PDS-Tabus (3.): Parallelgesellschaften

In Jena wurde der Zeitgeschichtler Manfred Weißbecker (Vorgänger/Ost) und Lutz Niethammer (Nachfolger/West) nebeneinander gedacht

Vorbemerkung:
Der nachfolgende Veranstaltungsbericht über zwei nun in Jena im Ruhestand wirkende Historiker wurde im Auftrag der Tageszeitung junge Welt geschrieben; da jedoch der jW-Feuilletonredakteurs der Ansicht war, ich hätte zu schlecht über Weißbecker, zu gut über Niethammer berichtet, nun hier der ungekürzte Bericht.


Manfred WeißbeckerAm 12. Februar 2005 wurde in Jena deutlich, daß es hierzulande noch ganz andere "Parallelgesellschaften" gibt als jene, die dazu führten, daß dieser Begriff bei der Wahl zum Wort des Jahres 2004 auf dem zweiten Platz landete. Anderthalb Jahrzehnte nach der staatlichen Wiedervereinigung existiert ein geistigen Ost/West-Nebeneinander fort. Dessen Folgen sind intellektuelle Sterilität und unproduktive Ressentiments, durchaus ungleich verteilt auf beiden Seiten. Eine Robert-Musil-würdige "Parallelaktion" an jenen Samstag, mit der Jenaer Historiker gewürdigt wurden, machte dies deutlich.

"8. Mai 1945: Faschismus und Krieg als Gegenstand politischer Auseinandersetzungen" war Titel einer Veranstaltung, unter der sich vor allem alte DDR-Wissenschaftler in jenem Hotel versammelten, in dem schon der bekenntnisfreudige Martin Luther einst logiert hatte. Die Tagung würdigte den Faschismus- und Parteienforscher Manfred Weißbecker (Foto links oben), der bis Anfang der neunziger Jahre in Jena Zeitgeschichte gelehrt und letzte Woche seinen 70. Geburtstag gefeiert hat (über ihn und sein Schaffen: junge Welt, 8. Februar). Lutz NIethammerWährenddessen wurde auf der anderen Straßenseite, in der alten Universitätsaula, Weißbeckers Nachfolger, der ebenfalls linke, von Essen nach Jena gewechselte Historiker Lutz Niethammer (Foto links unten), der Weihnachten 65 Jahre alt geworden war, im Beisein vieler Wissenschaftler und Studierender in den Ruhestand verabschiedet.

Atmosphärisch trennten Welten: Während im modernen Hotelsaal Renterinnen einem kaum von Diskussionen unterbrochenen Referate-Reigen lauschten und eifrig wie bei Vorträgen des Parteilehrjahrs Notizen machten, signalisierten in der alten Aula Beifallsstürme intellektuelle und ästhetische Erregung nach unkonventionellen Reden, die verbunden wurden durch originelle, keineswegs laienhafte Jazzeinlagen eines Piano-Saxophon-Duos aus dem Freundeskreis Niethammers.

An der 8.Mai-Veranstaltung vermißte man etwas die Konzentration auf die Erforschung des Kriegsendes; eher steuerten Forschungs- und Publikationsinteressen der Referenten den Inhalt. Erika Schwarz und Kurt Pätzold beschrieben das Jahr 1935 - Weißbeckers Geburtsjahr - als Wegmarke gen Abgrund (dazu gibt es ein neues Buch der beiden). Auch zum angesichts der grassierenden His-Story-Seuche wichtigen Beitrag Gerd Wiegels über "Familiengeschichte vor dem Fernseher: Erinnerte NS-Geschichte in den Dokumentationen Guido Knopps" ist vom Autor anderswo etwas nachzulesen (in dem 2004 von Michael Klundt herausgegebenen Band "Heldenmythos"). Günter Benser widmete sich dem "Stunde Null"-Gerede und hob hervor, daß es 1945 eher "Übergänge und Kontinuitäten" gab und daß Nähe zur Nazipartei "auch im Osten" sich als "nur zeitweises Karrierehemmnis" erwies. Das wäre eine hervorragende Gelegenheit gewesen, die Brücke zu den Forschungen Lutz Niethammers zu schlagen, hat dieser doch profilierte Beiträge zur Debatte über die angebliche "Restauration" nach 1945 und über die Entnazifizierung beigesteuert. Aber der Name des nebenan gerade emeritierten, deutschen Historikerkollegens aus dem "Westen" (eigentlich stammt Niethammer aus dem Süden Deutschlands) fiel nicht - man fragt sich, inwiefern dessen Forschungen hier im "Osten" (im Gebiet des "Mitteldeutschen Rundfunks" und des bereits zu DDR-Zeiten existierenden "Mitteldeutschen Verlags" müßte man eigentlich von der Mitte Deutschlands sprechen) rezipiert wurden (s.u.: Niethammer als Gast in der DDR).

Werner Bramke erläuterte kenntnisreich den Streit um das sächsische Gedenkstättenkonzept und den Versuch, unter der Ägide der Totalitarismusdoktrin "asymmetrische Parallelgeschichte" zu etablieren. Während im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig 30 Hauptamtliche, einschließlich ABM- und sonstige Zeitvertragskräfte gar rund Hundert Beschäftigte sich der DDR-Zeit widmen, fristet die NS-Gedenkstättenarbeit ein Schattendasein. Werner Röhr nahm sich eines heiklen, aber in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzenden Themas an: "Opfer, Opfer, Opfer! Codierungen des Vergangenheitsdiskurses beim Weltmeister der ‚Vergangenheitsbewältigung’".

Intellektueller Höhepunkt der Tagung war das Referat des jungen Historikers Mario Keßler über "Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung am Beginn des Kalten Krieges: Das Beispiel Franz Borkenau". Borkenau war als Renegat der KPD in der DDR eine Unperson. Keßler zeichnete das faszinierende Bild eines Intellektuellen jüdischer Herkunft, der nach katholischer Taufe zum reformierten Glauben übergetreten war, dann sein Heil in den Reihen der KPD fand, aus dieser in der linkssektiererischer Periode als Rechtsabweichler 1929 entfernt wurde, in der Emigration beim Abhördienst der BBC arbeitete, von den Engländern als Staatenloser nach Australien deportiert wurde und nach Kriegsende, nach einem Intermezzo als Hochschullehrer in Marburg, Mitarbeiter der US-Militärverwaltung und zusammen u.a. mit Melvin Lasky (junge Welt, 1. Juni 2004) als militanter, jedoch niveauvoller Antikommunist bekannt wurde, bis er 1957 überraschend in Zürich verstarb. Gleichwohl hielt Borkenau, dem wir die Studie "Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild", das anregende Buch "Der europäische Kommunismus" sowie - aus dem Nachlaß von seinem Freund "Rix" Löwenthal (dem kommunistischen Abweichler und späteren SPD-Theoretiker, nicht zu verwechseln mit dem Anti-Links-Eiferer des ZDF) herausgegeben - den Band "Ende und Anfang" über die schöpferische Rolle barbarischer Völker in der Kulturgeschichte verdanken, bis zum Lebensende Kontakt zu seinem im linken Milieu verbliebenen Freund Ossip K. Flechtheim (junge Welt, 1. September 2001 - zu dieser Beziehung, so Keßler gegenüber mir, könne man in einer von ihm zum 100. Geburtstag des 1998 gestorbenen Flechtheim geplanten Publikation mehr nachlesen), einem Ex-Kommunisten, der als Professor in Westberlin eine vorzügliche Geschichte der KPD in der Weimarer Republik vorlegte und in Deutschland die Futurologie hoffähig machte.

Die beiden Jenaer Parallelgesellschaften jenes Wochenendes machten deutlich, daß nicht leichthin von gegenseitiger Entfremdung, von Äquidistanz beiderseits gesprochen werden sollte. Weißbecker selber berichtete in seinem Schlußwort zur Tagung der Luxemburg-Stiftung, daß Lutz Niethammer als sein Nachfolger auf dem zeitgeschichtlichen Lehrstuhl ihn einst in eine Lehrveranstaltung eingeladen habe. Hat die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung Niethammer zu sich auf ein Podium eingeladen - warum nicht ausgerechnet zu seinen in den neunziger Jahren in Thüringen publizierten Forschungen über die "roten Kapos" im Konzentrationslager Buchenwald? Daß einige im PDS-Milieu (selbstverständlich nicht der besonnen abwägende Jubilar Weißbecker, der stets um Differenzierungen bemüht ist) Niethammer, den Begründer der Oral-History (nicht zuletzt in der Arbeiterklasse) und einen Nestor linker, bundesdeutscher Geschichtswissenschaft, wegen seiner Beschäftigung mit Tabus des DDR-Antifaschismus gar für einen "Rechten" halten, wirkt wie eine Neuauflage der Verblendungen (Stichwort: "Sozialfaschismus") innerhalb der Linken der Weimarer Republik auf heutzutage anderem, harmloseren Niveau. Niethammer war 1986/1987 immerhin Gastforscher an der Akademie der Wissenschaften der DDR und durfte Oral History-Erhebung in Industriestädten der DDR durchführen (zusammen mit dem Ex-Maoisten der KPD/AO Alexander von Plato sowie D. Wierling; 1991 erschienen unter dem Titel "Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR").

Intellektuelle Souveränität auf der anderen Seite: Nachwuchshistoriker, die noch zu Weißbeckers DDR-Zeiten in Jena Geschichte studiert hatten und heute in bzw. um Niethammers Universitätsinstitut arbeiten, scheuten sich nicht, vor Beginn der Emeritierungsfeier noch einige Stunden die Tagung der Luxemburg-Stiftung zu verfolgen. Bevor sie zur Verabschiedung Niethammers auf der anderen Straßenseite in die Aula entschwanden, wo in den vorderen Reihen Ex-Ministerpräsident Bernhard Vogel, der seinen einstigen Studienfreund in Heidelberg umarmte, und in der letzten Reihe auch Ex-Bundeskanzleramtschef Bodo Hombach zu sichten waren; 1998 bis 2001 war Niethammer Kanzleramtsberater für die "Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen: Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zu Fragen einer Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter.

In seiner Dankesrede kritisierte Niethammer an hervorgehobener Stelle, daß immer noch kein Zeitgeschichtslehrstuhl hierzulande von einem Forscher aus dem Osten besetzt ist. Das bewertete Niethammer mit einem Fouché-Zitat ("Plus qu'un crime, c'est une faute"), ohne diesen dabei zu nennen: "Es ist kein Verbrechen, schlimmer, es ist ein Fehler."

  • NEUERSCHEINUNG:
    Jürgen John/Dirk van Laak/Joachim von Puttkamer (Hg.):
    "Zeit-Geschichten. Miniaturen in Lutz Niethammers Manier",
    Essen 2005: Klartext-Verlag, 342 Seiten/22,00 EUR, ISBN 3-89861-404-2