Wachstum ist möglich!

Die Renaissance der Industriepolitik

Hintergrund der Wiederentdeckung eines fast schon verschwundenen Begriffs ist die Einsicht, dass die Diskussion um den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft zu eindimensional geführt worden ist.

Wachstum ist möglich!
Einleitung zum spw-Schwerpunkt 140, S. 11-12, Dezember 2004

Von Reinhold Rünker und Alexander Bercht

Reinhold Rünker, lebt und arbeitet als Organisationsberater in Leichlingen, Mitglied der spw-Redaktion
Alexander Bercht, studiert BWL sowie Politikwissenschaft, er ist Juso-Landesvorsitzender in NRW und lebt in Münster

Die Renaissance der Industriepolitik
Hintergrund der Wiederentdeckung eines fast schon verschwundenen Begriffs ist die wohl nicht ganz falsche Einsicht, dass die Diskussion um den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft in den vergangenen Jahren zu eindimensional geführt worden ist. Man folgt nun der Erkenntnis, dass gerade der steigende Anteil der industrienahen Dienstleistungen zum einen Outsourcing-Effekten geschuldet und zum anderen natürlichen einen industriellen Kern für ein stabiles Wachstum benötigt.
Gerade die Auseinandersetzung um das Opel-Werk in Bochum hat den handelnden Personen wohl noch einmal plastisch vor Augen geführt, was der Verlust klassischer Industriezweige für Arbeit und Beschäftigung und damit für die wirtschaftliche Entwicklung weiter Teile des Landes bedeuten würde. So würde z.B. der Verlust von Chemieund Automobilindustrie in seiner dramatischen Wirkung dem Rückgangs der Montanindustrie im Ruhrgebiet in nichts nachstehen.

Wachstum ist möglich
Wenn wir den Blick in die europäischen Nachbarstaaten, über den Atlantik oder gar den Pazifik richten, stellen wir fest, dass Wachstumsraten deutlich über der deutschen Quote von ca. 1,4 % offensichtlich doch möglich sind. Warum klappt das in Deutschland nicht? Ein Grund scheint offensichtlich: seit Ende der 1980er Jahre leidet die deutsche Wirtschaft unter einer andauernden Binnenmarktschwäche, die durch die einheitsbedingte Konjunktur zu Beginn der 1990er Jahre und der new-economy-Blase in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre nur verdeckt wurde. Neben der deutlichen Kaufzurückhaltung im privaten Konsum führen die jedes Jahr den öffentlichen Haushalten auferlegten Sparprogramme zu einer Strangulation auch der öffentlichen Nachfrage.
Statt aber der hinter den Erwartungen zurückbleibenden Binnennachfrage auf die Sprünge zu helfen, findet eine öffentliche Debatte statt, die weiteres Sparen und "Maßhalten" (natürlich der abhängig Beschäftigten und der Öffentlichen Haushalte) fordert und manche obskure und widersinnige Idee gebiert: Streichung von Feiertagen, Pinkel- und Teepausen etwa, die Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit, die Kürzung von Löhnen und Gehältern, etc., die aber weder Wachstum noch Beschäftigung bringen, dafür aber um so mehr zur Demotivation der Beschäftigten und Depression der gesellschaftlichen Gemütslage führen. Alle diese Maßnahmen führen zu weiterem Arbeitsplatzabbau, wenn bei gleichbleibender Produktivität und konstanter Nachfrage die gleiche Produktionsmenge in längerer Gesamtproduktionszeit erstellt werden kann. Aufgrund der gestiegenen physischen und psychischen Belastung der Beschäftigten besteht die Gefahr, dass Produktivität und Qualität der Produkte leiden. Das weitere Schwingen der Produktivitätspeitsche verkehrt sich daher in sein Gegenteil.

Unvollendeter Strukturwandel
Auch wenn wir an dieser Stelle die Notwendigkeit betonen die Binnenmarktnachfrage zu entwickeln, wollen wir aber nicht verkennen, dass auch die bundesdeutsche Wirtschaft sich strukturellen Veränderungen stellen muss, die wachstumsrelevant sind. Thomas Westphal hat in unserem Schwerpunktheft "Innovativer Kapitalismus" im Sommer 1998 drei Faktoren benannten, die in unterschiedlichem Maße auch heute noch einer Auflösung harren: Zunächst müssen wir die Stagnation ehemaliger dynamischer Massenmärkte feststellen (nicht nur bedingt durch die Reallohnverzichte und Einsparungen der öffentlichen Haushalte, sondern weitgehend aufgrund von Marktsättigung), des weiteren hat sich aufgrund des Abbaus von Handelshemmnissen im Rahmen von EU- und GATT-Verhandlungen aber auch durch die erheblichen Konzentrationsprozesse der internationale Verdrängungswettbewerb forciert. Schließlich haben sich neue Formen der Arbeitsorganisation herausgebildet, die sowohl den Produktions- als auch den Managementsektor erheblich verändert haben (s. zu den strukturellen Veränderungen insgesamt auch Dörre/Röttger in spw 135).
Die Frage von Wachstum und Beschäftigung hängt also nicht allein davon ab, in wie weit die Binnenmarktnachfrage gestärkt werden muss, sondern auch, ob es gelingt, diesen dreifachen Strukturwandel wachstums- und beschäftigungsorientiert zu bewältigen.
Dies erfordert den gestaltenden Eingriff gesellschaftlicher Instituitionen in die Verwertungsbedingungen.
Die Debatte darüber hat Tradition in spw.
Dabei hat sich ein Wandel hinsichtlich der Akteure und der an sie gerichteten Erwartungen vollzogen. Spielten in den "Herforder Thesen" die Verflechtung von Staat und Kapital als Stamokap und Fragen der Sozialisierung insbesondere der Schlüsselindustrien eine bedeutende Rolle, wurde mit den 53- Thesen die Rolle des Staates eher als die eines Pioniers beschrieben, der nicht ausschließlich das Kapitalverwertungskalkül bedient, sondern dort mit Investitionen und Steuerungsleistungen eintritt, wo zum Beispiel zukunftsgerichtete Felder für Wachstum und Beschäftigung gesichert oder erschlossen werden sollen. Die enormen Umstrukturierungs- und Deindustriealisierungsprozesse im Gefolge des Niedergangs der Kernindustriebranchen in Westdeutschland in den 1980er Jahren einerseits und in Ostdeutschland nach der Vereinigung andererseits machten augenfällig, dass Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit immer stärker über die betriebliche und branchenbezogen Interessensvertretung hinaus das Engagement für das lokale und regionale Umfeld erforderte. In den 1990er Jahren haben wir uns daher intensiv mit Problemen und Möglichkeiten regionaler Strukturpolitik auseinandergesetzt. und den Fokus gesellschaftlicher Eingriffe auf regionale und auch lokale Akteure ausgeweitet. In einem gemeinsamen Dialog mit radikalreformerischen Kräften entstanden hieraus eine Reihe von konkreten Reformvorschlägen (vgl. crossover (Hrsg.), Regionales Wirtschaften als linke Reformperspektive, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000).

Innovation und Gerechtigkeit
Unter dem Motto "Innovation und Gerechtigkeit" hatte die SPD 1998 ihren bundespolitischen Gestaltungsanspruch erhoben. Die Linke hat diesen Slogan seinerzeit kritisch betrachtet, nicht weil sie etwas gegen Innovationen und schon gar nichts gegen Gerechtigkeit hatte. Der kritikwürdige Punkt schien jedoch darin zu liegen, dass die Begrifflichkeiten einer globalisierungsunkritischen und allein marktorientierten Umdeutung unterzogen werden sollten. Einer derart verkürzten (oder besser gesagt "verbogenen") Deutung haben wir entgegen gesetzt, dass Innovation neben den notwendigen technischen Neuerungen und Verbesserungen auch einen gesellschaftlich-inhaltlichen Impetus haben müssen und an inhaltlichen Kriterien wie der Durchsetzung einer sozialen und ökologischen Entwicklung sowie der Emanzipation der Menschen orientiert sein müssen.
Wenn also heute wieder eine Debatte über Innovation und Gerechtigkeit beginnt, so verweisen wir erneut darauf, dass nicht alles innovativ und gerecht ist, nur weil es der Gewinnmaximierung dient. Die Nachhaltigkeit von Innovationen sowohl in ökologischer als auch sozialer Hinsicht, wie es u.a. in unserem Schwerpunkt "Nachhaltigkeit als Reformprinzip" (spw 126, 4/2002) oder aber auch von Hermann Scheer in seinen ausgewählten Wachstumsfeldern (vgl. spw 129, 1/ 2003) formulierte, ist notwendige Bedingung sozialdemokratischer Industriepolitik, wenn sie nicht zum ökonomischen Placebo der politischen Hilflosigkeit reduziert werden will.

Politik für Arbeit
Erst die Verbindung mit einer klaren sozialpolitischen Flankierung erleichtert die Initiierung und Durchführung strukturpolitischer Veränderungsprozesse. Die Debatte der letzten Monate um die Reformen am Arbeitsmarkt folgte jedoch genau der gegenteiligen Logik. Wer sich jedoch von Hartz IV bedroht sieht wird nicht zu einem Träger und Befürworter von Innovationsprozessen in seiner Region werden. Gerade durch die Auswahl arbeitsmarktpolitischer Instrumente muss deutlich gemacht werden, dass allen eine Perspektive im ersten Arbeitsmarkt gegeben werden soll. Aber genau diese Perspektive wird durch das Vertrauen auf 1-Euro- Jobs nicht gegeben. Daher wäre es fatal zukünftig einseitig auf dieses Instrument zu vertrauen. Vielmehr kommt es darauf an, umfassende Integrationsstrategien in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu entwickeln. Bei der Ausgestaltung der Integrationsleistungen für Arbeitssuchende nach dem neuen SGB II ist es daher wichtig, alle erforderlichen Leistungen aktiver Arbeitsmarktpolitik vorzuhalten, um den unterschiedlichen Problemlagen der Menschen gerecht zu werden.
Öffentlich geförderte Arbeitsgelegenheiten können daher nur ein Baustein der Arbeitsmarktpolitik sein, wenn eine direkte Vermittlung, eine Qualifizierung oder Trainingsmaßnahme in einem Betrieb nicht möglich ist. Zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Arbeitsgelegenheiten dürfen nicht zur arbeitsmarktpolitischen "Sackgasse" werden, sondern müssen Sprungbrett zu Integration in den ersten Arbeitsmarkt sein. Sie können daher nur ein Baustein einer individuellen Integrationsplanung sein. Dazu müssen sie zum einen so wirtschaftsnah wie möglich angeboten werden, zum anderen mit weiteren Integrationsmaßnahmen - insbesondere Qualifizierung - verbunden werden. Die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt muss Vorrang haben vor einem Verbleib in der Arbeitsmaßnahme. Vorübergehende geringfügige und dequalifizierende Beschäftigungen dürfen nicht zum Verzicht auf geeignetere, aber eventuell aufwändigere Eingliederungsinstrumente führen.
Ein Fragezeichen muss formuliert werden in Bezug auf die qualitative Entwicklung der Arbeitsplatzsituation im Rahmen des Übergangs von industriellen zu verstärkt dienstleistungsorientierten Branchen. Ein aktuelles Problem ist zum Beispiel dadurch gekennzeichnet, dass verstärkt auf Mini- und Midi- Jobs mit geringen Qualifikationsanforderungen gesetzt wird. Einher geht dieses Wachstum prekärer Beschäftigungsverhältnisse mit einem Verlust an Kaufkraft in der Region mit den entsprechenden Auswirkungen auf andere Wirtschaftszweige wie z.B. den Einzelhandel.
Ein weiterer negativer Aspekt dieser De-Qualifizierungsstrategie besteht darin, dass die Bindungswirkung der entsprechenden Unternehmen an eine bestimmte Region abnimmt bzw. nicht mehr gegeben ist.
Die Zukunfts- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft hängt aber nicht zuletzt davon ab, inwieweit sie auf gut ausgebildete Fachkräfte zurückgreifen kann. Doch gerade im Bereich der beruflichen Ausbildung stellt sich die Situation problematisch dar. Mit dem Verlust der Arbeitsplätze im Rahmen des Strukturwandels ging auch ein entsprechender Rückgang an Ausbildungsplätzen einher. Allein in Nordrhein-Westfalen werden in diesem Jahr voraussichtlich wieder über 9000 Jugendliche unversorgt bleiben.
Mit dem seit den 90er Jahren praktizierten Ausbildungskonsens lieferte NRW das Vorbild für den auf Bundesebene vereinbarten Ausbildungspakt. Die zentralen Schwächen dieses Instruments lassen sich nun auch bundesweit feststellen. Zum einen fehlt es den Vertragspartnern auf der Seite der Arbeitgeber an Durchsetzungsfähigkeit- und möglichkeit auf ihre Mitgliedsunternehmen, um gegen die mangelnde Ausbildungsbereitschaft vieler Unternehmen wirksam vorzugehen. Dennoch werden alle Beteiligten sowohl Ausbildungskonsens - wie in der Vergangenheit in NRW- als auch den aus Bundesebene geschlossenen Ausbildungspakt als Erfolg bewerten. Formal werden sie das vielleicht sogar zu Recht behaupten können. Erklärtes Ziel von Ausbildungskonsens und Ausbildungspakt sind nämlich nicht die Lösung des bestehen Gesamtproblems, alle Jugendlichen mit einem Ausbildungsplatz zu versorgen, sondern die Erfüllung selbst gesteckter Zielzahlen an Praktika und neuen - nicht zusätzlichen - Ausbildungsplätzen. Diese sind jedoch nicht dazu geeignet, die bestehende Lücke bei den Ausbildungsplätzen zu schließen.
Dies beweist, dass ein allein auf Freiwilligkeit setzendes Instrument zu keiner befriedigenden Lösung führt.
* Wir dokumentieren im spw-Schwerpunkt 140 (Dezember 2004) Beiträge der Jahrestagung des Forum DL21 vom 06. November "Eckpunkte linker Reformpolitik" (s. auch den Bericht von Joachim Schuster in diesem Heft auf S. 4) sowie einer gemeinsamen Tagung von Jusos NRW und spw am 13./14. November mit dem Titel "Wachstum ist möglich!". Staatsminister Wolfram Kuschke stellt die Erfahrungen aus dem Strukturwandel sowie die aktuellen Maßnahmen vor. Klaus Dörre berichtet über die Ergebnisse eine vergleichenden Studie, die sein Forschungsinstitut in den vergangenen Jahren in drei Regionen durchgeführt hat, die ihren Strukturwandel durch Instrumente regionaler Strukturpolitik zu bewältigen suchten. Im Vortrag, den Jan Priewe auf der DL21-Jahrestagung gehalten hat, wird die Frage diskutiert, in wie weit es für Markwirtschaften ökologische Grenzen des Wirtschaftswachstum gibt. Konkrete Felder innovativer Politik werden in den folgenden Beiträgen behandelt: Horst Vöge stellt die Gesundheits- und Seniorenwirtschaft als möglichen Motor des Strukturwandels dar, Marco Bülow und Holger Wallbaum beleuchten unterschiedliche Aspekte ökologisch sinnvoller Innovationen. Hermann Nehls und Hans Ulrich Nordhaus stellen die Notwendigkeit von Weiterbildung heraus und machen konkrete Vorschläge für politische Initiativen.

Literatur: Klaus Dörre, Bernd Röttger, Das neue Marktregime, in: spw 135 (2004), S. 25-33 Uwe Kremer, Comback des Staates, in: spw 65 (1992), S. 20-24
Uwe Kremer, Benjamin Mikfeld: Regionalwirtschaft und strukturpolitische Doppelstrategie, in: crossover (Hrsg.) Regionales Wirtschaften als linke Reformperspektive, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, S. 14-43
Hermann Scheer, Die Wirtschaftsfelder der Zukunft, in: spw 129 (2003), S. 52-56
Thomas Westphal, Programmiertes Wachstum und moderner Kapitalismus, in: spw 102 (1998), S. 25-32