Die Vertrauenskrise der Sozialdemokratie

Die Erwartung sozialer Gerechtigkeit

Die Schuld für die SPD-Niederlagen bei den Landtags- und Kommunalwahlen vom Februar und März 2003 wird überwiegend der Bundespolitik bzw. dem SPD-Vorsitzenden und Kanzler Gerhard Schröder gegeben. Noch im September hatte er es vermocht, sich durch die Flutkatastrophe an der Elbe und den drohenden Irak-Krieg als Retter vor Krieg und Not darzustellen und dadurch die bereits abwandernden Wähler wieder für sich zu mobilisieren.
Mutige Prognostiker hatten aus diesem neuerlichen Wahlsieg von Rot-Grün schon auf eine strukturelle Dauermehrheit für eine nicht-konservative Politik geschlossen (Raschke 2002). Doch die vermeintlichen Wechselwähler schlugen wieder zu. Am 2. Februar stürzte die SPD in Niedersachsen von 47,9% auf 33,4% ab, in Hessen von 39,4% auf 29,1%, am 2. März in den Kommunen Schleswig-Holsteins von 42,4% auf 29,5%.
Damit hat die Sozialdemokratie seit 1999 nun schon in fünf Bundesländern und erstmals auch in Westdeutschland in zweistelliger Größenordnung - zwischen 10 und 15 Prozent - verloren. Solche Verluste können nicht unbesehen als Ausnahme - und auch nicht als besonders krasser Ausschlag des Pendels der 'Bindungsverlustes durch Individualisierung' gewertet werden. Sie verlangen nach der Ergründung tieferer struktureller Ursachen und vor allem danach, die enttäuschten Wählergruppen und ebenso die Interessenlagen der herrschenden Politik, auch wenn diese das Gemeinwohl zu vertreten meinen, spezifischer sozial zu verorten.
Die hier vertretene These lautet, dass die Wähler der SPD den Rücken zuwenden, weil sie sich in ihrem Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit von der SPD nicht mehr ausreichend respektiert fühlen. Ihnen geht es nicht um den Interessenausgleich abstrakter, marktmäßig ihre Vorteile kalkulierenden Einzelpersonen, sondern um Arrangements zwischen den großen sozialen Gruppen, in die sich die Gesellschaft gliedert. Gerechtigkeit meint nicht Gleichheit, sondern Kompromiss. Sie geht realistisch davon aus, dass die soziale Welt sich in ungleiche Teilgruppen gliedert, die einer Art Aufgabenteilung entsprechen. Dieser Teilung entsprechen dann allerdings auch verschiedene Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, d.h. davon, wie und nach welchen Prinzipien die soziale Ordnung gegliedert sein sollte.
Milieus und soziale Gerechtigkeit
In einem Konflikt zwischen solchen großen Ordnungskonzepten befinden wir uns wieder seit dem Beginn der kapitalistischen Stagnationskrise in den 1970er Jahren. Die Zeiten eines anhaltenden Wirtschaftswachstums, in dem alle sozialen Gruppen Gewinner sein können, sind vorbei. Der Kampf darum, wer die Verlierer sein sollen, stellt das bisherige sozialstrukturelle Ordnungsmodell der Bundesrepublik in Frage. Die "politische Verdrossenheit", die zunächst die konservativen und jetzt die sozialdemokratischen Parteien traf, ist Ausdruck dieses Kampfes. Der Pegel dieser Unzufriedenheit mit der dominanten Politik lag um 1980 wenig über 10%, nach 1990 erreichte er ein Niveau von 60%, seit Anfang des Jahres 2002 ist er auf 70%, seit Anfang 2003 auf mehr als 80% gestiegen (Vester u.a. 2001; Infratest dimap 2003b).
Die Motive und Dynamiken dieses sozialen Konfliktes können näher ergründet werden, wenn wir uns den beiden hauptsächlichen Gliederungsstrukturen der Gesellschaft zuwenden, dem Feld der Alltagspraxis, das nach "Milieus" gegliedert ist, und dem Feld der Gesellschaftspolitik, das sich nach politisch-ideologischen "Lagern" aufteilt. Diese komplexen Handlungs- und Kräftefelder werden hier zur Veranschaulichung als stark vereinfachte Raumbilder dargestellt (Abb. 1 und 2). Sie beruhen auf differenzierten empirischen Untersuchungen, die in der Bundesrepublik nach dem Konzept des mehrdimensionalen sozialen Raums von Pierre Bourdieu durchgeführt worden sind.
Abb. 1 Die sozialen Milieus in Westdeutschland 2000
Abb. 2 Die gesellschaftspolitischen Lager im sozialen Raum
Die beiden Landkarten sind nicht deckungsgleich. Alltag und Politik folgen relativ verschiedenen 'Logiken' oder 'Spielregeln'. Ein Milieu hängt im Alltagsleben zwar, durch den gleichen Lebensstil, zusammen, aber es teilt sich nach verschiedenen ideologischen Orientierungen auf.
Der Wandel der Milieus vollzieht sich nicht in einem völligen Bruch mit dem Herkunftshabitus, sondern in einer Weiterentwicklung. Diese Veränderungen des Habitus lassen sich beispielhaft an den drei Milieus in der Mitte des sozialen Raums (Abb. 1) beobachten, die der Traditionslinie der Facharbeit und der praktischen Intelligenz zuzurechnen sind (Vester u.a. 2001, Kap. 13-14). Für diesen "Milieustammbaum" ist der Leitwert die persönliche Autonomie, gekoppelt an Strategien der guten Facharbeit, des Bildungserwerbs, der gegenseitigen Solidarität und einer planvolle Lebensführung. Über alle drei Generationen ist eine Art 'protestantisches Arbeitsethos' gleich verbindlich geblieben, aber die emanzipatorischen Ansprüche haben zugenommen. Es ist daher auch kein Zufall, dass alle drei Milieus - die mit gleichbleibenden 30% den Kern der "Arbeitsgesellschaft" bilden - den gegenwärtigen Abbau sozialer Sicherheiten und Teilhabechancen besonders ungerecht finden, weil er ihren gemeinsamen Grundsatz "Leistung gegen Teilhabe" verletzt.
Abb. 3 Gesellschaftspolitische Lager und soziale Ordnungsmodelle in der Bundesrepublik
Wie solche Unzufriedenheit sich politisch umsetzt, hängt von den Vorstellungen der gesellschaftspolitischen Ordnung ab, nach denen sich die ideologischen Lager voneinander unterscheiden (Abb. 2 und 3).
Gesellschaftspolitische Lager und soziale Ordnungsmodelle
In den drei beschriebenen Milieus ist durchaus eine mehrheitliche Neigung zu den ihrem Habitus am nächsten stehenden Ordnungskonzepten der Solidarität auf Gegenseitigkeit nachweisbar, also zum 'Sozialintegrativen Lager' und zum 'Skeptisch-Distanzierten Lager'. Doch es gibt auch andere Präferenzen, die oft durch das Eigengewicht verschiedener regionaler, weltanschaulicher und konfessioneller Traditionen bedingt sind. Die Milieus der Facharbeit grenzen beispielsweise rechts an die Arbeitnehmermilieus, deren Leitwert nicht die Autonomie, sondern die Einordnung in Hierarchien ist, wie sie ihrer Herkunft aus kleinbürgerlichen Verhältnissen oder auch der katholischen Soziallehre entspricht. An dieser Grenze gibt es typologische Zwischenformen und Milieuvermischungen, die auf Kombinationen des Leistungsdenkens mit dem Hierarchiedenken beruhen und die eine Neigung zu einem der konservativen Lager begünstigen.
So wie die sozialen Milieus sich durch allmähliche Veränderungen des Alltagslebens wandeln, so verändern sich die ideologischen Lager vor allem in den 'heißen' Perioden historischer Kämpfe, in denen um religiöse, weltanschauliche oder soziale Fragen gestritten wird. In der Geschichte der Bundesrepublik waren vor allem zwei Erfahrungen wichtig. Zum einen hat die lange praktische Erfahrung des bisherigen Sozialmodells den Grundsatz "Leistung gegen Teilhabe" weit über die Milieus der Facharbeit hinaus im allgemeinen Bewusstsein verankert. Nach diesem Grundsatz bedarf jeder Abbau sozialer Rechte einer besonderen Legitimation und Gegenleistung. Zum anderen haben seit den 1960er Jahren die emanzipatorischen Bewegungen und die Entstehung einer freieren Alltagskultur in den jüngeren Generationen die Werthaltungen der Selbstbestimmung und Partizipation gestärkt. Vor diesem Hintergrund kann ein Umbau der sozialen Ordnung, der nach undurchschaubaren 'Sachgesetzen' von oben verordnet und nicht mit aktiver Partizipation verbunden wird, die Entfremdung zwischen den politischen Repräsentanten und den jüngeren Milieus nur verstärken.
Die Klientelgruppen der deutschen Parteien verteilen sich über sechs verschiedene Lager, über deren Zusammensetzung nach Milieus, Berufen usw. sehr detaillierte Befunde vorliegen (Vester u.a. 2002). Sie entsprechen sechs gesellschaftlichen Ordnungsmodellen. Die Einordnung in den Raum der Milieus (Abb. 2) zeigt, dass jedes Lager sich über mehrere Milieus, also Typen der alltäglichen Lebensführung, erstreckt. Die Lager sind nicht groß genug, um eigene Mehrheiten begründen zu können. Die Volksparteien müssen daher Klientelgruppen aus mehreren Lagern in ihrer Politik repräsentieren und mobilisieren. Alle Parteien schöpfen aus allen Lagern, aber mit gewissen Schwerpunkten. So hat im rechten Teil des sozialen Raums die CDU/CSU ein Übergewicht, aber dort hat auch der rechte SPD-Flügel seine Klientel. Im linken Teil überwiegt spiegelbildlich die SPD.
Innerhalb der Lager verlaufen auch latente Konfliktlinien, die durch die Veränderung der Lebensweisen entstehen. Sie können sich durch politisch-ideologische Konflikte in manifeste Konfliktlinien verwandeln und ggfs. auch das Feld der Lager umstrukturieren. Solche latenten Konfliktlinien lassen sich vor allem in den vier unteren Lagern aufspüren. Bei dreien von ihnen ist die "Verdrossenheit" über Schieflagen sozialer Gerechtigkeit wirksam. Dabei äußert sich der Verdruss in zwei Lagern eher demokratisch, und zwar bei den 'Sozialintegrativen' und bei den 'Skeptisch-Distanzierten'. Im Lager der 'Enttäusch-autoritären' aber aktiviert die Verdrossenheit das Potential eines intoleranten und ausländerfeindlichen Populismus. In dem vierten unteren Lager, bei den 'Gemäßigt-Konservativen', entsteht eine neue Konfliktlinie aus anderen Motiven. Es gibt eine Untergruppe von moderneren konservativen Arbeitnehmern, von der sich etwa ein Drittel offener für universalistische Ziele, d.h. mehr Frauen-, Ausländer- und Bürgerrechte und Umwelt- und Friedenspolitik, einsetzt.
Solche universalistischen Werte, die nicht direkt aus bestimmten Klassen- oder Milieuinteressen ableitbar sind, gewannen nachweislich auch in anderen Milieus und Lagern an Boden. Aber die daran geknüpften Prophezeiung eines "neuen Politikmodells" jenseits von rechts und links hat sich empirisch als Fehlprognose entpuppt. Diese Prognose war von den Soziologen Ulrich Beck und Anthony Giddens mit einer allgemeinen Tendenz der Individualisierung, verstanden als Auflösung traditioneller Bindungen, begründet worden. Durch diese Tendenz, so hieß es, würden sich die alte politischen Lager der Industriegesellschaft, die sich nach den Interessengegensätzen zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern richteten, auflösen. An seiner Stelle werde sich ein "neues Politikmodell" der "postindustriellen Gesellschaft" durchsetzen, da die Menschen im wachsenden Dienstleistungssektor sich nun postmateriellen, universalistischen Werten zuwendeten.
Diese Annahme einer eindimensionalen Tendenz hat sich empirisch nicht bestätigt. Für die meisten Menschen sind universalistische Werte keine Frage des "Ja oder Nein", sondern eine Frage des "Sowohl als auch". Die universalistischen Werte haben zugenommen, aber fast immer in Kombination mit anderen, dann doch mit dem sozialen Ort der Menschen zusammenhängenden Wert- und Ordnungsvorstellungen. (Und dieser Wandel hängt nicht mit der Zunahme der Dienstleistungen, sondern mit dem Generationenwechsel zusammen.) Dies zeigt sich an der gesamten Lager-Landschaft.
Besonders deutlich wird sie an demjenigen Lager, das die eigentliche Hochburg des vermeintlich klassenlosen Universalismus sein sollte. Die rot-grünen Führungsgruppen haben vor allem Teile dieses Lagers zu "Leitmilieus", zu Trendsettern für die übrigen Milieus stilisiert. Doch empirisch erreichte das Radikaldemokratische Lager nur 11% und kaum Anhänger in den mittleren und unteren Milieus (s. Abb. 2). Dies hat offensichtlich mit einer sozialen Einäugigkeit zu tun. Der radikale Universalismus dieses Lagers bezieht sich auf die politischen Rechte. Sozialpolitisch überwiegt ein moralistisch begründetes Elitedenken und eine entsprechende Nähe zu neoliberalen Ideen. Wer - wie man selbst - oben ist, hat dies einem puritanischen Leistungsstreben zu verdanken. Wer - wie die "Masse" - weiter unten ist, hat dies aufgrund seiner materialistischen Neigungen zu Konsum und Bequemlichkeit auch verdient.
Entgegen der These der Individualisierung sind auch die beiden konservativen Kernlager, die vor allem in überschaubaren hierarchischen Gemeinden überwiegen, noch relativ gut in sich integriert. Sie waren auch die Hochburgen der CDU-Siege Anfang 2003. Beide Lager befürworten eine Gesellschaftsordnung mit gestuften Rechten, in denen die unteren Gruppen zwar einen minderen Status, aber doch ihre Sicherheiten haben. Dabei vertritt das Traditionell-Konservative Lager (TKO), mit ca. 14%, die Perspektive des "Patrons", der gegenüber seinen "Klienten" klare Vorrechte hat, aber auch zur Fürsorge verpflichtet ist. Das Lager der Gemäßigt-Konservativen (GKO) bindet, mit etwa 18%, noch große Teile des konservativen Randes der Arbeitnehmermilieus. Es vertritt das hierarchische Sozialmodell aus der Perspektive des "Klienten". Sie sind dem Patron zur Treue verpflichtet ist, aber auch zum Protest berechtigt, wenn dieser seine Fürsorge für die Arbeitnehmer und kleinen Leute vernachlässigt. Eine nicht kleine Minderheit des Lagers ist daher auch den rechten Flügeln der Gewerkschaften und der SPD verbunden. Sie überschneidet sich mit einer anderen Minderheitsfraktion, den erwähnten moderneren konservativen Arbeitnehmern, die eine Öffnung der Politik zu toleranteren und weniger autoritären Formen erwarten. Bei ihnen hat sich 1998 der Anteil der SPD-Wähler erhöht. Heute ist dieser Trend wieder rückläufig.
Einen ähnlich großen Zusammenhang bilden die beiden Lager der solidarischen Sozialmodelle. Sie sind mit mehr als 30% gut in den großen moderneren Arbeitnehmermilieus der Facharbeit und der praktischen Intelligenz verankert, aber dadurch auch besonders von den Schieflagen wirtschaftlicher Umstellungen betroffen, Sie sind vom Abbau sozialer Sicherungen und vom Regierungskurs tief enttäuscht. Das Sozialintegrative Lager (SOZ) vertritt ein progressiv-solidarisches Sozialmodell, d.h. es kombiniert die Werte des Universalismus und der Partizipation mit dem Anspruch der sozialen Integration und Gleichstellung sämtlicher benachteiligter Gruppen. Das Lager bindet, mit ca. 13%, überwiegend Teile der gesellschaftskritischen modernen Mitte, die überdurchschnittlich der SPD und den Grünen zuneigen. Von der großen Politik zunehmend enttäuscht, engagieren sie sich vor allem in Basispolitik. Ihnen benachbart ist das Lager der Skeptisch-Distanzierten (SKED), mit ca. 18%. Ihm gehören große Teile der Milieus der moderneren Arbeitnehmermitte an. Sie sehen das Sozialmodell auf Gegenseitigkeit, das hohe Leistung durch soziale Teilhabe an Wohlstand und Sicherheit belohnt, durch die Wirtschaftskrise und die Politik der wirtschaftlich und politisch Mächtigen gefährdet. Auch ihre überdurchschnittliche Neigung zur SPD ist nachhaltig enttäuscht. Ihre Desillusionierung verarbeiten sie mehrheitlich mit skeptischer, aber nicht undemokratischer Distanz gegenüber der Parteipolitik.
Für mehr als ein Viertel der Westdeutschen besteht die Bindekraft der großen Parteien allerdings nur noch äußerlich. Aber dies hat gerade nicht in Richtung universalistischer Werte geführt. Das Lager der Enttäusch-autoritären (EA), mit ca. 27%, sammelt sich aus Milieus mit geringen und unmodernen Ausbildungen und schwachen sozialen Netzen. Es sind meist Ältere, aber auch Jugendliche ohne Perspektiven. Sie sehen sich als Modernisierungsverlierer, die von der übrigen Gesellschaft zunehmend aufgegeben werden. Sie verarbeiten dies mit Ressentiments gegen Ausländer, alles Moderne und die Politiker, die ihre Schutzpflicht verletzen. Obwohl sie mehrheitlich noch die großen Volksparteien wählen, sympathisieren sie mit einem autoritären Populismus.
Die verprellten Wählermilieus
Bis zur Bundestagswahl 2002 beruhten die großen Verluste der SPD vorwiegend auf Demobilisierungen. Enttäuschter Stammwähler wurden Nichtwähler. (Ähnliches galt für die vorangehenden Verluste der konservativen Volksparteien in Europa.) Dass Wählerinnen und Wähler sich enthielten statt zu den "anderen" wechseln, bestätigte, dass die Bindung an die "eigene Gruppe" noch groß war.
In den regionalen Wahlen vom Februar und März 2003 beschränkte sich der Enttäuschungseffekt nicht mehr nur auf eine gemäßigte Demobilisierung der Stammwählerschaft der SPD. Am Beispiel der niedersächsischen Wahlen vom Februar 2003 wurde dies besonders deutlich. Neu war zum einen die Rekordhöhe der Enthaltungen von Stammwählern. Die SPD verlor dadurch fast alle ihre Hochburgen an der Küste und im Süden, in denen sie lange Zeit bayerische Mehrheiten über 50% oder 60% besessen hatte. Insgesamt hatte sich die Wahlenthaltung um 6,8% auf 33,0% erhöht. Die Verluste der SPD an die Nichtwähler waren wahrscheinlich noch größer, da die CDU ihrerseits einige Prozentpunkte aus ihrem Teil des Reservoirs der Nichtwähler geschöpft hatte. Neu waren zum anderen aber auch die direkte Wanderungen zur CDU in zwei anderen Milieuzonen. Aber auch dieses Wechselwählen hatte, anders als das Marktmodell annimmt, mit Bindungen zu tun. - Diese verschiedenen Bewegungen im sozialen Raum lassen sich exemplarisch an der Landeshauptstadt Hannover darstellen (vgl. Geiling 2003; agis 2003):
§ Nichtwählen in der Mitte des sozialen Raums: In ihren Hochburgen verlor die SPD durchschnittlich 15,7%. Hier, in den Stadtteilen der qualifizierten Arbeiter-, Facharbeiter- und Angestelltenmilieus, wechselten viele einstige Stammwähler zu den Nichtwählern. Sie reagierten nicht zuletzt auf die neuen Zumutungen bei Rente, Gesundheit, Bildung und Arbeitsrecht. Ein Überwechseln ins bürgerliche Lager war diesen Milieus (vor allem dem Traditionellen, dem Leistungsorientierten und dem Modernen Arbeitnehmermilieu) aufgrund ihrer betont arbeitnehmerischen Identität, in der es um die Wahrung der Autonomie gegenüber den Mächtigen geht, kaum möglich. Das Milieu ist beruflich gut qualifiziert, aber besonders dadurch verunsichert, dass die Arbeitnehmereinkommen seit den 1980er Jahren stagnieren, obwohl, im Zuge der wirtschaftlichen Umstrukturierungen, die Anforderungen an Leistung, Weiterbildung, Arbeitsplatzwechsel und zusätzlichen Belastungen zunehmen.
§ Neue Wanderungen am unteren Rand des sozialen Raums: In den Milieus der Unterprivilegierten gingen dagegen die Abwanderungen erstmals weniger zu den Nichtwählern als zur CDU. Durch die neuen Abstriche bei Kündigungen und Arbeitslosigkeit gründlich desillusioniert, entdeckten sie die CDU als "Schutzmacht" neu. Dies entspricht dem Schema von Klientel und Patron, das seit jeher fest zur Identität vor allem des Traditionslosen Arbeitnehmermilieus gehört, d.h. dem Grundsatz der Anlehnung der Machtlosen an Stärkere, solange diese ihre Fürsorgepflicht erfüllen. Das Milieu ist stärker denn je darauf angewiesen, da es aufgrund seiner geringen Ausbildungsstandards besonders von Dauerarbeitslosigkeit betroffen und auf prekäre oder unsichere Arbeitsverhältnisse verwiesen ist.
§ Rückwanderungen in der rechten oberen Mitte: In den konservativen Hochburgen, den Stadtvierteln der gut situierten und privilegierten Milieus, lag der Rückgang der Wahlbeteiligung deutlich unter dem Landesdurchschnitt, in drei Stadtteilen sogar unter 3%. Hier wanderten insbesondere die gut situierten konservativen Arbeitnehmer, die 1998 aus Protest gegen die erstarrte CDU Helmut Kohls zu Schröder übergewechselt waren, wieder zu den nun moderner wirkenden bürgerlichen Parteien zurück. Dies entspricht einer Variante klientelistischer Mentalität im Modernen Kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu, das in sozialen Fragen zwar eher hierarchisch denkt, in politischer Hinsicht aber doch offener geworden ist für (begrenzt) mehr Rechte der Frauen und der Ausländer, für mehr Bürgerrechte sowie Friedens- und Umweltpolitik.
Die drei beschriebenen Tendenzen steigerten sich noch im Verhalten der jungen Wählerinnen und Wähler im Alter von 18 bis 24 Jahren. Von ihnen wählten in Hannover insgesamt nur noch 44%, d.h. 15,1% weniger als 1998 (und 22,0% weniger als 1994). Mit der Wahlabstinenz dieser Altersgruppe verbunden war ein Rückgang der SPD-Stimmen von 49,7% auf 28,6%, während die CDU bei dieser Gruppe auf 37,5% anstieg. Die CDU profitierte ohnehin schon von der seit längerem höheren Wahlbeteiligung in den bürgerlich-konservativen Vierteln, die sich durch einen guten sozialen Zusammenhalt und privilegierte Lebensperspektiven auszeichnen und in denen die Kinder einen Sinn darin sehen, mit ihren Eltern zur Wahl "ihrer" Partei zu gehen.
Auch das vielleicht "rationalste" Wahlverhalten, das Stimmensplitting, blieb weitgehend an die großen Lager gebunden. Es äußerte sich in 'Leihstimmen' von CDU-Wählern an die FDP (vor allem in den Stadtteilen der konservativen oberen Milieus) und von SPD-Wählern an die Grünen (vor allem in den Stadteilen der moderneren Bildungsmilieus).
Die Perspektiven: der partizipatorische Wohlfahrtsstaat
Die Logik des Wahlverhaltens folgt also in der Regel immer noch den politischen Verhaltens- und Beziehungsmustern, die den gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der Milieus und Lager entsprechen. Es sind längerfristige, historisch gewordene Beziehungen und Bindungen, die mehr umfassen als kurzfristige ökonomische Vorteile.
Welche der Volksparteien aus der Konkurrenz um das Vertrauen als Siegerin hervorgeht, hängt nicht nur von dem Image der Spitzenpolitiker ab. Was diese symbolisieren, muss auch durch ihre Praxis gedeckt sein. Dabei kommt es vor allem darauf an, auf die sozialen Ordnungsmodelle der gesellschaftlichen Lager einzugehen und sie in einer gemeinsamen Formel - wie dies die "soziale Marktwirtschaft" oder der "Wohlfahrtsstaat" war - zusammenzuführen. Die Spannungen im Feld der Lager drücken den Spagat aus, den die politischen Parteien bewältigen müssen, wenn sie ihre Klientel aus den verschiedenen Milieus und Lagern mobilisieren und repräsentieren wollen. Die zentrifugalen Tendenzen beruhen auf der Seite der Volksmilieus in einer sich verfestigenden Skepsis gegenüber der Fähigkeit der Eliten, den gesellschaftspolitischen Umbau als eine Kombination von marktgerechter Flexibilität und sozial gerechter Risikosicherung zielsicher anzupacken. Ihnen fehlen überzeugende Perspektiven, die neoliberale Sparpolitik von Maastricht zu beenden und die verschiedenen Ansprüche und Sozialmodelle der sechs Lager zu integrieren.
Möglich wäre dies durchaus. Die Befragungen zeigen nicht nur, dass die sozialen Milieus das sozialstaatliche Modell der Bundesrepublik immer noch zu mehr als vier Fünfteln gutheißen. Sie zeigen auch, dass die Ordnungskonzepte der Lager (Abb. 3) durchaus einen gemeinsamen Nenner haben. Die Solidaritätsmodelle überwiegen mit 49%. Es sind solche Modelle, für die Solidarität und Eigenverantwortung zusammengehören und nicht - wie in neoliberalen oder protektionistischen Sozialmodellen - gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Beide Elemente - Solidarität und Eigenverantwortung - könnten entweder unter konservativem oder unter sozialdemokratischem Vorzeichen in dem Integrationskonzept eines "partizipatorischen Wohlfahrtsstaats" zusammengefasst werden (Vester 2001, S. 172-180). Die große Minderheitsgruppe der Modernisierungsverlierer von 27%, die ein protektionistisches Modell gutheißen, könnten durch eine Politik sozialer Mindestgarantien ins Boot geholt und dem Rechtspopulismus abspenstig gemacht werden. Die kleine Minderheitsgruppe der Radikaldemokraten (11%) ist sozial so gut gestellt, dass ihnen keine exzessiven Konzessionen gemacht werden müssen, zumal sie eine partizipatorische Gestaltung des Wohlfahrtsstaates attraktiv finden würden.
Wenn die SPD diese Möglichkeit verfehlt, dann verprellen sie auf Dauer nicht nur die auf Protektion angewiesenen Unterprivilegierten, sondern auch die moderne Arbeitnehmermehrheit, die gerade auf das Prinzip "Leistung gegen Teilhabe" setzt, aber ihre Arbeitsleistung wie auch ihre immer besseren Bildungsabschlüsse abgewertet sieht. Entsprechend verlagert sich ihre Unzufriedenheit schon jetzt immer mehr auf die wenig sichtbaren, aber doch überall schwelenden Konflikte des Alltags, die teils von Gewerkschaften und teils von Bürgerinitiativen mitgetragen werden.
Diese neue Politik kann aber nur gelingen, wenn die staatliche und verbandliche Politik von der breiten demokratischen Partizipationsbereitschaft in den gewandelten sozialen Milieus Gebrauch macht.
Literatur
agis (Hg.) (2003), Landtagswahl 2003 in der Region Hannover, Hannover.
Geiling, Heiko (2003), Anmerkungen zur Landtagswahl 2003, Hannover, Manuskript.
Infratest dimap (2003a), Die SPD gerät nach der Bundestagswahl in einen Abwärtssog, in: Frankfurter Rundschau, 4.2. 2003, S. 5.
Infratest dimap (2003b), Zustimmung für die Außenpolitik, Kritik an der Wirtschaftskompetenz. Der Deutschlandtrend, in: Frankfurter Rundschau, 8. 3. 2003, S. 7.
Oberndörfer, Dieter/Mielke, Gerd/Eith, Ulrich (2003), Niemand zieht für die Hartz-Kommission in den Wahlkampf. Über die Folgen der jüngsten Landtagswahlen, in: Frankfurter Rundschau, 7.2.2003, S. 7.
Raschke, Joachim (2002), Strukturen für die Zufallsmehrheit, in: die tageszeitung, 4.11.2002, S.4.
Vester, Michael/von Oertzen, Peter/Geiling, Heiko/Hermann, Thomas/Müller, Dagmar (2001 [1993]), Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, 2. Aufl., Frankfurt/Main.
Vester, Michael (2003), Schieflagen Sozialer Gerechtigkeit, in: spw 129, S. 14-21

Der Beitrag erschien in spw 132, Juli/August 2003