Ende einer Ära

Neugründung der politischen Linken

Die Linke: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Was ist die Ausgangslage, was sind die Anforderungen?

Die Landtagswahlen von Nordrhein-Westfalen brachten das niederschmetternde, aber letztlich nicht überraschende Resultat: Die SPD wurde in ihrer so genannten Herzkammer bei einer Wahlbeteiligung von 63% und 1% ungültigen Stimmen mit 37,1% Stimmanteil auf die Oppositionsbänke geschickt. Die CDU übernimmt nach einem triumphalen Wahlsieg mit 44,7% als "neue Arbeiterpartei" die Führung der Landesregierung.

Der entscheidende Grund dieser Niederlage: Die Partei konnte ihr Wählerpotenzial nicht mobilisieren (ca. 1,5 Mio. Stimmen weniger als bei der Bundestagswahl vom September 2002). Vor allem die überdurchschnittlichen Verluste bei ihren StammwählerInnen in den unteren Mittelschichten haben den chronischen Niedergang bewirkt. Bei vielen früheren SPD-Mitgliedern und -SympathisantInnen steht die seit 2003 von der SPD verfolgte politische Konzeption der "Agenda 2010" für Wahlbetrug, Zerstörung der sozialen Sicherheit, Entsolidarisierung, Privatisierung von Lebensrisiken, Zunahme gesellschaftlicher Konflikte und Ausbreitung sozialer Kälte. Die tiefe Entfremdung der sozialstaatlich ausgerichteten WählerInnen von der neoliberal ausgerichteten Modernisierungspolitik der SPD ist für die Verluste der Macht in den Bundesländern verantwortlich.

Unmittelbar nach der Niederlage in NRW kündigten Müntefering und Schröder vorgezogene Bundestagswahlen für den Herbst an. Mit diesem "Coup" entgeht die Führung einer langwierigen innerparteilichen Auseinandersetzung. Selbst bei einer erneuten Bestätigung der Politik der Agenda 2010 hätte die Gefahr der Aufsplitterung und der Demontage des Führungspersonals bestanden. Wie auch immer man die taktischen Kalküle für diese Entscheidung bewerten mag: Die Vorstellung, die Sozialdemokratie könne in knapp vier Monaten noch einmal zur Mehrheitspartei in Deutschland gewählt werden, ist nicht kühn, sondern absurd. Mit dem Tag der Entscheidung für vorgezogene Neuwahlen ist die Ära Schröder beendet. Die SPD geht ohne selbstkritische Zerfleischung auch auf Bundesebene in die Opposition.

Nordrhein-Westfalen war die neunte Landtagswahl in Folge, in der die SPD für eine Politik abgestraft wurde, die ihre früheren WählerInnen sehr wohl verstanden haben: eine Politik, die den Begriff der Reform jeglichen progressiv-solidarischen Inhalts beraubt hat. Die Dimensionen der Niederlagen seit 2000 waren derart eindeutig, dass jedes Mal historische Vergleiche bemüht werden mussten, um die Zerbröselung der Mehrheit zu beschreiben. Ein halbes Jahrhundert darf die Sozialdemokratie abschreiben, gibt es doch kaum noch einen Landesverband, in dem die Partei nicht auf das Niveau der 1950er Jahre zurückgeworfen worden ist. Der SPD sind nicht Ränder weggebrochen, sondern Mitgliederkerne haben sie in Scharen verlassen und noch mehr sind in die innere Emigration gegangen. Jede dieser Wahlen ist ein Zeugnis für die tiefe Entfremdung zwischen Lohnarbeit und Sozialdemokratie.

Mehr noch: Die Agenda-Politik hat entscheidende Bausteine für die Triumphe der bürgerlichen Parteien geliefert. Dadurch, dass die Sozialdemokratie ihre Mehrheitsfähigkeit in allen sozialen Schichten verloren hat, und dadurch, dass sie Teile ihrer einstigen Stammwähler in die Arme der Unionsparteien getrieben hat, kann "die CDU nach Hamburg nun auch in Nordrhein-Westfalen im großstädtischen Bereich erhebliche Zuwächse erzielen und den Rang der 'Arbeiterpartei' erkämpfen."[1]

Zäsur

Es ist nicht übertrieben, die siebenjährige Regentschaft von Gerhard Schröder als eine Ära zu bezeichnen. In zweifacher Hinsicht:

Zum einen, weil in dieser kurzen Zeit (zumal wenn man das erste halbe Jahr mit dem Finanzminister Lafontaine abzieht) grundlegende Umwälzungen exekutiert wurden. Um nur die beiden wichtigsten zu nennen: Die Zerschlagung der Deutschland AG und damit die Öffnung der Unternehmen für den Shareholder-Kapitalismus sowie die Diskreditierung des Systems öffentlicher und paritätisch finanzierter Daseinsvorsorge zum Zwecke der schrittweisen Privatisierung des Sozialstaates.[2]

Zum anderen ist mit Blick auf die Sozialdemokratie selbst vom Ende einer Ära zu sprechen. Das Scheitern des Versuchs, den gesellschaftlichen Strukturwandel mit dessen vermeintlichen Gewinnern, der "Neuen Mitte", zu bestreiten und die "strukturell nicht mehrheitsfähigen" traditionellen Stammwählerschichten abzuschreiben, hat aus der modernisierten Sozialdemokratie einen Korpus gemacht, der vielerorts nur noch von Funktionären und Parlamentariern zum Zwecke des Broterwerbs gefüllt ist. Über den "lebendigen Ortsverein", mit dem die Sozialdemokratie einst vor Jahrzehnten in zäher Kleinarbeit daran beteiligt war, die nachkriegsdeutsche Restauration durch demokratisches Engagement von unten zu überwinden, können die modernisierten Sozialdemokraten nur noch Hohn und Spott ausschütten.

Mit dem Coup vorgezogener Bundestagswahlen haben Schröder und Müntefering ihrer Partei den letzten Anschein einer Restlebendigkeit genommen. Die verbliebene Parteilinke muss sich nunmehr umgehend der Wahlstrategie unterordnen. Selbst den wenigen aufrechten StreiterInnen für soziale Gerechtigkeit ist es nicht vergönnt, im Strudel des Niedergangs den Kopf über Wasser zu halten.

Gerhard Schröder hatte seinen Herauswurf aus dem Schattenkabinett des längst vergessenen Kanzlerkandidaten Scharping einst mit den Worten quittiert, er schere sich nicht um die Partei. Dabei ist er bis zum bitteren Ende geblieben.

Nach dem Ende der Ära Schröder ist die Sozialdemokratie in Deutschland eine Partei ohne Projekt. In NRW hatte sie in den 1960er Jahren ihren Aufstieg als Wohlfahrts- und Gerechtigkeitspartei begonnen - davon ist wenig geblieben, und noch weniger Verwertbares ist an die Stelle getreten. Dass die Programmdiskussion von der Tagesordnung genommen wurde, hat nicht nur mit der Vordringlichkeit des Wahlkampfes zu tun. Es wird auf absehbare Zeit keine programmatische Erneuerung der Sozialdemokratie geben. Nach dem Ende der Ära Schröder fehlt es der Partei dazu an politischer Glaubwürdigkeit, an gesellschaftlicher Verankerung und an erneuerungsfähigem Personal. Das unterscheidet die Situation heute von der in 1982.

Hinzu kommt, dass auch vom einstigen rot-grünen Projekt wenig geblieben ist. Frühe KritikerInnen hatten eine sozial-ökologische Erneuerung bereits mit dem Wahlsieg von SPD und Grünen 1998 abgeschrieben. Recht hatten sie! In der Zwischenzeit ist den Grünen nur in einer Hinsicht eine Profilierung gelungen: die als Partei der Besserverdienenden. Die Proklamation der Zivilgesellschaft ist im Zynismus der armutsfördernden Sozialgesetzgebung untergegangen: "Die Strickleiter ist eingezogen, das Projekt sozialer Aufstieg beendet. Das System ist semipermeabel geworden, durchlässig also nur noch in eine Richtung."[3]

Auf diesem Hintergrund ist das Gerede von der "Richtungswahl" der Versuch, Teile der Wählerschaft in kollektive Umnachtung zu hüllen. Über ein Fünftel der Bevölkerung, die Bezieher von Altersrenten, werden zum 1. Juli dieses Jahres empfindliche Einkommenskürzungen zu verdauen haben - wer von ihnen wählt aus Dankbarkeit Ulla Schmidt? Der gläserne Langzeitarbeitslose - soll er ein Votum für Hartz IV abgeben? Beschäftigte, die nicht wissen, wie lange sie ihren Arbeitsplatz noch haben, jedoch zum 1. Februar 2006 gewiss sind, nur noch zwölf Monate lang Arbeitslosengeld zu bekommen - Wolfgang Clement auf ein Neues? Eltern, die seit Jahren erleben, was fortlaufende Kürzungen von öffentlichen Investitionen für Kinder und Jugendliche bedeuten - Rot-Grün voran? Das Abhängen des Ostens - meint wirklich irgendwer, Manfred Stolpe verfüge über ein Entwicklungsprogramm für den Mezzogiorno? Vom Kanther-Nachfolger Schily ganz zu schweigen.

Der Kanzler hat klargestellt, dass es bei der Wahl im September pro oder contra Agenda 2010 geht. Mit dieser Politik wurde die Wirtschaftsentwicklung im Binnenmarkt abgewürgt, die Massenarbeitslosigkeit auf hohem Sockel verfestigt und die konjunkturelle Talfahrt programmiert. Die nachhaltigen Fehlleistungen der Agenda-Politik liegen auf dem Terrain der Steuersenkungen und der nachhaltigen Zerstörung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. Die Begünstigung der Unternehmen und der Reichen hat noch nicht einmal ein Investitionswellchen ausgelöst. Die Politik der Lohnzurückhaltung, der Arbeitszeitverlängerung, der Mini- und 1-Euro-Jobs haben eine chronische Krise der Sozialkassen nach sich gezogen. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Wähler hat unmissverständlich per Votum erklärt, dass sie von dieser Politik nichts hält. Noch weniger vom christdemokratischen "Pakt für Deutschland", der Knallhart-Variante der Agenda 2010.

Dennoch: Mit dem Coup der vorgezogenen Neuwahlen wird die Machtübergabe an die eigentlichen Akteure des Neoliberalismus geradezu bombastisch inszeniert. Der Diskurs der Unausweichlichkeit, des Sachzwanges, der Naturgesetzlichkeit läuft noch einmal zur Höchstform auf. "Die WählerInnen und Wähler werden in einen Wahlkampf und in eine Wahl geführt, bei der sie ernsthaft keine Alternative haben. Alternativen aufzuzeigen und Alternativen zur Wahl zu stellen, wäre aber wichtig, um die Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger und vor allem die politisch Interessierten aus der Resignation zu holen. Das trotzige 'Wir brauchen eine Bestätigung für den Reformkurs, weil er alternativlos ist', ist in der Konsequenz eine Katastrophe für die Bereitschaft der Menschen zu politischer Beteiligung." (Albrecht Müller) Die demokratische Kultur geht über den Jordan.

Immerhin sind die politischen Kalküle des Coups zunächst aufgegangen: Die sozialdemokratische Linke stellt sich hinter die Agenda-Politik, sie verstärkt den Ruf nach Geschlossenheit der Partei. Einige werden sich in die Hoffnung flüchten, mit internationalem Renommee und Friedenspolitik punkten zu können. Doch die Schmach der Niederlage wird groß und das Triumphgeschrei der Sieger unüberhörbar sein.

Neugründung der Linken

"Wenn eine von Sozialdemokraten geführte Regierung den marktbedingten Umverteilungsprozess von unten nach oben weiter verstärkt, dann muss ein wirklicher Sozialdemokrat sich gegen diese Regierung stellen. Indem sie Lohnkürzungen befürwortet und den sozial Schwächeren in die Tasche greift, macht die Regierung das krasse Gegenteil dessen, was die Aufgabe sozialdemokratischer Politik im Zeitalter der Globalisierung wäre." Oskar Lafontaine hat daraus die Schlussfolgerung gezogen und ist nach 39 Jahren Mitgliedschaft aus der SPD ausgetreten.

Der Schritt ist konsequent gerade auch aufgrund der Einschätzung, dass es eine Erneuerung der Sozialdemokratie aus sich selbst heraus auf absehbare Zeit nicht geben wird. Konsequent ist folglich auch der zweite Schritt Lafontaines, sich für eine Öffnung der politischen Kräfteverhältnisse einzusetzen. Das Zauberwort heißt: Neugründung der Linken.

Alle, die sich mit der gesellschaftlichen Realität und der Existenz zweier Linksparteien auseinander setzen, befürworten für die Bundestagswahlen, dass die Linke ihre Potenziale bündelt - und ihre Unterschiede respektiert. Die These lautet: WASG und PDS haben einen großen Vorrat an Gemeinsamkeiten und bringen unterschiedliche, durch die jeweils andere Partei nicht ersetzbare Vorteile für die Formierung einer linken politischen Alternative in Deutschland ein. Zu den strittigen Fragen gehört, ob die WASG eine Antwort auf das Scheitern der PDS in den alten Bundesländern ist, oder ob ihr Auftreten noch auf tiefergehende Strukturveränderungen im politischen System wie auch in der Zivilgesellschaft zurückzuführen ist.

Man könnte meinen, das sei eine Herausforderung nicht zuletzt auch für die politische Kultur in dieser von sozialem Zynismus zersetzten Republik - doch etliche Schrebergärtner sehen das als ein Problem. Stolz auf die Pracht in ihrem Garten, errichten sie geschwind betonbewehrte Hecken, damit der Nachbar nicht rüberkommt, und verrammeln das Gartentor, damit Ungebetene gar nicht erst ihren Fuß auf die sorgfältig geharkten Wege setzen. Die kleinbürgerliche Angst, dass Unheil droht, wenn es nicht "weiter so" geht, ist einer der hartnäckigen Gründe für die Subalternität der Linken. Die PDS sieht sich in der Position des Stärkeren, weil es ihr mit dem Frontmann Gysi gelingen könnte, ein drittes Direktmandat zu erringen und damit - ober- oder unterhalb der 5%-Hürde - mit Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen. Das Angebot offener Listen wird deshalb von Wahlkampfstrategen schon gar nicht mehr im ursprünglichen Sinne eines gesamtdeutschen Politikangebots verstanden, sondern als taktisches Manöver inszeniert.

Taktische Manöver und wahlarithmetisch begründete Winkelzüge kann und sollte sich die politische Linke nicht mehr leisten. Die Linke jenseits der Sozialdemokratie steht nicht nur in Deutschland vor dem grundlegenden Problem, angesichts wachsender Widersprüche und Krisen der Kapitalakkumulation, einer sich rasch verschärfenden Zerstörung der fordistisch geprägten Lohnarbeitsgesellschaft und den damit zusammenhängenden zivilgesellschaftlichen Deformationen die Spaltungen und die historisch überlieferten Kostümierungen zu überwinden.

In Deutschland ist die PDS eine aus der Systemkonfrontation herrührende gesellschaftliche Realität. Sie ist in den ostdeutschen Bundesländern eine Volkspartei. Schwieriger ist die Westseite zu bestimmen. Gregor Gysi sieht den Aufbau seiner Partei im Westen als gescheitert an: "Ich mache mir keine Illusionen mehr: Absehbar werden wir im Westen keine ausreichende Bedeutung haben. Für die PDS sind die Zeiten immer schwierig. Sie ist immer noch nicht im Westen angekommen. Wir bräuchten dort vier, fünf Prozent, um gegen den Neoliberalismus wirklich etwas erreichen zu können." Wohl sei die PDS offen für Leute wie Oskar Lafontaine, auch für Aktivisten der WASG. "Doch solche Linken im Westen haben der PDS gegenüber Hemmungen." Lafontaine und die anderen dächten, dass sie eine Vergangenheit und Kultur erbten, die nicht ihre eigene ist. Noch immer wirke die PDS "im Westen eher wie eine ausländische Partei".

Was heißt das für die Zukunft? Die Aufforderung, die Menschen sollten sich ihre kultur-historisch begründeten Verhältnisse aus dem Kopf schlagen, ist absurd. Deshalb wird es einer Partei alleine nicht gelingen, eine umfassende Repräsentanz der politischen Linken in diesem Lande zuwege zu bringen. Was aber gelingen könnte, ist, die in unterschiedlichen Organisationen fortbestehenden "Kulturen" im wörtlichen Sinne "aufzuheben", eine höhere Ebene einer Bundestags-Wahlpartei zu erreichen, und damit den Beginn eines Verständigungsprozesses gleichsam zu institutionalisieren.

André Brie, der ehemalige Wahlkampfleiter der PDS, argumentiert in diese Richtung und plädiert für ein breites Bündnis gegen den Neoliberalismus. Seine Kernthese: Angesichts der unübersehbaren Folgen der neoliberalen Politik für die Arbeits- und Lebensverhältnisse eines Großteils der BürgerInnen und der zunehmenden Zerstörung demokratisch-rechtsstaatlicher Kultur in unserem Land habe die Linke kein Recht mehr auf Misserfolg. "Knapp anderthalb Jahrzehnte später ist von der einstigen Bonner Republik (dem ›rheinischen Kapitalismus‹ und der militärischen Zurückhaltung der bundesdeutschen Politik) nicht mehr viel übrig. Wir haben tatsächlich eine grundsätzlich andere Republik, eine andere Gesellschaft."[4]

Wie kann die politische Linke auf die gesellschaftliche Entwicklung Einfluss gewinnen? Zunächst: Es gibt in Deutschland keinen Platz für zwei linke Parteien, die beide die Fünf-Prozent-Hürde bei Bundestagswahlen überwinden könnten. Bei entsprechendem politischen Willen müsste es jedoch möglich sein, unter Respektierung der politisch-kulturellen Eigensinnigkeiten eine gesamtdeutsche linke Alternative zu sozialdemokratischem und rechtskonservativem Neoliberalismus zustande zu bringen.

Es gibt Gegenargumente: zu wenig Zeit. Und: Ist die demokratische Beteiligung der Mitglieder unter diesen Bedingungen gewährleistet? Diese Argumente fallen nicht zu stark ins Gewicht, wenn sich die Linke darauf verständigt: Eine breite parlamentarische Vertretung zu organisieren, ist ein kleiner Schritt zur Formierung eines großen gesellschaftlichen Oppositionsbündnisses. Es müsste möglich sein, sich auf ein Aktionsprogramm zu den Bundestagswahlen zu verständigen5 und dafür eine parteiförmige Organisation zu schaffen, die die rechtlichen Bedingungen für eine Kandidatur erfüllt. Dies könnte zugleich der Schritt zu einem längeren Prozess der Neugründung der politischen Linken sein.

Herausgefordert werden alle oppositionellen Bewegungen und Parteien durch die Zerstörung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Daher kann im Zentrum eines solchen Aktionsprogramms die Verteidigung und Fortentwicklung von Sozialstaat und Demokratie stehen. Der Sozialstaat ist eine wesentliche zivilisatorische Errungenschaft. Ihn sichern heißt, ihn umfassender zu machen und auf neue Entwicklungen abzustimmen. Besonders die vielfältigen Formen, in denen heute gearbeitet wird, verlangen eine sachgerechte Anpassung der sozialen Absicherung. Diese Veränderungen sind das Ergebnis der technischen Entwicklung und der veränderten Wirtschaftsstrukturen, der sozialen Umbrüche, der veränderten Familienstrukturen und der neuen Rolle der Frau. Diese Entwicklungen erfordern Veränderungen in der Organisation der Arbeit, ohne das Ziel der Vollbeschäftigung aufzugeben. Sie erfordern überdies Reformen der sozialen Sicherungssysteme, die einen umfassenden Schutz aller Mitglieder der Gesellschaft vor den sozialen Risiken und die Sicherung des Lebensstandards gewährleisten. Die soziale Sicherung lässt sich kurzfristig dadurch stabilisieren und verbessern, dass alle Bevölkerungsgruppen und alle Einkommen in eine solidarische und paritätisch finanzierte Bürger- oder Volksversicherung einbezogen werden.

Gründen wir eine Linke Alternative oder eine Demokratische Linke gegen den Neoliberalismus! Eine Alternative gegen die perspektivlose Flucht in Wahlenthaltung oder aktive Wahlverweigerung. Eine wählbare Alternative zur Öffnung der politischen Kräfteverhältnisse, zur Erneuerung der politischen Kultur, zur Aufwertung von politischem Engagement in diesem Lande. Eine politische Antwort auf den entfesselten Kapitalismus. Lasst es uns deutlich sagen: Der Begriff der Linken wird kein positiv besetzter mehr sein, wenn die Chancen zu einer Neugründung aus kleinkarierten Überlegungen und Eifersüchteleien vertan werden.

[1] D. Oberdörfer/G. Mielke/U. Eith, Das Ende der Ära Schröder, in: Frankfurter Rundschau v. 25./26.5.2005, S. 31.
[2] Walter Benjamin hat die Fallstricke des Mainstreaming einprägsam am Beispiel der Weimarer Sozialdemokratie beschrieben: "Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ist, haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik, sondern auch an ihren ökonomischen Vorstellungen. Er ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs. Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom." (Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften Band I,2, Frankfurt a.M. 1980, S. 698)
[3] H. Prantl, Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit, München 2005, S. 149.
[4] A. Brie, Die Linke hat kein Recht mehr auf Misserfolg, in: Sozialismus 4, 2005.
[5] Wem das zu ambitioniert erscheint, oder wer die programmatisch-kulturellen Unterschiede stärker gewichten möchte, sei an das Benjaminsche "Minimalprogramm" erinnert: "Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse." (Gesammelte Schriften I,3, S. 1232)