Kein Wehner. Nirgends

Wahlen in Deutschland und das manchmal "irritierende Verhalten" fremder Wahlstimmen

Die Fegefeuer des Kommunismus hatte er hinter sich. Nach 1945 war er Sozi, in Westdeutschland. Vielleicht war er der wichtigste der demokratischen Sozialisten" im Nachkriegsdeutschland. Vielen traditionellen Sozialdemokraten gegenüber hatte er aus seiner kommunistischen Vergangenheit heraus den Vorteil zu wissen, daß es um Macht geht. Und daß man etwas dafür tun muß.
Sein Meisterstück lieferte er im April 1972. Die CDU/CSU-Fraktion hatte im Bundestag ein "konstruktives Mißtrauensvotum" gegen den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik, Willy Brandt, beantragt. Zuweilen werden noch heute Fernsehbilder der damaligen dramatischen Situation gesendet: Die Christdemokraten mit dem damaligen Vorturner Rainer Barzel an der Spitze liefen herum "wie ein paar fette Katzen, die gerade einen Schwarm Kanarienvögel verschlungen haben. Sie sahen aus, als ob sie etwas wüßten, was wir noch nicht wußten". Das Zitat gehört eigentlich nicht zur CDU. Es ist von Michael Moore und beschreibt die Erscheinungsweise der Bush-Familie bei der gefälschten Wahl 2000. Der Vergleich aber stimmt: Die Republikaner in den USA wie die Christdemokraten in Deutschland betrachten sich als die geborene Regierungspartei. Die Demokraten in den USA und die Sozialdemokraten in Deutschland werden bereits als "illegitime" Regierer angesehen, von noch "linkeren" Parteien stets abgesehen. Gegen diese kann man, so das Selbstverständnis, eigentlich jedes Mittel in Ansatz bringen.
In den USA bei Bush II 2000 war das die offensichtliche Wahlfälschung, am Ende mit Unterstützung des Obersten Gerichts. In der BRD 1972 war es der Einkauf von Abgeordneten der Regierungskoalition von SPD und FDP. Die machten dann natürlich alle "Gewissensgründe" geltend.
Die aber liefen auf eine Verfälschung des Wahlergebnisses von 1969 hinaus. Das aber berührte die "fetten Katzen" mit den Kanarienvögeln im Bauch nicht. Nur Wehner hatte das richtige Gefühl: Er kaufte einen christdemokratischen Abgeordneten - auch dort hat ab und an einer Geldnöte - und verhinderte damit den Sieg der fetten Katzen: Es ging mit 249 zu 247 Abgeordnetenstimmen für Brandt aus.
Im Januar 1976 erreichten die Christdemokraten dann in dubioser Lage eine Mehrheit in Niedersachsen. Wahrscheinlich hatte Wehner das unterschätzt. Zuvor hatte die SPD-FDP-Koalitionsregierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Alfred Kubel eine Mehrheit besessen.
Als Kubel zurücktrat und einem anderen SPD-Politiker das Feld überlassen wollte, waren plötzlich Stimmen für den CDU-Mann Ernst Albrecht da, die nicht aus den Landtagswahlen herrühren konnten. CDU-Albrecht regierte lange Zeit - bis Schröder Ministerpräsident wurde.
Betrachtet man die eigenartigen Wahlergebnisse in Deutschland seit 1949, wird eines klar: Die Bürgerlichen hatten nie ein Problem damit, sich selbst zu wählen - wie schon Adenauer 1949. Er wurde mit 202 von den 402 möglichen Stimmen des damaligen Bundestages gewählt, das heißt mit seiner eigenen Stimme. Irreguläre Wahlergebnisse gab es immer nur auf der anderen Seite.
Jetzt also Heide Simonis. Wissen Sie noch, wer das ist? Das war jahrelang die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, die erste Frau in Deutschland, die ein solches Amt innehatte. Jetzt teilt die bürgerliche Presse voller Eifer mit, Frau Simonis habe nichts besseres zu tun, als Quilt-Decken zu nähen. War das auch schon vor den Wahlen ihr eigentliches Lebensziel? Wohl kaum!
Die Schwarz-Gelben in Schleswig-Holstein hatten die Wahlen definitiv nicht gewonnen, auch wenn das Ergebnis am Ende knapp klang. Aber es war klar: Die SPD und die Grünen und der Südschleswigsche Wählerverband hatten zusammen eine Mehrheit. Dann wurde zuerst eine unglaublich nationalistische Hetze vom Zaune gebrochen, ob denn "die Dänen" berechtigt seien, eine "deutsche" Regierung zu bestimmen. EU hin oder her, der Feind steht in Kopenhagen! Oder nicht?
Jedenfalls hatte Heide Simonis dann in den Abstimmungen im Landtag jeweils eine Stimme zu wenig, um erneut Ministerpräsidentin zu werden. Jetzt wird der CDU-Mann Peter Harry Carstensen neuer Ministerpräsident, obwohl er durch die Landtagswahl keine Mehrheit hatte. Er wirkt auf allen Bildern wie der mit den Kanarienvögeln im Bauch. Wehner hätte sicher beizeiten einen CDU-Mann gekauft, der gerade klamm war. Aber Heide Simonis glaubte ja an alle Stimmen, die auf dem Papier standen. Nur eines ist anders: das Machtverständnis der geborenen Regierungspartei. Kein Wehner. Nirgends. Und 2006 ist bald.

Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII) Berlin, 11. April 2005, Heft 8

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