Autoritär liberal

Nach dem Niedergang des Islamismus ist in Algerien eine neue Ära angebrochen

In den 1990er Jahren stürzte der mörderische Konflikt zwischen den radikalen Islamisten des FIS und dem autoritären Regime Algerien in eine schwere Krise. Schon seit einigen Jahren ist dieser Bürgerkrieg zugunsten der staatlichen Oligarchie entschieden. Wo steht das Land heute? Hat die Niederlage der Islamisten positive Änderungen bewirkt?

Die "Islamische Rettungsfront" (der FIS, Front islamique du Salut) stieg Anfang der 1990er Jahre zur stärksten politischen Partei in Algerien auf. Die soziale Krise, ihre Aura als "gefährlichste Herausforderin" des seit 1962 amtierenden Regimes und das Wegbrechen sozialistischer und kommunistischer Alternativen verschafften ihr massiven Zulauf von WählerInnen. Diese rekrutieren sich zum einen aus dem ideologisch gefestigten, harten Kern der Anhänger einer "Islamischen Republik", zum anderen aus deklassierten Unterschichtenangehörigen, die dem islamistischen Gesellschaftsprojekt eher fern standen.
Die herrschende Oligarchie in Algerien bestand damals aus Angehörigen der Staatsbürokratie unter dem ehemaligen Ein-Parteien-Regime des FLN (Front de libération nationale, Nationale Befreiungsfront), höheren Militärs und einer Privatbourgeoisie. Letztere war im Windschatten des algerischen Staatssozialismus groß geworden und trug oft mafiöse Züge. Sie war entweder durch familiäre Beziehungen zur ehemaligen Staatsbürokratie und zum Militär nach oben gekommen oder lebte vom Schwarzmarkt und von Importen, die theoretisch illegal, aber durch die verbreitete Korruption gedeckt waren. Diese auf Importbasis funktionierende "Schattenwirtschaft", die sich vor allem in den 1980er Jahren breit machte und später teilweise legalisiert wurde, hatte gravierende Auswirkungen auf den Versuch, mittels eines autozentrierten Entwicklungsmodells das Land zu industrialisieren und aus der Abhängigkeit von hochindustrialisierten Ländern zu führen. Ende der 1980er Jahre war das staatssozialistische Entwicklungsmodell endgültig gescheitert, der Islamismus trat als "radikale Alternative" auf den Plan.
Innerhalb der herrschenden Oligarchie verlief Anfang der 1990er Jahre eine Trennlinie zwischen jenen Fraktionen, die eine Machtteilung mit den Islamisten ablehnten, und den Befürwortern eines "Kompromisses" zwecks Einbindung des FIS an die Macht. Letztere waren der Ansicht, die Islamisten könnten mit ihrem autoritären Programm, das die Demokratie im Namen des absoluten Geltungsanspruch des "göttlichen Wortes" verwarf, für Ordnung im Land sorgen und die Leute "an die Arbeit zurückbringen". Bis in die Führungsspitzen der Armee hinein waren beide Fraktionen vertreten. Doch die Gruppe jener Offiziere, die eine Machtteilung mit dem FIS ablehnte, setzte sich zunächst durch. Daraus resultierte die Frontstellung zu Beginn des algerischen Bürgerkrieges (1993 bis 1998). Später, im Verlauf des Konflikts, verselbständigten sich verschiedene Gruppen. So verschmolzen verschiedene bewaffnete Islamistengruppen mit einem vorwiegend kriminellen Desperadotum.
Die anfängliche Frontstellung der frühen 1990er Jahre beruhte auf einer falschen Alternative, denn in Wirklichkeit standen nicht Unterdrücker und Unterdrückte einander gegenüber, wie manche wohlmeinende westliche Intellektuellen es sehen wollten. Genauso wenig handelte es sich beim Zurückdrängen der Islamisten um einen "antifaschistischen Verteidigungskampf", wie die Freunde des algerischen Militärregimes es in Europa gern darstellten. Der Konflikt verlief vielmehr zwischen einem oligarchischen und autoritären (Militär-)Regime und einer regressiv-autoritären islamistischen Opposition.

Eingebundene Islamisten...

Heute besteht diese falsche Frontstellung in dieser Form nicht mehr. Das hat mehrere Gründe. Der erste Hauptgrund dafür besteht darin, dass einige Organisationen des politischen Islam längst in die Regierungskoalition eingebunden sind - freilich nicht als dominierende politische Kraft, sondern als Juniorpartner der stärksten Fraktionen der Oligarchie. In den Reihen der ehemaligen Staatspartei und derzeitigen stärksten Kraft der Regierungskoalition, des FLN, sind die ehemaligen Befürworter einer Allianz und Machtteilung mit den FIS-Islamisten heute mehr denn je in führende Positionen eingebunden. Dazu gehört der ehemalige Parlamentspräsident Abdelaziz Belkhadem, der von 2000 bis 2005 als Außenminister amtierte.1
Bereits seit 1996 gehört die als "moderat" geltende islamistische Partei MPS-Hamas allen seitherigen Regierungskoalitionen an. Das französische Kürzel der Partei bedeutete ursprünglich "Bewegung für eine islamische Gesellschaft", MSI. Da seit der Verfassung von 1996 offiziell Parteien auf religiös-politischer Grundlage verboten sind, wurde die Partei umbenannt in "Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens", französisch abgekürzt: MSP. Die kleine Änderung erlaubt es jedoch, das arabische Buchstabenkürzel HMS beizubehalten, das ausgesprochen nach wie vor "Hamas" (Eifer) ergibt. Die Partei steht der Internationale der Muslimbrüder nahe. Ihr 2003 verstorbener, längjähriger Chef Mahfoud Nahnah stand an dritter Stelle der Hierarchie in der internationalen Muslimbrüderschaft.
Die Wurzeln der MPS-Hamas reichen in die religiöse Rechtsopposition der 1970er und 80er Jahre zurück. Mahfoud Nahnah, der von 1976 bis 1981 im Gefängnis saß und zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, kam damals mutmaßlich aufgrund eines Stillhalteabkommens mit der politischen Polizei des Einparteienregimes frei. Deswegen wurde er seit langem durch militante Islamisten erbittert bekämpft und des "Agententums" verdächtigt. Deswegen, aber auch aufgrund der durch die Muslimbrüder in verschiedenen arabischen Ländern verfolgten "Strategie der Selbstbeschränkung" - eines Marsches durch die Institutionen, der die scharfe Konfrontation mit den autoritären Regimes vermeiden soll - setzte die Partei seit ihrer Legalisierung 1990 stets auf eine institutionelle Strategie. Sie grenzte sich vom FIS mit seinem pseudo-revolutionären Diskurs ab. Heute befindet sich die MPS-Hamas in einer Phase der Erosion, da sie kaum entscheidenden Einfluss auf den Kurs der Regierung nehmen konnte und viele ihrer früheren Anhänger enttäuscht sind.
Auch auf Seiten des FIS gab es partiell Annäherung an die Oligarchie. Die Exilführung des FIS im Ausland in Gestalt des in Deutschland lebenden Rabah Kebir (der mittlerweile von anderen FIS-Kadern als "zu moderat" abgesetzt wurde) gab zur Präsidentschaftswahl von 1999 erstmals wieder eine Wahlempfehlung ab, nachdem ihr Untergrundkampf gescheitert war. Dabei unterstützten die FIS-Kader im Ausland die Kandidatur des damals parteilosen Bewerbs Ahmed Taleb Ibrahimi. Diese Wahl war symptomatisch: Taleb Ibrahimi verkörperte keineswegs eine Alternative zum "alten" Regime, denn er war zur Zeit der Einheitspartei FLN 25 Jahre lang Minister. Taleb Ibrahimi zeichnet politisch verantwortlich für die desaströse, rein ideologisch determinierte Arabisierungspolitik der 1970er Jahre.2 Weit entfernt davon, auch nur ansatzweise eine emanzipatorische Alternative zu verkörpern, trägt er direkt einen Großteil der Verantwortung für all das Unheil, das die herrschende Oligarchie in den vergangenen Jahrzehnten angerichtet hat. Vielen Erben des FIS gilt er hingegen als Hoffnungsträger. Seit dem Jahr 2000 versucht Ibrahimi eine neue Partei namens Wafa (Die Treue) unter Beteiligung vieler Ehemaliger des FIS aufzubauen. Bislang wird ihr jedoch seitens der Behörden die Zulassung verweigert.

... und befriedigte Bourgoisie

Der zweite Hauptgrund für die Auflösung der Frontstellung von Regime und Islamisten liegt darin, dass die soziale Konstellation, die den Wahlerfolgen des FIS bei den Kommunalwahlen von 1990 und den Parlamentswahlen von 1991 zugrunde lag, nicht mehr in der damaligen Form besteht. Der "Rettungsfront" war es Anfang der 90er Jahre gelungen, zwei verschiedene soziale Kräfte zusammenzuschweißen: einerseits das Subproletariat, das vor allem aus der Landflucht hervor gegangen war und mit dem Scheitern der staatssozialistischen "Agrarrevolution" der 70er Jahre in die Arme reaktionärer Ideologen getrieben worden war. Andererseits waren es die algerische Privatbourgeoisie und die Akteure des schattenwirtschaftlichen Sektors. Ihnen ging es darum, den FLN von der Macht zu verdrängen und die ihnen durch das staatssozialistische Modell auferlegten Einschränkungen ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit abzuschütteln.
Doch die Interessen der zuletzt genannten Schichten sind inzwischen längst befriedigt worden - durch das amtierende Regime selbst, das in den 1990er Jahren eine "wilde" Privatisierung einleitete, die mit der Zerschlagung vieler öffentlicher Betriebe und der Entlassung mehrerer hunderttausend Lohnabhängiger einher ging. Die zu erwartenden sozialen Widerstände dagegen fielen nicht zuletzt deswegen schwach aus, weil die Machthaber die Schrecken des Bürgerkriegs - in dem die Terrorangst und die Todesdrohungen gegen Gewerkschafter und Intellektuelle jede kollektive Initiative lähmten - zum Umbau der Gesellschaft durch Privatisierung und Zerschlagung sozialer Errungenschaften ausnutzen konnten. Davon profitierten Teile der bisherigen Oligarchie, die ihre bisherigen Positionen in der staatsbürokratischen Nomenklatura in eine neue Rolle als privatkapitalistische Eigentümer umwandeln konnten, etwa indem sie Privatisierungen bisheriger Staatsbetriebe zu ihren eigenen Gunsten nutzten.
Andere Teile der Oligarchie gerieten dabei unter die Räder. Daraus erklärt sich die spätere protektionistisch orientierte Opposition gegen eine allzu unkontrollierte "Liberalisierung" und einen allzu starken Ausverkauf der algerischen Ökonomie. Doch gehörten auch die bisher in der Schattenökonomie aktiven und eher mit den Islamisten sympathisierenden Akteure teilweise zu den großen Profiteuren. Ihre Integration als materielle Gewinner der neuen Konstellation wurde beispielsweise durch die Regierungsbeteiligung der algerischen Hamas-Partei politisch-ideologisch abgestützt und begleitet. Zu den Verlierern zählt jedoch der subproletarische Teil der ehemaligen Basis der "Rettungsfront": An der sozialen Lage dieser früheren FIS-Sympathisanten hat sich in der Regel nichts verbessert.

Weniger empfänglich für Ideologen

Drittens ist auch das ideologische Projekt der radikalen Islamisten vorerst gescheitert: Der harte Kern ihrer Anhängerschaft glaubte tatsächlich, dass die "Rettungsfront" mit göttlicher Hilfe eine gerechtere Gesellschaft auf Erden schaffen könne. Hinzu gesellten sich eine zahlenmäßig größere Zahl von Wählern, die für den FIS nicht so sehr wegen dessen Programms stimmten, sondern die einfach den gefährlichsten Herausforderer des FLN und der alten Oligarchie unterstützten.
Beide sind aber enttäuscht worden. Nicht im gesamten Land, wohl aber in den während des Bürgerkriegs durch radikale Islamisten kontrollierten Stadtteilen oder Vorstadtbezirken haben die ehemaligen FIS-Anhänger im Alltag konkrete Erfahrungen mit der Umsetzung der islamistischen Ideologie machen können. Dabei stellte sich heraus, dass sich ihr Leben keineswegs verbessert hatte, sondern lediglich durch rigide Verbote (die aus ideologisch motiviertem Tugendterror entsprangen und bei Zuwiderhandeln mit Misshandlungen oder Tod sanktioniert wurden) eingeengt wurde. Die radikalen Islamisten untersagten den beschäftigungslosen Männern, im Café zu sitzen und Domino zu spielen. Sie verboten den Frauen nicht nur, unverhüllt auf die Straße zu gehen, sondern vor allem auch zu arbeiten. Das stieß die bisherigen AnhängerInnen nicht unbedingt deswegen ab, weil sie große Sympathien für die Emanzipation der Frau gehegt hätten, wohl aber deswegen, weil die armen Familien den Lohn benötigten, den ihre weiblichen Mitglieder nach Hause brachten.
Die radikalen Islamisten verboten den Menschen, in den öffentlichen Betrieben des "ungläubigen Molochs", des taghout (Götzen) - wie sie den Staat bezeichneten - zu arbeiten. Dadurch drohten sie vielen Menschen die Lebensgrundlage zu nehmen. Nicht zuletzt bedrohten sie all jene jungen Männer mit dem Tode, die ihren Militärdienst ableisteten (und sei es aus Zwang), und exekutierten auch einige von ihnen. Damit brachten sie viele ehemalige Anhänger gegen sich auf. Ein weiterer Grund dafür war, dass ein Teil der bewaffneten Islamisten, nachdem die Unterstützung aus der Gesellschaft für ihren Kampf deutlich zurückgegangen war, ab 1996 die Flucht nach vorn wählte und die Bevölkerung durch Kollektivmassaker und Terror einzuschüchtern suchte. Und schließlich unterlagen die radikalen Islamisten gegenüber der Staatsmacht, die sich als eindeutig stärker herausstellte. Damit verflog auch die Aura der Islamisten als erfolgreiche Herausforderer der Machthaber.
Das alles bedeutet nicht, dass der politische Islam in Algerien für immer tot wäre. Einem Teil seiner Anhängerschaft gelang es, die in den 1990er Jahren von ihm und für ihn entfesselte Gewalt zu "rationalisieren", indem diese als Werk von Teufelsanhängern oder verdeckt agierenden Agenten der Staatsmacht dargestellt wird. Deshalb sind die - auch von manchen europäischen Linken verbreiteten - Verschwörungstheorien über angeblich durch das Regime selbst begangene und den Islamisten fälschlich angelastete Massaker überaus schädlich. Politisch-religiöse Interpretationen und Verhaltensweisen werden darüber hinaus auch im heutigen Algerien immer wieder reaktiviert. So wurden beispielsweise einige katastrophale Ereignisse wie etwa das Erdbeben vom Mai 2003 mangels anderer rationaler Erklärungen seitens der Behörden (die Verstöße gegen das Baurecht durch die örtliche mafiöse Bourgeoisie deckten) von Teilen der Bevölkerung als "Strafe Gottes" erfahren.3
Dennoch ist auch die algerische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit wesentlich weniger empfänglich für die islamistische Botschaft geworden. Auch das Alltagsleben in Algerien veränderte sich in den letzten Jahrzehnten: 1970 nahmen nur 7 Prozent der algerischen Frauen Verhütungsmittel, zu Anfang dieses Jahrzehnts waren es 64 Prozent. Das starke Bevölkerungswachstum früherer Jahre ist daher zurückgegangen. Im Jahr 1977 waren 71,9 Prozent der algerischen Gesellschaft unter 30 Jahre alt, im Jahr 2003 noch 62,7 Prozent. Man könnte einwenden, dies sei weniger das Ergebnis veränderter Wertevorstellungen, Familienstrukturen oder Geschlechterrollen, sondern spiegele vor allem ein Jahrzehnt des Bürgerkrieges und der sozialen Hoffnungslosigkeit wider. Gegen letztere Interpretation spricht jedoch, dass normalerweise gerade in Krisenzeiten besonders viele Kinder als Absicherung für das Alter in die Welt gesetzt werden.

Riots ohne Perspektive?

Wie es um die Zukunft der islamistischen Ideologie in Algerien bestellt ist, wird nicht zuletzt davon abhängen, welche alternativen gesellschaftlichen Orientierungs- und Handlungsangebote es geben wird. Soziale Bewegungen, die konkrete Forderungen nach einem besseren Leben verkörpern, schwächen die Anziehungskraft des politischen Islam. Überall in Algerien existieren soziale Widerstände, oftmals in Form von lokalen Riots und Elendsrevolten. Beispielsweise gegen die Erhöhung der Treibstoff- und Energiepreise: Im Januar 2005 entflammte eine solche Armutsrevolte die Bezirkshauptstädte auf den Hochplateaus im Atlasgebirge. Oder gegen die oftmals mafiöse Einstellungspraxis in öffentlichen Betrieben, wie in der Erdölindustrie im algerischen Süden: In der Saharastadt Ouargla etwa haben sich die arbeitslosen Hochschulabsolventen deswegen zu einer strukturierten "Bürgerbewegung" zusammengeschlossen. Die protestierende Jugend machte den als Triumphzug konzipierten Wahlkampf-Besuch in Ouargla von Präsident Bouteflika im Februar 2004 zu einem einzigen Fiasko, bei dem Steine auf das Präsidentenauto flogen und die Hauptstraße durch brennende Autoreifen barrikadiert wurde.4
Im Allgemeinen fehlt es diesen, oft spontan und auf lokaler Ebene ausbrechenden Riots an einer übergreifenden und längerfristigen Perspektive. Dennoch können sie mitunter wichtige Ergebnisse verzeichnen. Als beispielsweise die Regierung im April 2002 die - seit 1974 vom damaligen staatssozialistischen Regime eingerichtete - kostenlose Gesundheitsversorgung abschaffen wollte, kam es in der ostalgerischen Kreisstadt Aïn Fekroun zu Unruhen, nachdem ein Schwerverletzter und eine Schwangere ohne Geld aus dem örtlichen Krankenhaus abgewiesen worden waren. Daraufhin musste die Maßnahme landesweit rückgängig gemacht werden. Besser strukturiert sind die Streiks in den öffentlichen Diensten, die von freien Gewerkschaften wie der linken Lehrerorganisation CLA (Autonomer Rat der Oberschulen von Algier) organisiert werden. Der CLA streikte Ende 2003 drei Monate lang für die Forderung nach hundertprozentiger Lohnerhöhung, nachdem die Lehrer während des Bürgerkriegs schwere Lohnverluste hinnehmen mussten, und konnte etwa ein Drittel seiner Forderung durchsetzen.
Von großer Bedeutung waren auch die flächendeckenden Unruhen in der Kabylei, der wichtigsten berbersprachigen Region, vom Frühjahr und Sommer 2001. Ihr unmittelbarer Auslöser waren zwei Fälle schwerer Polizeigewalt, doch die tieferen Gründe der vielerorts militanten Jugendrevolte waren sozialer Natur. Die damalige Protestbewegung schaffte es jedoch nicht, sich über einen längeren Zeitraum über die berbersprachigen Provinzen hinaus auszudehnen, so dass die Regierung sie regional begrenzen konnte. Der Aufruhr sollte vor dem Hintergrund der Unterschiede zwischen Arabern und Berbern als kulturell-partikularistisch motiviert erscheinen und wurde im Staatsfernsehen entsprechend dargestellt.
All diese sozialen Bewegungen sind in gewisser Weise Opfer des zurückliegenden schwarzen Jahrzehnts, da die Neigung zu kollektiver Organisierung und zur Akzeptanz gesellschaftlicher Utopien nach den bösen Erfahrungen mit dem politischen Islam abgenommen hat. Das Misstrauen und das Gefühl gesellschaftlicher Ohnmacht sitzen tief.

Wirtschaftsliberaler Bonapartismus

Algerien befindet sich heute in mehrfacher Hinsicht in einer neuen Phase. Auf ökonomischer Ebene ist eine Periode maximaler "Öffnung" und "Liberalisierung" der Wirtschaft angebrochen. Die Regierung hat seit Oktober 2004 ein rabiates Privatisierungsprogramm aufgelegt, das tausend von insgesamt 1.300 öffentlichen Unternehmen betrifft. Bisher fanden sich jedoch nicht genug Investoren, da die westlichen Konzerne an Algerien eher als Absatzmarkt und als reinem Öl- und Gaslieferanten interessiert sind, als dass sie dort investieren wollten.
Durch einen Beschluss des algerischen Parlaments vom 20. März 2005 wurde die vor 34 Jahren eingeleitete Nationalisierung des Erdöl- und Erdgas-Sektors rückgängig gemacht, so dass westliche Konzerne nun erstmals Mehrheitsanteile im Bereich der Öl- und Gasförderung erwerben können. Da von diesen beiden Rohstoffen über 97 Prozent der Exporteinnahmen des Landes abhängen, sind seine Souveränität und seine wirtschaftliche und soziale Zukunft ernsthaft bedroht. Das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union, das zum 1. Juli 2005 in Kraft tritt und eine weitere Marktöffnung für die europäische Industrie in den kommenden zwölf Jahren vorschreibt, wirkt in dieselbe Richtung.
Ähnliches lässt sich für den bevorstehenden Beitritt Algeriens zur Welthandelsorganisation (WTO) sagen, der voraussichtlich noch vor dem kommenden WTO-Gipfel im Dezember 2005 in Hongkong vollzogen wird. In dem seit 1998 anhaltenden Verhandlungsprozess um Algeriens WTO-Beitritt musste das Land bisher bereits 1.500 Gesetze und Verordnungen zugunsten eines größeren Spielraums für den Wirtschaftsliberalismus ändern. Derzeit wird noch von Algerien gefordert, seine Bemühungen um den Aufbau einer nationalen Medikamentenproduktion den Interessen internationaler Pharmakonzerne zu opfern. Das Konzept eines auch nur halbwegs autozentrierten Entwicklungsmodells soll definitiv der Vergangenheit angehören.
Auf politischer Ebene hat Präsident Abdelaziz Bouteflika ein auf weitgehend personalisierter Macht beruhendes Regime errichtet, das mit der aktuellen Handlungsschwäche der politischen Parteien und der gesellschaftlichen Klassen einhergeht. Bouteflika kam 1999 mit einem Profil an die Macht, das ihn als "starken Mann" darstellt, der die unterschiedlichen gesellschaftlichen Lager nach den Jahren des Bürgerkriegs und der Zerrissenheit "von oben" wiedervereinigt. Dieses bonapartistische Prozedere geht in jüngerer Zeit mit der autoritären Zähmung der seit 1990 erstaunlich freien Presse sowie des offiziellen Gewerkschaftsbunds UGTA einher. Der "neue Bonapartismus" Bouteflikas ist dabei, die noch vorhandenen oder wiedererlangten demokratischen Handlungsspielräume einzuschränken.

Anmerkungen:
1 Seit dem 1.5.2005 amtiert Belkhadem als Minister ohne Geschäftsbereich. Seine Hauptaufgabe besteht derzeit darin, den seit zwei Jahren gespaltenen FLN wieder zusammen zu kitten und zur Stütze für den Staatspräsidenten Bouteflika zu machen.
2 Auf die Hintergründe dieses Desasters, das zur islamistischen Ideologisierung zahlreicher junger Arbeitsloser erheblich beitrug, geht ein anderer Beitrag des Autors näher ein. (siehe www.iz3w.org,"Ende der Ohnmacht?")
3 Zur Frage der politischen Zukunft des Islamismus in Algerien siehe ausführlichen Text des Autors unter: www.unrast-verlag.de/unrast,6,1,142.html
4 Im Juni 2004 wurde die neu entstandene "Bürgerbewegung des Südens" freilich durch eine Reihe von Verhaftungen geschwächt.

Bernhard Schmid ist Journalist und Jurist in Paris. Er publiziert regelmäßig in iz3w, jungle world und anderen Medien. Anfang 2005 erschien sein Buch "Algerien - Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land" (Unrast Verlag, Münster). Unter www.iz3w.org findet sich ein ausführlicherer Text des Autors zu Algerien.