Aus dem Takt: Europäische Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik.

In den 1990er Jahren wurden schrittweise wirtschaftspolitische Kompetenzen ganz oder teilweise auf die europäische Ebene verlagert. Dies betrifft insbesondere die Außenhandelspolitik, die Wettbewerbs- und Beihilfepolitik und die Währungspolitik, sofern die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion (EWU) beigetreten sind. Die verteilten Zuständigkeiten in wichtigen Fragen der Wirtschaftspolitik machen eine funktionierende wirtschaftspolitische Koordinierung unter allen Beteiligten erforderlich.
Ausgangspunkt wirtschaftspolitischer Koordinierung in der EU waren die sogenannten Grundzüge der Wirtschaftspolitik (BEPG), die seit 1993 jährlich durch den Rat der Europäischen Finanzminister (ECOFIN) beschlossen werden. Weiterentwickelt wurden die BEPGs durch speziellere Verfahren, die mit ihnen in Einklang stehen sollen. Dazu zählen der Stabilitäts- und Wachstumspakt zur Steuerung der Haushaltspolitik, die beschäftigungspolitischen Leitlinien für den Arbeitsmarkt (Luxemburg-Prozess), der Cardiff Prozess zur Reform der Waren- und Kapitalmärkte und schließlich der Makroökonomische Dialog (Köln-Prozess). Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat dabei den verbindlichsten Charakter, da er im Unterschied zu den anderen genannten Koordinierungsprozessen konkrete Sanktionen vorsieht. Auf dem Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs wurden diese und andere Prozesse im Rahmen der Lissabon-Strategie auf eine gemeinsame Plattform gestellt. Ziel der Europäischen Union ist es demnach, bis 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden.
Durch die Verlagerung der Außenhandels- und Geldpolitik auf die europäische Ebene und die gegenseitigen Verpflichtungen im Bereich der Fiskalpolitik verfügt kein Staat in Europa mehr über die alleinige Möglichkeit, die wichtigsten makroökonomischen Parameter alleine zu bestimmen. Statt dessen werden die Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung von einer Vielzahl von Akteuren auf europäischer und nationaler Ebene beeinflusst. Fraglich sind dabei zwei Dinge: Zum einen, ob das Zusammenspiel der verschiedenen Regulierungsinstrumente und -ebenen dem Grad der wirtschaftlichen Verflechtung in Europa angemessen ist. Zum anderen, ob die zur Verfügung stehenden Instrumente so eingesetzt werden, dass sie tatsächlich zur Schaffung von mehr Beschäftigung in Europa beitragen.
Wie viel Koordination ist möglich und nötig ?
Auch wenn die Notwendigkeit verstärkter wirtschaftspolitischer Koordinierung in der EU offensichtlich ist, sind Ausmaß und Mittel der Koordination nur schwer zu bestimmen. Ausgehend von der gemeinsamen Währung rücken bei der Betrachtung zunächst die geldpolitischen Interdependenzen in den Vordergrund. Auf die Geldwertstabilität wirkt neben der Zentralbank, die den Zinssatz steuert und die Geldmenge bestimmt, insbesondere die Lohnpolitik und - wenn auch in geringerem Maße - die nationale Haushaltspolitik. Die Möglichkeit der Regierung, über das "Anwerfen der Notenpresse" die Inflation anzuheizen ist dagegen nirgendwo in Europa mehr gegeben. Umgekehrt sind in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs die nationalen Volkswirtschaften auf geldpolitische Impulse in Form niedriger Zinsen angewiesen. Da die europäische Zentralbank ihre Zinspolitik an einer europaweiten Zielinflationsrate im Korridor von 0-2% orientiert, ist eine direkte Reaktion der Zinspolitik auf nationale Wachstumsschwächen jedoch schwieriger als zuvor. Auch hat die Zentralbank nur noch geringe Möglichkeiten, über die Zinspolitik Regierungen zu disziplinieren, die durch eine zu expansive Haushaltspolitik inflationäre Spannungen auslösen. Fraglich ist somit, inwieweit durch ein spannungsfreies Zusammenspiel von Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik eine wachstums- und beschäftigungsfördernde makroökonomische Politik in Europa erreicht werden kann. Die Koordinierung muss dabei sicherstellen, dass die einzelnen Akteure ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung nachkommen, ohne in ihren Kernzuständigkeiten eingeschränkt zu werden.
Prinzipiell steht in Europa in Form des sogenannten Makroökonomischen Dialogs ein Koordinierungsinstrument zur Verfügung, das diesen Kriterien entspricht.
Makroökonomischer Dialog
Der Makroökonomische Dialog, der durch den Europäischen Rat von Köln im Jahr 1999 eingerichtet wurde, ist das einzige Gremium, das auf technischer und politischer Ebene alle wirtschafts- und beschäftigungspolitisch verantwortlichen Akteure an einen Tisch bringt. Ziel ist ein Gedankenaustausch darüber, wie ein wachstums- und beschäftigungsfördernder Policy-Mix bei Wahrung der Preisstabilität erreicht werden kann. Teilnehmer sind Vertreter des Rates, der Kommission, der Europäischen Zentralbank und der Sozialpartner. Der Makrodialog bildet insofern einen geeigneten institutionellen Rahmen für den makroökonomischen Teil der wirtschaftspolitischen Koordination.
Trotz der institutionellen Möglichkeiten kann jedoch von einer tatsächlichen makroökonomischen Koordinierung in Europa nur eingeschränkt die Rede sein. So hat die unabhängige Europäische Zentralbank EZB bisher bei der Gestaltung der Zinspolitik Wachstumsaspekte weitgehend unberücksichtigt gelassen. Seitens der Gewerkschaften wurde kritisch registriert, dass trotz überwiegender Lohnzurückhaltung in den Jahren 2000 und 2001 keine deutlichen Zinssenkungen seitens der Zentralbank erfolgt sind. Ebenso ist die Europäische Kommission als Hüterin des Stabilitäts- und Wachstumspakts nur in begrenztem Rahmen bereit, im Sinne einer atmenden Konjunkturpolitik die Defizitkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts flexibler auszulegen und so den fiskalpolitischen Spielraum der Mitgliedstaaten zu erweitern. Grundsätzlich positiv hervorzuheben ist dagegen der Versuch der Gewerkschaften mehrerer EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg), im Rahmen der "Doorn-Initiative" einen Wettbewerb zwischen den nationalen Tarifverhandlungssystemen zu vermeiden und die Lohnpolitik verlässlich zu machen. Zu diesem Zweck hat die Initiative eine so genannte "Lohnkoordinierungsformel" aufgestellt, mit der der Spielraum für Nominallohnzuwächse als die Summe aus erwarteter Inflation und Produktivitätswachstum bestimmt werden kann. Diese Initiative ist besonders interessant, da sie die Anerkennung gegenseitiger Abhängigkeiten bei der Lohnbildung widerspiegelt. Sie könnte auf lange Sicht Grundlage für eine "entgegenkommende" Lohnpolitik sein, auf die die Zentralbank mit niedrigeren Zinsen reagieren kann. Bleibt die Frage nach den realen Möglichkeiten einer verbesserten makroökonomischen Koordination.
Zukunft der EZB
Zum einen ist es sinnvoll, die Europäische Zentralbank nach amerikanischem Vorbild auch auf ein beschäftigungspolitisches Ziel zu verpflichten. Dies würde die EZB zur ernsthafteren Teilnahme beispielsweise an dem Makroökonomischen Dialog verpflichten. Außerdem müsste Sie die Zinspolitik auch aus beschäftigungspolitischen Gründen rechtfertigen. In jüngerer Vergangenheit sind erhebliche Zweifel an der Zielinflationsrate von 0-2 % aufgetaucht. Ein breiterer Kriterienkatalog könnte auch hier einer zu engen Ausrichtung auf das Kriterium der Preisstabilität vorbeugen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen jedoch sieht sich die Zentralbank außerhalb jeder ex-ante Koordination, und eine Änderung dieser Bedingungen scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher unwahrscheinlich. Bleibt die Finanzpolitik, die unter nationaler Verantwortung besser als die Geldpolitik auf nationale Konjunkturschwankungen reagieren kann. Die Finanzpolitik ist jedoch durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt in besonderer Weise eingeschränkt. Fraglich ist, wie durch eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes der Spielraum für eine beschäftigungsfördernde makroökonomische Politik erhöht werden kann.
Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP)
Als Hauptkritikpunkt am gegenwärtigen Pakt ist die Tendenz zu einer pro-zyklischen Finanzpolitik hervorzuheben. Die Mechanismen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes enthalten keinen Konsolidierungszwang im Aufschwung und zwingen tendenziell zur Begrenzung von - auch konjunkturell bedingten - Defiziten im Abschwung. Dies liegt an der Konstruktion etwaiger Sanktionen, die nur in wirtschaftlichen Schwächephasen ansetzen, es aber umgekehrt keine Sanktionsmechanismen gibt, um in "guten Zeiten" eine Konsolidierung zu erzwingen. Die Grundidee des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist es, eine Situation zu erreichen, in der das strukturelle Defizit der öffentlichen Haushalte auf null zurückgefahren wird und nur noch die konjunkturellen Stabilisatoren im Rahmen der Drei-Prozent-Defizit-Regel zur Geltung kommen. Real lag das strukturelle Defizit in den Mitgliedstaaten zu Beginn des Paktes aber noch bei ca. 2,3 %. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs die konjunkturellen Faktoren (Zunahme der Sozialausgaben und Abnahme der Einnahmen aus Steuern- und Abgaben) schnell zu einer Überschreitung der Defizitkriterien führen. Das Defizitkriterium von 3% selbst ist wiederum willkürlich gewählt und kaum noch zu rechtfertigen. Grundsätzlich gilt der im SWP unterstellte Zusammenhang zwischen Budgetdefiziten und Inflationsraten nur eingeschränkt. Besonders deutlich wird dies am Beispiel Deutschlands, das im Jahr 2003 die höchste Neuverschuldung und die niedrigste Inflationsrate aller EU-Länder aufweist. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die meisten Länder, die keine übermäßigen Defizite aufzuweisen haben, auch über eine deutlich höhere Steuer- und Abgabenquote als Deutschland verfügen. Gerade die soll jedoch allen Empfehlungen der Europäischen Kommission zufolge in Deutschland weiter sinken. Diese Beispiele zeigen, dass eine koordinierte Fiskalpolitik die nationalen Besonderheiten deutlich stärker als bisher berücksichtigen muss. Im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts wurde dieser Tatsache in einem ersten Schritt dadurch Rechnung getragen, dass im Jahr 2003 einige Ergänzungen zur Interpretation des Paktes aufgenommen wurden. Diese eröffnen die Möglichkeit, stärker zwischen strukturellen und konjunkturellen Defiziten zu unterschieden und der individuellen Situation der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen. Da ein Verstoß gegen den Pakt auch nicht - wie oft falsch behauptet - bereits dann vorliegt, wenn ein Land das Drei-Prozent Defizitkriterium nicht einhält, sondern wenn bei einem übermäßigem Defizit die daraufhin geforderten Auflagen nicht erfüllt werden, ist der Pakt heute flexibler als es zunächst den Eindruck erweckt. An den grundsätzlichen Konstruktionsproblemen des Paktes hat sich damit aber nichts geändert.
Alternativen zum SWP
Alternativen zur Ausgestaltung des SWP werden zwar diskutiert, ein konsensfähiges, ausgereiftes Modell ist jedoch noch nicht erkennbar. Eine für die Regierungen attraktive aber nur schwer realisierbare Alternative ist ein Modell, wie es in den USA bis zum 11. September 2001 praktiziert wurde. Demnach durften die konjunktur-unabhängigen Ausgaben nur noch in Höhe der Inflationsrate zunehmen. Problematisch mit Blick auf die EU ist hier jedoch, für jedes Land einen verbindlichen Ausgabenpfad festzulegen, was politisch nicht realisierbar scheint. Ein anderer Vorschlag zielt auf die Ausklammerung öffentlicher Investitionen im Rahmen einer "goldenen Regel". Dies dürfte jedoch zu noch größeren Abgrenzungsproblemen führen als die Abgrenzung von konjunkturellen und strukturellen Defiziten. Ein relativ neuer Vorschlag zielt auf die Preisstabilität als wichtigstes Kriterium des SWP. Demnach müssten Mitgliedstaaten nur dann mit Sanktionen rechnen, wenn eine übermäßige Verschuldung auch mit einer Inflationsrate oberhalb der 2% Marke verbunden ist. Wäre dies nicht der Fall, wäre das eigentliche Ziel der Inflationsvermeidung nicht in Gefahr und der haushaltspolitische Gestaltungsspielraum bliebe erhalten. Problematisch an diesem Vorschlag ist jedoch, dass der Zusammenhang zwischen Budgetdefiziten und Inflationsraten nur eingeschränkt gilt. Rückt man grundsätzlich von der Idee des Stabilitäts- und Wachstumspaktes als haushaltspolitisches Koordinierungsinstrument ab und macht dagegen die Inflationsrate zum entscheidenden Kriterium, wird fraglich, welche konkrete Relevanz der Pakt überhaupt noch haben könnte. Da allgemein der Lohnpolitik eine wesentlich größere Auswirkung auf die Inflationsentwicklung zugeschrieben wird als der Haushaltspolitik, müsste diese dann Hauptadressat etwaiger Sanktionen oder Empfehlungen werden. Eine Mitzuständigkeit der EU in Bereichen der Lohnpolitik ist zuletzt im Rahmen des Verfassungsverhandlungen jedoch klar abgelehnt worden.
Die soweit diskutierten Alternativen zum SWP bewegen sich insgesamt im Rahmen der allgemeinen Logik der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ziel ist es, die Inflation niedrig zu halten und die Haushalte strukturell auszugleichen bzw. einen Haushaltsüberschuss zu erzielen. Gleichzeitig ist ein Korridor benannt, der im keynesianischen Sinne den Raum für antizyklische Haushaltspolitik eröffnet. Die Geldpolitik trägt dabei jedoch nur in geringem Maße zur Entlastung der öffentlichen Hand bei.
Die Sozialdemokratie im Europäischen Parlament hat sich angesichts dieser Schwierigkeiten auch nicht auf ein Alternativmodell oder konkrete Änderungsforderungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegt. Jedoch wird allgemein gefordert, den SWP flexibler zu handhaben und stärker an Wachstumszielen auszurichten. Im Rahmen der SPE-Fraktion im Europäischen Parlament findet sich auch die Forderung nach einer intelligenteren und flexibleren Anwendung hinsichtlich einer stärkeren Betonung des allgemeinen Schuldenniveaus einzelner Mitgliedstaaten, wozu auch die Berücksichtigung notwendiger öffentlicher Investitionen gehört.
Grundsätzlich alternative Vorschläge aus der Richtung keynesianisch-orientierter Wirtschaftswissenschaftler aus dem Umfeld der MEMORANDUM-Gruppe zielen dagegen auf die Schaffung eines EU-Haushaltes in Höhe von 5-7% des EU BIP um damit Konjunktur- und Investitionsprogramme unabhängig von der Haushaltslage eines bestimmten Landes finanzieren zu können. Außerdem wird gefordert, die Aufgaben der Europäischen Zentralbank um die Ziele nachhaltiges Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialer Zusammenhalt zu erweitern, den SWP ganz abzuschaffen oder so zu verändern, dass er einer antizyklischen Politik nicht im Wege steht, und die Verbindlichkeit der wirtschaftspolitischen Koordinierung durch Einrichtung einer Art demokratisch legitimierten Europäischen Regierung deutlich zu erhöhen. Es ist jedoch offenkundig, dass diese Überlegungen weder innerhalb der europäischen Kommission, noch unter den Mitgliedstaaten in Betracht gezogen werden. Die Aussichten auf eine Umsetzung dieser Forderungen sind daher gering.
Koordination der Beschäftigungspolitik
Allgemein müssen alle EU Mitgliedstaaten ein Interesse an einer stabilen und wachstumsorientierten Politik in den einzelnen Ländern haben, da sie über den grenzüberschreitenden Verkehr von Waren und Dienstleistungen eng miteinander verbunden sind. Hieraus begründen sich auch die Aktivitäten zur Koordination der Beschäftigungspolitik oder zur koordinierten Reform der Waren- und Dienstleistungsmärkte, die über den Bereich der makroökonomischen Koordination hinausgehen.
Gleichzeitig sind die Mitgliedstaaten weit davon entfernt, einen gemeinsamen regulatorischen Rahmen bspw. im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, der Sozialpolitik oder der Arbeitsbeziehungen zu schaffen. Angesichts der strukturellen und entwicklungsbedingten Unterschiede der europäischen Volkswirtschaften ist dies auch kaum erstrebenswert. Jedenfalls ist gegenwärtig kein Entwurf erkennbar, der realitätstauglich beschreibt, wie eine europäische Arbeitsmarktverfassung aussehen könnte. In Form der sogenannten Methode der offenen Koordinierung hat die Europäische Union daher einen eigenen Weg entwickelt, trotz der Unterschiede im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik zu einer Konvergenz der Politiken zu gelangen.
Die etablierteste Form dieser Art der Koordinierung ist die Europäische Beschäftigungsstrategie. Auf dem Europäischen Rat von Luxemburg 1997 wurden erstmals konkrete beschäftigungspolitische Leitlinien verabschiedet, die die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer nationalen Politik berücksichtigen sollen. Gleichzeitig schlägt die Kommission auf Basis der Leitlinien konkrete Empfehlungen an jeden Mitgliedstaat vor. Begleitet wird dieser Prozess von beschäftigungspolitischen Analysen einzelner Politikfelder und dem Austausch sogenannter "best-practices" im Rahmen eines "Peer-Review" Programms. Über die Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien berichten die Mitgliedstaaten jährlich in den sogenannten Nationalen Aktionsplänen (NAP). Nach 5 Jahren wurde die Europäische Beschäftigungsstrategie im Jahr 2003 umfassend evaluiert und reformiert. Die Zahl der beschäftigungspolitischen Leitlinien wurde dabei von zuletzt 18 auf zehn reduziert. Auch sind die Leitlinien nun auf eine Dreijahresperspektive ausgerichtet. Grundsätzlich wäre es ein Fehlschluss anzunehmen, die beschäftigungspolitischen Leitlinien allein stünden für ein kohärentes beschäftigungspolitisches Programm. Vielmehr können und müssen die hier formulierten aktivierenden und strukturellen Reformen je nach nationalen Besonderheiten und politischer Lesart unterschiedlich ausfallen. Die Leitlinien basieren im Einzelnen deutlich auf neoklassischen Grundannahmen bezüglich der Funktionsweise des Arbeitsmarktes, weisen den Trägern der Arbeitsmarktpolitik im weitesten Sinne aber auch klare aktivierende und intervenierende Aufgaben zu. Der Charakter der Leitlinien ist daher ambivalent. Auf der einen Seite sind sie auf strukturelle Reformen der Angebotsseite des Arbeitsmarktes ausgerichtet. So haben die Mitgliedstaaten zunehmend ein Augenmerk auf steuer- und sozialpolitisch induzierte Fehlanreize gelegt, durch die für bestimmte Gruppen die Arbeitsaufnahme aus finanziellen Gründen unattraktiv wird. Gleichzeitig wurde aber auch der Stellenwert der aktiven Arbeitsmarktpolitik deutlich erhöht. In vielen Ländern Europas wird heute die Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik, z.B. zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, mit den entsprechenden beschäftigungspolitischen Leitlinien begründet. Auch wird der Investition in Bildung und Forschung ein hoher Stellenwert beigemessen. Die Leitlinien haben den Schwerpunkt auch zunehmend auf die Beschäftigungsquote als den wichtigsten Gradmesser beschäftigungspolitisch erfolgreicher Länder gelenkt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Erhöhung der Beschäftigungsquoten bei Frauen und älteren Arbeitnehmern. Die entsprechenden Leitlinien enthalten klare Ziele zum Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen und zum Abbau von geschlechtsspezifischen Diskriminierungen, aber auch zum Abbau von Frühverrentungsregelungen. Die Leitlinien sprechen damit viele der Bereiche an, in denen auch in Deutschland deutlicher Handlungsbedarf besteht. Überhaupt liegen viele der Maßnahmen im Rahmen der Agenda 2010 auf einer Linie mit den Zielen und Leitlinien der europäischen Beschäftigungsstrategie. Dies gilt nicht nur für Reformen im Bereich des Leistungsrechts, sondern auch für den Ausbau der Ganztagsschulen und die Erhöhung der Bildungsinvestitionen. Auch wenn der direkte Einfluss der Europäischen Beschäftigungsstrategie nur schwer zu bemessen ist, scheint eine gewisse Tendenz zur Konvergenz im Bereich der Arbeitsmarktpolitik unter den Mitgliedsländern der EU unübersehbar. Inwieweit die Strukturreformen jedoch auch tatsächlich zur Verbesserung des wirtschaftlichen Umfelds beitragen ist fraglich. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die europäischen Volkswirtschaften jedenfalls weit davon entfernt, die selbst gesteckten Ziele im Rahmen des Lissabon-Prozesses zu erreichen.
Neue Perspektiven durch die EU-Osterweiterung ?
Nur fünf Jahre nach Vollendung der Europäischen Währungsunion steht die Europäische Union mit der Osterweiterung vor einer neuen Herausforderung. Die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen des Beitritts werden sich jedoch in Grenzen halten. Schließlich sind schon seit Beginn der Vor-Beitrittsphase in den 90er Jahren die Bereiche des Waren- und Dienstleistungshandels sowie des Kapitalverkehrs weitgehend liberalisiert und entsprechend den Anforderungen des europäischen Binnenmarktes ausgestaltet worden. Die Übernahme aller EU-Binnenmarktregeln durch die Beitrittsländer ist weitgehend abgeschlossen. Für die deutsche Volkswirtschaft hat sich die Öffnung des Marktes nach Osteuropa dabei unter dem Strich positiv ausgewirkt. Zwar hat sich der Handelsbilanzüberschuss in den letzten Jahren verringert, Deutschland exportiert jedoch insgesamt mehr Produkte in den mittel-/osteuropäischen Raum als es importiert. In wichtigen Bereichen wie der Metallindustrie ist die Handelsbilanz allerdings mittlerweile negativ. Dies heißt jedoch nicht, dass Unternehmen zunehmend ihre gesamte Produktion in ost- und mitteleuropäische Staaten verlagern. Vielmehr werden einzelne Stufen der Wertschöpfungskette, zumeist die standardisierbaren und relativ arbeitsintensiven - ausgelagert. Oft betätigen sich deutsche Unternehmen dabei selbst als Investor und re-importieren die im Ausland gefertigten Teile zur Weiterverarbeitung nach Deutschland. Einer plötzlichen Zunahme der Verlagerung der Produktion in die Beitrittsländer sind auch aufgrund der großen Produktivitätsunterschiede Grenzen gesetzt. Gemessen am EU-Durchschnitt schwankt das Produktivitätsniveau in den Beitrittsländern im verarbeitenden Gewerbe zwischen 30,3 % (Estland) und 54,8 % (Slowenien), kommt damit aber zum Teil schon über das Produktivitätsniveau von Portugal (32,8%) oder Griechenland (42,6%) (IG Metall, Januar 2004). Anzunehmen ist dagegen, dass nach der EU-Osterweiterung insbesondere auch klein- und mittelständische Unternehmen verstärkt von den Möglichkeiten des Außenhandels und der Auslandsproduktion Gebrauch machen werden. Für sie sind stärker als für Großunternehmen auch der Wegfall der Grenzkontrollen, das kulturelle Zusammenwachsen und die erhöhte Rechtssicherheit von Bedeutung.
Insbesondere Deutschland und Österreich haben sich im Vorfeld der EU-Osterweiterung für Übergangsregelungen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit eingesetzt. Dies bedeutet einen Eingriff in die Grundprinzipien der Europäischen Integration und muss gut begründet sein. Bisher haben Beispiele aus der Vergangenheit jedoch keinen Grund für die Annahme geliefert, dass große Einkommensunterschiede innerhalb der EU zu einem Exodus von Arbeitskräften in die wohlhabenderen Mitgliedsländer führen. Andererseits sind die Befürchtungen, die diesbezüglich in der Bevölkerung vorherrschen, ernst zu nehmen. Bezogen auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat daher jedes Land die Möglichkeit erhalten, in drei Schritten die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Beitrittsländer bis zu sieben Jahre auszusetzen. Außerdem können Deutschland und Österreich für Teilbereiche des Handwerks die Dienstleistungsfreiheit im gleichen Zeitraum beschränken. Deutschland macht von dieser Regelung Gebrauch, indem es über das Entsendegesetz Mindestlöhne für das Baugewerbe und Teile des Handwerks festsetzt. So soll bspw. die Konkurrenz für Handwerksbetriebe in den Grenzregionen für einen Übergangszeitraum abgemildert werden.
Fazit
Eine isolierte Betrachtung der einzelnen wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Instrumente auf europäischer Ebene ist nur in begrenztem Maße sinnvoll. Vielmehr kommt es auch auf europäischer Ebene auf ein sich gegenseitig verstärkendes Zusammenwirken von wachstums- und stabilitätsorientiertem makroökonomischem Policy-Mix und strukturellen Reformen an: Makropolitik und Strukturreformen ergänzen einander, ohne sich gegenseitig ersetzen zu können. Gerade auf dem Gebiet der makroökonomischen Koordination besteht auf europäischer Ebene jedoch der größte Handlungsbedarf. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist die Konstruktion des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes eindeutig als die Achillesferse der Europäischen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik anzusehen. Alle Vorschläge zur Reform des SWP, die stärker die nationalen Besonderheiten bei der Beurteilung der jeweiligen Haushaltspolitik in Betracht ziehen, gehen dabei grundsätzlich in die richtige Richtung. Doch auch die Rolle der Europäischen Zentralbank muss sich verändern. Wenn sie eine an gesamtwirtschaftlichen Maßstäben orientierte Lohnpolitik der Gewerkschaften nicht mit wachstumsstimulierender Zinspolitik honoriert, sinkt auch das Vertrauen der Gewerkschaften in eine koordinierte makroökonomische Politik. Eine Verpflichtung der Zentralbank auf ein beschäftigungspolitisches Ziel erscheint daher sinnvoll.

Sebastian Jobelius (1976), ist Doktorand an der Graduate School of Social Science (GSSS) der Universität Bremen

Der Beitrag ist erschienen in spw 135, März/April 2004