Null Hunger?

Wie die Regierung Lula in Brasilien die Armut bekämpft.

Das zentrale Projekt gesellschaftlichen Fortschritts, mit dem die Regierung Lula angetreten ist, ist das Projekt "Fome Zero", Null Hunger, mit dem sichergestellt werden soll, dass in diesem Land, das zu den zwölf reichsten Volkswirtschaften der Welt gehört, alle Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt werden können. Seine Umsetzung bildet, zusammen mit der Realisierung der Agrarreform, den Maßstab, an dem die Masse der Bevölkerung in Brasilien den Erfolg seiner Regierung misst.

Das Projekt Fome Zero will eine Art Grundversorgung für diejenigen bereitstellen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Es definiert die Armutsgrenze nach den Kriterien der Weltbank: danach ist arm, wer weniger als 1,08 US-Dollar pro Tag verdient. Nach diesem Maßstab gelten 44,043 Millionen Menschen in Brasilien offiziell als arm, das sind 9,32 Millionen Familien. Damit leben 27,8% der Bevölkerung (oder 21,9% der Familien) offiziell unterhalb der Armutsgrenze (in den Metropolen leben 19,1%, in den anderen Städten 25,5%, auf dem Land 46,1% unterhalb der Armutsgrenze).
Von Anfang an war das Projekt Fome Zero starker Kritik vor allem der Sozialverbände ausgesetzt. Es greift die Vorstellung früherer Sozialprogramme auf, wonach die den ärmsten Familien zur Verfügung gestellte Transferleistung nur zum Kauf von Nahrungsmitteln verwendet werden darf, die von der Regierung festgelegt werden. Das sind solche Nahrungsmittel, die von örtlichen Produzenten hergestellt werden, womit die Regierung zugleich die lokale Produktion ankurbeln will. Die Festlegung darauf wird als bevormundend begriffen, als könnten Arme nicht mit Geld umgehen.
Ein erster Realisierungsschritt des Projekts war das Programm Bolsa Família (Familienbörse). Frühere Regierungen hatten Teilprogramme: die Bolsa Escola (Schulbörse), Bolsa Alimentação (Nahrungsmittelbörse), Cartão Alimentação (Nahrungsmittelkarte), Auxílio Gas (Gashilfe). Mit der Bolsa Família fasste die Regierung Lula all diese Programme in einem zusammen. Anders als Programme zur Versorgung der Alten und Behinderten hat man auf die Bolsa Família keinen Rechtsanspruch. Es handelt sich um eine politische Willenserklärung der Regierung, deren Umsetzung sie von ihren Möglichkeiten abhängig macht.
Im Dezember 2004 wurde es in 5533 Gemeinden umgesetzt, also fast allen, und erreichte mit einem Umfang von 5,3 Milliarden Reais (1,77 Milliarden Euro) 6571842 Familien. Wenn man davon ausgeht, dass die durchschnittliche Familie in Brasilien 3,62 Personen zählt, kamen 23790068 Personen in den Genuss der Leistung, die Mehrzahl davon lebt im Nordosten Brasiliens.
Das ist ziemlich viel, vor allem wenn man es in Relation setzt zu den Mitteln, über die eine Gemeinde sonst verfügt. Einigenorts machen diese Mittel über 40% des gesamten Gemeindehaushalts aus. So unzulänglich die Bolsa Familia also ist, so unzweifelhaft ist, dass sie in den ärmsten Gegenden einen gewissen Umverteilungseffekt hat und wirtschaftliche Aktivität begünstigt. Für Millionen Menschen wird damit die Lebenshaltung verbessert. Aber, wie gesagt, es handelt sich dabei nicht um ein gesetzlich fixiertes Recht, sondern um eine Vergünstigung, die die Regierung gewährt und die eine andere jederzeit rückgängig machen kann.

Unter dem Mindestlohn
Es gibt ein anderes Handicap. Die Bolsa Familia wird Menschen gezahlt, die über ein Pro-Kopf- Einkommen von weniger als 50 Reais (= 16 Euro) pro Monat verfügen und unter 65 Jahre alt sind. Als Kriterium für Leistungsbezug ist das sehr niedrig angesetzt. Der Mindestlohn betrug in Brasilien bis Ende April 2005 260 Reais pro Monat (= 83 Euro), er ist auf eine vierköpfige Familie berechnet (im Norden des Landes sind die Familien größer). Das macht pro Person ein Monatseinkommen von 65 Reais. Seit Mai ist er auf 300 Reais (= 96 Euro) angehoben, der Abstand zur Bolsa Familia steigt damit auf 25 Reais. Der gesetzlich fixierte Mindestlohn stellt aber für sich schon eine Untergrenze des Einkommens dar; ein geringeres Einkommen wird von der Gesellschaft als unmoralisch erachtet.
Die Absicht des Gesetzes bei seiner Einführung war, dass ein Arbeiter damit sich und seine Familie ernähren können sollte. Im Lauf der Jahrzehnte ist der reale Wert des gesetzlichen Mindestlohns natürlich gesunken und entspricht heute deswegen bei weitem nicht mehr dem, was eine Familie aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern zum Überleben braucht. Die Festlegung der Bolsa Familia auf einen Wert, der noch unterhalb des inzwischen selbst unzulässig niedrigen Wert des Mindestlohns liegt, bedeutet, dass die Regierung Lula der Auffassung ist, nicht alle Menschen hätten das gleiche Recht auf ein Mindesteinkommen - bei einigen wird es durch den Mindestlohn gedeckt, andere müssen sich mit der Bolsa Familia begnügen. Das Verständnis, dass der Mindestlohn die absolute Untergrenze für ein überlebensnotwendiges Einkommens darstellen muss, ergibt sich allein aus der Tatsache, dass die Grundbedürfnisse eines Lohnabhängigen sich von denen einer Krabbenpulerin nicht unterscheiden.
Manchmal wird gesagt, der Niveauunterschied zwischen der Bolsa Familia und der Grundversorgung im Alter ergibt sich aus der Tatsache, dass letztere, die ein Recht ist, sich auf die geleistete Arbeit gründet. Sie stellt ein Mindesteinkommen dar, das demjenigen gewährt wird, der dem Arbeitsmarkt nicht (mehr) zur Verfügung steht. Im Falle der Bolsa Familia ist der Bezug zur Arbeit nicht explizit, da sie eine Leistung an extrem arme Menschen unter 65 Jahren darstellt. Aber auch die Bolsa Familie nimmt indirekt Bezug auf die Arbeit, weil sie voraussetzt, dass die Familie arbeiten muss, um das Mindesteinkommen aufzubessern und genug zum Überleben zu haben. Es mag erlaubt sein zu fragen, unter welchen Verhältnissen die Leistungsbeziehenden eine solche Aufbesserung finden werden. Die Antwort ist nur eine: unter denselben Verhältnissen wie vorher auch - ihre Lage bessert sich dadurch um nichts. Die Geschichte der Akkumulation in Brasilien weist eine perverse Logik auf: Selbst wenn die Wirtschaft wächst, verschärft sich die Ungleichheit und die absolute Armut nimmt zu.

Ansatz zu dürftig
Diese Determinanten zu ändern, ist für jeden Menschen ein Gebot, der von sich behauptet, die skandalöse Armut in unserem Land bekämpfen zu wollen. Der Kampf gegen die Armut kann sich jedoch nicht auf den Transfer von Einkommen beschränken, erst recht nicht angesichts der Bedingungen, in denen sie wurzelt. Natürlich stellt der Transfer von Einkommen an die ärmsten Familien eine herausragende Aufgabe dar, aus der sich keine Regierung herausstehlen kann. Wer aber die Armut allein mit Hilfe der Bolsa Familia bekämpfen will, ohne dies Programm mit anderen Politiken zu verknüpfen, wird letzten Endes nur die Anzahl der Leistungsberechtigten erhöhen.
Deshalb wird es zur Förderung der sozialen Integration und Abnahme der Ungleichheit auch nicht reichen, dass die Regierung Arbeitsplätze und Einkommen schafft - was man schwer von ihr behaupten kann -, indem sie die Zinssätze anhebt und Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet, um den Schuldendienst zu zahlen. Wenn sie die Agrarreform nicht durchsetzt und nicht die Faktoren anpackt, die die Konzentration von Einkommen und Vermögen am stärksten befördern, wird das Ergebnis nur eine ewige Politik des Löcherstopfens sein. Während es also nötig ist, Mittel anzuwenden, die mit der perversen Logik der kapitalistischen Akkumulation in Brasilien brechen, muss gleichzeitig das Recht auf ein bestimmtes Einkommensniveau für alle gesetzlich verankert werden.
Dieses Einkommen muss verstanden werden als ein Recht, das sich aus dem Bürgerrecht selbst ergibt, es muss von der brasilianischen Verfassung garantiert werden. In dieser Form und im Geist des ursprünglichen Vorschlags von Senator Eduardo Suplicy bildet das Mindesteinkommen keinen Akt der Fürsorge, sondern wäre Teil der Grundrechte, die jede brasilianische Bürgerin genießt, in derselben Weise wie der Zugang zur Versorgung mit Gesundheit und Bildung als Grundrecht verstanden wird.
Dieses Mindesteinkommen erhebt nicht den Anspruch, das gegenwärtige System sozialer Sicherung zu ersetzen, es will es ergänzen, um der Komplexität der brasilianischen Gesellschaft Genüge zu tun. Es wären auch keine großen Mittel dafür notwendig, die Zahl der Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben, auf Null zu senken. Aber genau wie ein ehrgeizigeres Programm, das wirklich auf die Hebung des Lebensniveaus zielt und nicht nur darauf, dass die Familien knapp über die Armutsgrenze kommen, nachhaltigere Ressourcen in Anspruch nimmt, muss das Mindesteinkommen zu einer Priorität der heutigen Sozialpolitik werden - nur dann kann man sagen, dass die brasilianische Gesellschaft wirklich der Entwicklung des Landes verpflichtet ist. Wachstum ohne Umverteilung der Einkommen reproduziert nicht nur die Ungleichheiten der Vergangenheit, es vertieft sie noch.
Um eine solche Politik durchzusetzen ist es nötig, dass der brasilianische Staat seine Interventionsfähigkeit zurückerlangt und eine Diskussion darüber einfordert, wie der gesellschaftliche Überschuss verwendet werden soll. Darüber hinaus müsste das Steuersystem hinlänglich geändert werden, damit Einkommen umverteilt und Ressourcen für eine Politik mobilisiert werden, die für die brasilianische Gesellschaft lebenswichtig ist.