Mausklicks als Gewalt

Netzaktivismus vor Gericht wegen Onlinedemonstration.

Frankfurt, 1.Juli 2005, kurz vor 17 Uhr. Im Amtsgericht wird das Urteil im Prozess wegen einer
Internetdemonstration mit Spannung erwartet. Angeklagt ist der Inhaber der Internetdomains libertad.de und sooderso.de. Er soll sich der Nötigung und Anstiftung schuldig gemacht haben, in dem er zur ersten Onlinedemonstration in Deutschland aufgerufen hatte. Das muss geahndet werden, deshalb beschlagnahmte die Polizei im Oktober 2001 ein knappes Dutzend Rechner und ermittelte vier Jahre lang. Für die beiden Prozesstage kam die Polizei mit großem Aufgebot, und, als ginge es um schwerste Verbrechen, tagte das Amtsgericht im Hochsicherheitssaal mit Trennscheibe und Leibesvisitationen der Besucher.
Richterin Bettina Wild entsprach der Spannung. Sie verhängte die eher harmlose Strafe von 90 Tagessätzen à 10 Euro, produzierte aber eine Urteilsbegründung, die mal wieder die Findigkeit der deutschen Richterschaft unter Beweis stellt: Andreas-Thomas V. habe sich mit dem Aufruf zur Internetdemonstration der Nötigung schuldig gemacht, Tausende in seine Straftat hineingezogen und bisher unbekannte Waffen eingesetzt: die Computermaus. Dem musste die Richterin entgegentreten und das Internet von Demonstrationen und anderen kollektiven Protestaktionen säubern.

Was war geschehen?
Köln, 20.Juni 2001, kurz vor 10 Uhr. In die Messehalle hat die Lufthansa AG zur Aktionärsversammlung geladen. Draußen - und später auch drinnen - protestieren "Kein Mensch ist illegal" und Libertad! mit Transparenten und Straßentheater gegen die Geschäfte der größten deutschen Airline, um die es drinnen auf keinen Fall gehen soll: das Geschäft mit der Abschiebung, das Deportation Business.
Lufthansa verkauft den Großteil der über 21000 (2004) sog. deportee tickets. Per Flugzeug werden Menschen wie Stückgut außer Landes gebracht - bei Bedarf geknebelt und betäubt. Dabei starben seit 1991 in Europa mindestens elf Flüchtlinge. Am 28.Mai 1999 dann der Sudanese Amir Ageeb an Bord des Lufthansa-Flugs LH 558.
Sein Tod wurde Auslöser der Deportation.class-Kampagne. Ziel war es, das Image der Lufthansa zu beschmutzen, um sie zum Ausstieg aus diesem Geschäft zu bewegen. Als eine von vielen Aktionen hatten "Kein Mensch ist illegal" und Libertad! aufgerufen, im Internet gegen Lufthansa zu demonstrieren. Massenhafte Aufrufe ihrer Website sollten als sichtbarer Ausdruck des Protests im besten Falle deren Internetpräsenz lahmlegen. Denn: Das Onlinegeschäft hat für die Lufthansa ökonomisch strategischen Charakter und war damit der richtige Ort für eine Protestkundgebung, sagten sich die Initiatoren und meldeten die virtuelle Demo wie eine Straßendemo bei Ordnungsamt und Polizei an.
Nicht zuletzt die ungewöhnliche Aktionsform fand starke öffentliche Resonanz. Entsprechend gespannt war man in Köln. Die Onlinedemonstration sollte während der Eröffnungsrede von 10 bis 12 Uhr stattfinden - und: der symbolische Startklick - wo auch sonst - vor Ort erfolgen. http://go.to/online-demo informierte über die "Demoroute" und stellte eine Software bereit, mit der viel schneller, als es manuell möglich ist, fortlaufend die Lufthansa-Seiten abgerufen werden konnte. Ab 10 Uhr setzte dann ein elektronischer Ansturm auf www.lufthansa.com ein. Innerhalb der zweistündigen Aktion gab es, wie Lufthansa-Vertreter im Prozess zugegeben mussten, mehrere Totalausfälle und Phasen, in denen die Lufthansa-Server nur äußerst schwer zu erreichen waren. Mindestens 13000 Demonstrierende kamen bis zum Versammlungsort durch.
Mit der Lufthansa AG war ein hochgerüsteter Gegner ausgesucht worden. Zusätzlich hatte der Konzern ein zweites Netz und doppelte Bandbreite seiner Standleitungen eingekauft. Außerdem wurden Aufrufe und damit Mitdemonstrierende aus anderen Netzen, insbesondere aus dem Deutschen Forschungsnetz (DFN) ausgefiltert. An dem hängen fast alle Universitäten - damals oft die einzigen Orte, wo es schnelle Standleitungen ins Internet gab.
Der Lufthansa ging es ums Image und so musste, komme was wolle, die Präsenz ihrer Startseite gewährleistet werden. Was dahinter geschah war egal. Dabei knickte ihr Buchungsgeschäft völlig ein. Ein "immenser materieller Schaden", den die Lufthansa beklagte - der aber auf keinen Fall, auch nicht im Frankfurter Prozess, genau beziffert werden sollte. Deswegen konnte die Lufthansa AG auch nicht die vor der Aktion angekündigten zivilrechtlichen Forderungen geltend machen. Erst zwei Monate nach der Onlinedemonstration wurde Anzeige erstattet, wozu das Bundesministerium geraten hatte.

Razzia und Strafverfahren

Anfangs wurde wegen Datenveränderung und Computersabotage (§§240, 303a StGB) ermittelt. Als dann aber am 17.10.2001 der polizeiliche Staatsschutz in das Libertad!-Büro und die Wohnung des späteren Angeklagten einbrach, war nur noch von Anstiftung und Nötigung die Rede. Das hinderte die Polizei nicht, alle Rechner und unzählige Datenträger zu beschlagnahmen. Die Ermittlungen brachten aber keine Erkenntnisse, die nicht schon bei Einleitung des Verfahrens bekannt waren, und zogen sich jahrelang hin. Im Prozess bestätigte der Staatsschutzleiter die Vermutung, dass es eher um die Behinderung von Libertad! ging, mit den Worten: "Das nächste Mal nehme ich auch noch Monitor, Tastatur und Maus mit."
Überhaupt trug Kriminalhauptkommissar Günther Brandt dazu bei, Stereotypen polizeilicher Tätigkeit zu bestätigen. So gab er zu, dass er die Homepage www.libertad.de regelmäßig observierte und dokumentierte. Da sei ihm auch der Aufruf zur Onlinedemo aufgefallen. Ein Verfahren hätte er zwar nicht eingeleitet, auch informierte er nicht seine Vorgesetzten, setzte sich aber mit der Konzernspitze der Lufthansa AG in Verbindung "und hielt Kontakt". Als die dann - nach der Onlinedemo - Anzeige erstattete, war er sofort zuständig. Seine Ausführungen zur Nichtstrafbarkeit bis zum 20.6.01, warum er ja auch nichts amtliches unternahm, und zur Strafbarkeit ab dem 20.6.01 nervten sichtlich die Amtsrichterin.
Hatten doch nicht nur Anwälte, die die Onlinedemonstrierenden juristisch berieten, sondern offensichtlich auch Staatsschützer einen für sie viel zu laxen Begriff von Demonstrationsfreiheit. Denn das ist das Metier der Amtsrichterin: So verurteilte sie Demonstranten gegen den drohenden Krieg der USA im Irak als Blockierer der US-Airbase. Auch das Nötigung und Gewalt.
Mit ihrem jetzigen Urteil setzte sie noch eins drauf: Die Onlinedemonstration gegen die Lufthansa war "Nötigung", wandte "Gewalt" an und drohte mit "einem empfindlichen Übel". Schon allein "durch die Kraftentfaltung des Mausklicks" wurde "Zwangswirkung" auf potenzielle User der Lufthansa-Webseite ausgeübt. Das Betätigen der Computermaus war eine Form physischer Gewalt mittels der elektrischen Impulse, die der Mausklick bewirkte und die wiederum eine Aktion einer Onlinedemo-Software auslösten. Das Ganze verglich sie mit Elektroschockwaffen, den sog. Teasern. Eben die Maus als Waffe.
Die Verteidigung hatte argumentiert, eine Demonstration auf der Lufthansa-Homepage sei im Grunde dasselbe wie eine Aktion vor einer Lufthansa-Filiale. Das sah Richterin Wild ganz anders und hebelte gleich das geltende Versammlungsrecht aus. Der Onlineprotest sei höchstens eine "Ansammlung", die wie eine illegale "Blockade" der Lufthansa-Webseite gewirkt habe.
Damit erweitere Richterin Wild noch die Lesart der Staatsanwaltschaft und sah den Tatbestand der "Gewalt in seiner stärksten Form erfüllt", da im Internet auf elektronischem Wege der "Willen anderer gebeugt" worden sei. Dem musste sie entgegentreten, zumal die Onlinedemonstration mehr als nur ein einmaliger "Gewaltakt" war, sondern ihr ginge es auch darum, mit dem Urteil "potenzielle Nachahmer" abzuschrecken.

Free online protest

So grundsätzlich sah auch die Solidaritätsorganisation Libertad! die Meinungs- und Versammlungsfreiheit im Internet tangiert. Deswegen wurde die Kampagne "Free online protest - online protest is not a crime" gestartet. Mit Veranstaltungen und Kundgebungen wurde an die deportation.class-Kampagne angeknüpft und das Internet als Raum für politischen Protest verteidigt.
Im Prozess beharrte der Angeklagte auf dem Recht der freien Demonstration auch im Internet. Zahlreiche Beweisanträge thematisierten das deutsche Abschieberegime und die Beteiligung der Lufthansa. Dagegen war die Onlinedemonstration notwendig und angemessen. In seinem Schlusswort nahm der Angeklagte dann den Urteilsspruch vorweg, als er betonte, dass allein die Tatsache dieses Prozesses beweise, dass "das Internet unter die Fuchtel des Polizeirechts" gestellt werden solle.
Während der Urteilsverkündung forderten Zuschauer mit Transparenten die Demonstrationsfreiheit "online wie offline" und outeten sich als mit dem Urteilsspruch kriminalisierte Onlinedemonstranten.
Die Verteidigung hat gegen das Urteil Revision eingelegt. "Wir streben eine Entscheidung vor den höchsten deutschen und europäischen Gerichten an", sagte Rechtsanwalt Thomas Scherzberg. Libertad! kündigte die Fortsetzung der Kampagne "Free online protest" an. "Das Urteil zeigt, wie notwendig es ist", zog der Angeklagte die Schlussfolgerung, "gegen jede staatliche Einschränkung des Internets vorzugehen. Schily und Firmen wie Lufthansa hätten es gerne unter ihrer Kontrolle, als Plattform für Regierungspropaganda und Geschäfte. Aber wir werden es weiter nutzen für gesellschaftliche Vernetzung und Artikulation."

Infos. Spenden für den Prozessfonds: Förderverein Libertad! e.V., GLS Bank eG (BLZ 43060967) 8020069300, Stichwort: Onlinedemo.