth des Befreiers

Über Simón Bolívar, Namensgeber der "Bolivarianischen Revolution".

In letzter Zeit ist viel von der "Bolivarianischen Revolution" in Venezuela die Rede. Aber wer war eigentlich der Namensgeber dieses Prozesses und wie kommt es, dass er ausgerechnet nach ihm benannt ist?

Simón Bolívar war der Anführer in den Unabhängigkeitskriegen der heutigen Staaten Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Panama, Peru und Bolivien gegen die spanische Kolonialmacht in den Jahren 1810 bis 1824. Bolivien, das damalige Oberperu (Alto Perú), wurde sogar nach ihm benannt. Seiner Herkunft nach war der 1783 in Caracas Geborene ein Angehöriger der kreolischen Oberschicht. Unter Kreolen verstand man die in Südamerika geborenen Nachkommen der spanischen Eroberer. Seine Familie besaß über 200 Sklavinnen und Sklaven. Karl Marx hatte keine hohe Meinung von Bolívar. In einem Artikel für die New American Cyclopaedia von 1858 beschreibt Marx ihn als opportunistischen und wankelmütigen Abenteurer, der den Lorbeer anderer unverdient geerntet hat. Hier eine Kostprobe: "Aber wie die meisten seiner Landsleute war er [Bolívar] jeder länger währenden Anstrengung abgeneigt, und seine Diktatur artete bald in eine Militäranarchie aus, in der die wichtigsten Angelegenheiten den Händen von Favoriten überlassen blieben, die die Finanzen des Landes verschleuderten und dann zu widerwärtigen Mitteln griffen, um sie wieder in Ordnung zu bringen."

Ein bürgerlicher Revolutionär
In Lateinamerika war Bolívar jedoch zu allen Zeiten hoch geehrt und man verlieh ihm schon zu Lebzeiten den Titel "Libertador" - Befreier. An seinem Denkmal in Caracas gingen die Menschen früher angeblich nur mit gezogenem Hut vorüber. Man könnte jetzt einwenden, dass die damals in den meisten lateinamerikanischen Ländern herrschende Oligarchie eben ihren Vorkämpfer feiern ließ. Heute berufen sich jedoch die linke Regierung des Präsidenten Chávez und die Basisbewegungen in Venezuela, die ihre Anhängerschaft vorwiegend in den Unterschichten haben, auf Bolívar. Offensichtlich ist er nicht nur der Held der Oberschicht. Was macht Bolívar auch heute noch für lateinamerikanische Linke interessant?
Folgender heute in Venezuela häufig zitierte Ausspruch von Bolívar gibt vielleicht einen Hinweis: "Das vollkommenste Regierungssystem ist dasjenige, welches das größte Glück, die größte soziale Sicherheit und die größte politische Stabilität schafft." Das Zitat zeigt, dass Bolívar stark von der bürgerlichen Aufklärung beeinflusst war. Er hat nachweislich Montesquieu, Voltaire und Rousseau gelesen. Sein Lehrer Simón Rodríguez galt als ein wichtiger Vertreter der Aufklärung - vor allem auf dem Gebiet der Pädagogik - im kolonialen Südamerika.
Werfen wir zunächst einen Blick auf Bolívars Haltung zur Sklaverei. In den Jahren 1815/16 befand sich Bolívar im Exil auf Haiti. Die Inselrepublik stellte eine Ausnahme unter den neuen Staaten des amerikanischen Kontinents dar. Dort hatten nicht die europäischen Kolonisten, sondern die schwarzen Sklaven die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich erkämpft. Die staatliche Selbstständigkeit ging hier mit einer sozialen Revolution einher, die die Befreiung der Sklavinnen und Sklaven, die Aufteilung des Großgrundbesitzes unter sie und die Übernahme der politischen Macht durch ihre Repräsentanten brachte. Dem damaligen Präsidenten Haitis, Pétion, soll Bolívar die Befreiung der Sklavinnen und Sklaven versprochen haben. Er löste sein Versprechen noch im Jahr 1816 ein, als er bei seiner Landung auf dem südamerikanischen Festland die Sklavenbefreiung verkündete. Diese Deklaration blieb jedoch Papier. Nur seine eigenen ließ Bolívar effektiv frei. In den Verfassungsdiskussionen der 20er Jahre des 19.Jahrhunderts setzte sich Bolívar aber immer wieder für die Abschaffung der Sklaverei ein. 1821 konnte er erreichen, dass der Kongress von Neugranada (dem heutigen Kolumbien) beschloss, dass alle Sklaven, die in der Unabhängigkeitsarmee dienten und alle zukünftig geborenen Söhne von Sklaven frei sein sollten. Außerdem wurde eine Erbschaftssteuer beschlossen, durch die jedes Jahr ein Teil der Sklavinnen und Sklaven durch den Staat freigekauft wurde. Die Politiker nahmen Rücksicht auf die Großgrundbesitzer, auf deren Unterstützung sie bei der Erringung der Unabhängigkeit angewiesen waren. Zu Bolívars Lebzeiten wurde die Sklaverei nicht endgültig abgeschafft. Erst im weiteren Verlauf des 19.Jahrhunderts schafften sie die Länder Lateinamerikas nach und nach ab, das Schlusslicht war Brasilien im Jahr 1888.
Die von den Spaniern eingeführte Kopfsteuer für die indigene Bevölkerung wurde ebenfalls 1821 in Neugranada abgeschafft. Diesem Beispiel folgten die anderen Republiken erst später. Insgesamt blieben die sog. Indios in ihrem diskriminierten Status und standen dem Unabhängigkeitskampf eher indifferent oder teilweise sogar feindlich gegenüber, weil sie sich von der Kolonialmacht Schutz gegen die Übergriffe der Siedler erhofften. Bolívar versuchte zwar, an die vorkolumbianische Tradition, vor allem an das Reich der Inka, anzuknüpfen. Insgesamt spielte dieser Aspekt jedoch im Unabhängigkeitskrieg der südamerikanischen Länder keine große Rolle.

Lateinamerikanische Einheit
Ein zentraler Aspekt, der heute noch eine Rolle spielt, ist Bolívars Idee von der Einheit Lateinamerikas. Eduardo Galeano schreibt in Die offenen Adern Lateinamerikas: "Lateinamerika wurde in der Vorstellung und in der Erwartung von Simón Bolívar, José Artigas und José de San Martin als ein einziger großer Raum geboren, aber der Kontinent war von Anfang an durch die grundlegenden Missbildungen des Kolonialsystems zerrissen." Die Zerstückelung des Kontinents in mehrere Staaten lag im Interesse der am Freihandel orientierten Oligarchien, die eng mit der neuen imperialistischen Vormacht des 19.Jahrhunderts, Großbritannien, zusammen arbeiteten. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts traten dann die USA an deren Stelle.
Bolívar setzte sich Zeit seines Lebens für eine Föderation aller lateinamerikanischen Staaten ein. Man könnte es fast als das Leitmotiv seines politischen Lebens sehen. Die von ihm begründete Republik Groß-Kolumbien umfasste neben dem heutigen Kolumbien Venezuela, Ecuador und Panama. Noch zu seinen Lebzeiten zerfiel dieser Staat in drei Republiken. (Panama wurde erst 1903 von Kolumbien abgetrennt.) In Personalunion war er außerdem Staatschef von Peru. 1826 fand auf seine Initiative der Kongress von Panama statt. Dieser Kongress war jedoch ein Misserfolg. Die nicht spanischsprachigen Länder Amerikas - Brasilien, Haiti, USA - wurden nicht eingeladen. Von den anderen Ländern erschienen Chile wegen eines Bürgerkrieges und Argentinien nicht, weil die Regierung den Plänen Bolívars misstraute. Als einziges nicht-amerikanisches Land war Großbritannien auf dem Kongress von Panama zugegen. Bolívar und die anderen Begründer der lateinamerikanischen Unabhängigkeit hatten mit Großbritannien eng kooperiert, weil es der Hauptgegner Spaniens war. Doch führte das Prinzip "der Feind meines Feindes ist mein Freund" auch hier wieder in die Sackgasse, weil Großbritannien wegen eigener ökonomischer und machtpolitischer Erwägungen kein Interesse an der lateinamerikanischen Einheit hatte. Es verfuhr nach dem Prinzip "teile und herrsche" und konnte so im 19.Jahrhundert gegenüber den formal unabhängigen Staaten Süd- und Mittelamerikas die Nachfolge Spaniens antreten.
Bereits 1823 legten die USA mit der "Monroe-Doktrin" (benannt nach James Monroe, US-Präsident von 1817 bis 1825) die ideologische Grundlage für ihren Vormachtanspruch auf dem amerikanischen Kontinent, den sie aber erst seit dem Ende des 19.Jahrhunderts verwirklichen konnten. Die "Monroe-Doktrin" besagte, dass sich die USA nicht in europäische Angelegenheiten einmischen wollte und dass die europäischen Mächte sich aus den Angelegenheiten der amerikanischen Staaten herauszuhalten hätten. Der zweite Teil wurde später so interpretiert, dass daraus ein Interventionsrecht der USA in Lateinamerika hergeleitet werden konnte. Bolívar warnte bereits damals vor dem Dominanzstreben der USA.
Bolívars "Lateinamerikanismus" war einflussreich unter den lateinamerikanischen Linken, die ihn antiimperialistisch interpretierten. So bezog sich u.a. Ernesto "Che" Guevara positiv auf Bolívars Idee der lateinamerikanischen Einheit. Laut seinem Biografen Paco Ignacio Taibo II nahm Guevara Bolívar gegen die Kritik von Marx ausdrücklich in Schutz. Auch heute spielt dieser Aspekt noch eine Rolle. Anfang Dezember 2004 wurde die CSN (Comunidad Sudamericana de Naciones - Südamerikanische Staatengemeinschaft) gegründet. Die Gründung erfolgte im peruanischen Cuzco unweit von Ayacucho, wo 1824 die entscheidende Schlacht gegen die spanische Armee im Kampf um die Unabhängigkeit gewonnen wurde. Die Bolivarianische Republik Venezuela gehört dem neuen Staatenbund zwar an, aber Präsident Chávez nahm nicht an der Gründungszeremonie teil. Er rief zusammen mit Kubas Staatschef Fidel Castro Mitte Dezember 2004 die "Bolivarianische Allianz für Lateinamerika" (ALBA) ins Leben, als Gegenpol zu der von den USA dominierten Freihandelszone ALCA, die den gesamten amerikanischen Kontinent umfassen soll.

Widersprüche
Neben diesen fortschrittlichen oder in einem emanzipatorischen Sinne interpretierbaren Seiten gab es bei Bolívar auch andere Aspekte. Er war zu Beginn des Unabhängigkeitskrieges für den "guerra a muerte" (Krieg bis zum Tode) verantwortlich, demzufolge alle Spanier, also alle nicht im Lande geborenen Weißen, ermordet werden konnten. Überhaupt wandte er die Todesstrafe bei politischen Gegnern und meuternden Soldaten recht großzügig an. Auch zeigte er ausgeprägte autoritäre Neigungen. Er ließ sich mehrmals mit diktatorischen Vollmachten ausstatten. Die von ihm entworfene Verfassung sah einen Präsidenten auf Lebenszeit vor. Darüber hinaus wurde ihm vorgeworfen, wie Napoleon nach der Kaiserkrone zu streben. Als sich Agustín de Iturbide 1822 in Mexiko zum Kaiser proklamieren ließ, soll Bolívar das ausdrücklich begrüßt haben. Die von ihm einberufenen Kongresse waren nicht unbedingt demokratisch legitimiert. Schließlich hatte er eine Neigung, alle Konflikte militärisch zu lösen.
Fast könnte man meinen, Bolívar vereine die Widersprüche Lateinamerikas in seiner Person. Er ist zugleich Befreier und Militärdiktator, Sozialreformer und Vertreter der Oligarchie, Unabhängigkeitskämpfer und ungewollter Wegbereiter des britischen Imperialismus. Die Grenzen seiner sozialen Herkunft konnte er jedoch nie überwinden. Der Historiker Gustavo Beyhaut schreibt: "[Es] ist festzustellen, daß es sich um Unabhängigkeit ohne Entkolonisierung handelt, daß die Revolution in erster Linie ein Aufstand der Kolonisten gegen die Mutterländer war, von dem die kolonisierten Rassen keinen größeren Nutzen hattenÂ…" In seinem Bolívar-Roman Der General in seinem Labyrinth drückt Gabriel García Márquez es so aus: "Â…doch der enge Kreis jener, die zusammen mit dem General die Unabhängigkeit durchgesetzt hatten, war die Elite der kreolischen Aristokratie Â… Die Bande des Bluts oder der Klasse bestimmten sie und hielten sie zusammen."
Offensichtlich waren auch Bolívar die Widersprüche in den neuen Republiken bewusst. Am Ende seines Lebens soll er gesagt haben: "Niemals werden wir glücklich sein, niemals." Und: "Ich habe ein Meer gepflügt." Es wird aber auch der Ausspruch überliefert: "Ich würde es wieder tun." Simón Bolívar starb am 17.Dezember 1830 vereinsamt und politisch isoliert. 1842 wurde sein Leichnam nach Caracas überführt, wo ihm ein Denkmal errichtet wurde. Heute ist er der Namensgeber der "Bolivarianischen Revolution", die vielleicht der staatlichen Unabhängigkeit mehr soziale Gerechtigkeit hinzufügt. Sie könnte in dieser Hinsicht das Werk Bolívars weiter entwickeln. Raul Zelik, Autor der Buches Made in Venezuela, formulierte es in einem Interview mit der SoZ so: "Das darf man Â… nicht unterschätzen: Die politische Erzählung des Bolivarianismus, die immer wieder appelliert an die nationale Souveränität, nationale Würde, das Recht auf soziale Reformen im souveränen Raum."