Japan, China, Korea im Kampf um die Geschichte

Das 60jährige Jubiläum des Kriegsendes steht in Ostasien zugleich für das Ende der japanischen Kolonialherrschaft über China und Korea. Vor 40 Jahren wurde der Freundschaftsvertrag zwischen Japan und Südkorea geschlossen. Er beinhaltete Entschädigungszahlungen und günstige Kredite von Japan an Südkorea und sollte die Beziehungen beider Länder normalisieren. Jetzt aber ist das aus diesem Anlass geplante Jahr der Freundschaft zwischen beiden Ländern zum Jahr neu aufgeflammten Streits geworden.

Die Beziehungen Japans zu China und Südkorea sind nach wie vor weit von einer Normalisierung entfernt. Echtes Misstrauen gegenüber Japan, hervorgerufen durch seine Haltung gegenüber der eigenen Geschichte, aber auch überbordende nationalistische Empfindungen gegen die ehemaligen Unterdrücker prägen die Einstellungen Chinas und Südkoreas gegenüber Japan. Beide Länder neigen dazu, durch die Wiederbelebung des Feindbildes Japan von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Dazu kommen ungelöste Territorialfragen, die den Besitz von Inseln betreffen, in deren Umkreis sich reiche Fischgründe befinden und Erdgas bzw. Erdöl vermutet wird.
Die Rivalität Japan-China

Japan und China als die größten Volkswirtschaften Ostasiens sind wirtschaftliche Partner und zugleich Rivalen um die regionale Vorherrschaft. Beide Länder scheinen aber zu wissen, dass - bei allen politischen Unstimmigkeiten - zu ihrer beider Wohlergehen ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit funktionieren muss.

Einer der beiden gegenwärtig zentralen Konfliktpunkte ist das jüngst erlassene Anti-Abspaltungsgesetz, das die chinesische Führung für den Fall einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans zum Einsatz militärischer Mittel autorisiert. Japan kündigte daraufhin Gespräche mit den USA über mögliche Hilfe bei einem dann ausbrechenden militärischen Konflikt an - gedacht ist an logistische Unterstützung. Dagegen protestierte China wie gewohnt mit dem Argument, es handele sich hierbei um innerchinesische Fragen. Gleichzeitig wird aber die kolonialistische Karte gegen Japan gespielt: Chinesische Think-Tanks entwerfen Schreckensszenarien, denen zufolge Japan Taiwan wieder unter seine Herrschaft bringen wolle. Japan aber stellt sich auf die Seite der USA, weil es die rasch steigenden Militärausgaben Chinas wohl nicht zu Unrecht als dessen Streben nach Vormacht in Ostasien interpretiert. Deshalb widersetzt es sich auch der Aufhebung des Waffenembargos gegen China durch die EU.

Der zweite aktuelle Konfliktpunkt ist die Besitzfrage der in der Nähe Okinawas, Taiwans und dem chinesischen Festland gelegenen Senkaku-Inseln. Dort werden Erdgas- und Erdölvorkommen vermutet, um deren Ausbeutung sich die beiden rohstoffarmen Länder streiten. China hat inzwischen mit der Exploration des Erdgasfelds begonnen, die japanische Seite will nachziehen. Ende April soll darüber auf hoher diplomatischer Ebene in Peking gesprochen werden.

Die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern haben sich seit dem Regierungsantritt von Ministerpräsident Junichiro Koizumi 2001 verschlechtert, weil dieser im Gegensatz zu seinen Vorgängern jährlich einmal im Yasukuni-Schrein, in dem auch die sterblichen Überreste der höchstrangigen japanischen Kriegsverbrecher aufbewahrt werden, der Kriegstoten ge- denkt. Obwohl Koizumi deutliche Worte der Entschuldigung für die Verbrechen der Kriegs- und Kolonialzeit gefunden hat, wirft man ihm deshalb vor, die japanischen Kriegsverbrechen zu rechtfertigen, zumal seine Regierung die Verwendung eines diese Kriegsverbrechen verharmlosenden Geschichtsbuchs im Schulunterricht erlaubt hat.

Die chinesische Öffentlichkeit reagiert seit Jahren höchst empfindlich auf alle japanischen Äußerungen und Handlungen, in denen sie den Geist des alten oder eines neuen japanischen Imperialismus am Werk sieht. So erregte 2003 die dreitägige Sexorgie japanischer Geschäftsleute mit 200 Prostituierten in einem chinesischen Hotel die Öffentlichkeit und führte zu tagelangen anti-japanischischen Demonstrationen. Der Grund: China fühlte sich an den massenhaften Missbrauch chinesischer Frauen in Bordellen der japanischen Armee während des Zweiten Weltkriegs erinnert.

Als 2004 die Asienmeisterschaft im Fußball in China ausgetragen wurde, fanden die Gruppenspiele der japanischen Mannschaft in Chongqing statt, einer Stadt, die im Krieg unter japanischen Luftangriffen besonders gelitten hatte. Es kam zu gewalttätigen Krawallen, die ihren Höhepunkt im Endspiel fanden, in dem Japan gegen China spielte und klar gewann. Die japanische Mannschaft und die 2000 japanischen Fans mussten von 6000 Polizisten geschützt werden. Japanische Flaggen wurden verbrannt, der Mannschaftsbus der Japaner wurde gestürmt.

Gegenwärtig läuft eine von Chinas Regierung zumindest tolerierte Internetkampagne gegen Japans Bewerbung um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, bei der schon 22 Millionen Chinesen gegen Japans ständigen Sitz in dem Gremium votiert haben sollen. Diese Formen des Protests sind Ausdruck eines Nationalismus in der chinesischen Gesellschaft, der seinen Ursprung in der langjährigen Demütigung des Landes zuerst durch die westlichen und dann japanischen Kolonialisten hat. Für eine differenzierte Wahrnehmung des heutigen Japans ist da kein Platz. Dass Japans Armee zu gar keiner aggressiven Politik taugt, dass es sich infolge seiner wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeit von China - aber auch weltweit - gar keine imperialistische Politik leisten kann, geht in dieser nationalistischen Sichtweise unter.

Die chinesische Regierung hat diese Stimmung in der Vergangenheit immer wieder benutzt, um moralischen Druck auf Japan, etwa zur Erlangung billiger Kredite, auszuüben. Weiter geht es ihr darum, durch die Aufrechterhaltung des Feindbildes eines aggressiven Japans die eigene Bevölkerung hinter sich zu bringen und von innerchinesischen Problemen abzulenken. Außenpolitisch ist China daran gelegen, dass Japan nicht zu einer Gefahr für die chinesische Vormachtstellung werden kann. Indem es die Internetkampagne gegen Japan toleriert, sich aber in der Frage des Vetos bei Japans Bewerbung um den ständigen Sitz im Sicherheitsrat bedeckt hält, demonstriert es dessen Abhängigkeit von Chinas Wohlwollen.

Die Einstellung der japanischen Gesellschaft zu China ist ambivalent. Die Japaner wissen um die wirtschaftliche Abhängigkeit von dem Land, das 2004 zum wichtigsten Handelspartner geworden ist, und fürchten zugleich dessen Großmachtambitionen. Damit einher geht eine latent feindselige Stimmung gegen die im Lande lebenden Chinesen, die man gern für die steigende Kriminalitätsrate verantwortlich macht, wozu die aufgebauschte Berichterstattung über die chinesischen Banden und einige von Chinesen in Japan verübte grausame Morde beigetragen haben. Gleichzeitig benötigt man die chinesischen Billigarbeitskräfte.

Korea und Japan

Der Beschluss des Parlaments der japanischen Präfektur Shimane, den 22. Fe- bruar jeden Jahres zum Gedenktag der 1905 erfolgten Einnahme der zwischen Japan und Korea gelegenen Inselgruppe zu machen, die auf japanisch Takeshima und auf koreanisch Tokto heißt, hat das Misstrauen gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht in einen antijapanischen Nationalismus umschlagen lassen, den man nach der gemeinsam ausgerichteten Fußballweltmeisterschaft eigentlich nicht mehr erwartet hatte. Zur gleichen Zeit wurden Einzelheiten aus der zweiten Auflage eines umstrittenen Geschichtsbuchs bekannt, über dessen Zulassung zum Unterricht im April entschieden wird.

Daraufhin ging ein Aufschrei der Empörung durch die südkoreanische Öffentlichkeit, der noch immer nachklingt. Es gab gewaltsame Demonstrationen, bei denen sich zwei Koreaner aus Protest den kleinen Finger abschnitten und ein Mann sich zu verbrennen suchte. Als Folge der antijapanischen Stimmung erwartete Japans Autobauer Toyota im März in Korea einen Verkaufsrückgang von 90 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, japanische Golfspieler sind auf koreanischen Golfplätzen nicht mehr willkommen, und das japanische Außenministerium mahnt Touristen in Südkorea zur Vorsicht.

Diese antijapanische Stimmung steht in Kontrast zum Koreaboom in Japan. Die Ausstrahlung der koreanischen Fernsehserie "Winter Sonata" 2003 hat geradezu eine Koreaeuphorie ausgelöst. Die über 40jährigen Japanerinnen liegen Yon-sama, so der Vorname des Hauptdarstellers in einer besonderen Höflichkeitsform, zu Füßen. Er hat das Negativbild des formlosen und unbeherrschten Koreaners in Japan verblassen lassen. Koreanische Speisen, Sprache und Kultur sind "in", der "Yonsama- Tourismus" bescherte Südkorea 2004 2,3 Mrd. US-Dollar Einnahmen. Dagegen wissen die meisten Japaner gar nichts von den umstrittenen Inseln, sie interessieren sich auch nicht für solche Fragen angeblichen nationalen Prestiges. Der Beschluss des Parlaments von Shimane soll hingegen gerade dieses nicht vorhandene Interesse der Japanerinnen und Japaner für die Inseln wieder wecken.

Die japanische Regierung verhält sich in der Inselfrage, wie bei allen Problemen, bei denen die imperialistische Vergangenheit ins Spiel kommt, zweideutig. Premier- und Außenminister, die im Prinzip an dem Besitzanspruch festhalten, hätten das Thema am liebsten so lange unter den Tisch gekehrt, bis es irgendwann mit weniger Emotionen behaftet ist. Das mag illusorisch sein, aber auf diese Weise wird in Japan Politik betrieben: Statt zu agieren wartet man lieber solange ab, bis man tatsächlich reagieren muss.

Politik in Südkorea folgt ganz anderen Gesetzen. In Reaktion auf den Beschluss des Parlaments von Shimane und in Erwartung der neuen Ausgabe des umstrittenen Geschichtsbuches schrieb Südkoreas Präsident Roh Moohyun in einem offenen Brief an alle Koreaner: "Wir können nicht länger über [Japans] Versuche hinwegsehen, seine Geschichte der Aggression und Besatzung sowie seine Absicht, eine Vorherrschaft zu erzielen, zu rechtfertigen, weil dies eine Frage ist, die die Zukunft der koreanischen Halbinsel und Nordostasiens entscheiden würde".1 Es gelte, schreibt Roh, diese Frage in einem "Krieg der Diplomatie" zu klären, und er sei sicher, dass Korea diesen Krieg gewinnen werde. Politik in Südkorea heißt, sich als Macher zu zeigen. Dabei ist jede Indifferenz verpönt - Schwarz- Weiß-Denken und eine Politik des Alles-oder-Nichts treffen oft auf große Zustimmung.

Südkorea ist in seiner demokratischen Entwicklung allerdings ungleich weiter als China. Aber mehr noch als das riesige China, das sich, bei allen Unsicherheiten, aufgrund seiner Größe doch immer als Mittelpunkt der Welt wahrgenommen hat, war Korea jahrhunderte- lang den Begehrlichkeiten der umgebenden großen Mächte China, Russland und Japan ausgeliefert. Der heute in Südkorea herschende Zwang zu siegen, das beste und initiativste Land zu sein, ist eine Kompensation des tief verwurzelten Gefühls der Unterlegenheit.

Der Konflikt um die Inseln hat dieses Unterlegenheitsgefühl gegenüber Japan neu belebt - und damit den Wunsch nach Kompensation. So hat Präsident Roh nun verkündet, Südkorea solle sich nicht mehr als Teil der Allianz mit den USA und Japan begreifen. Er will das Land aus der Bindung an diese Mächte, denen er in ihrer Politik gegenüber China und Nordkorea nicht traut, lösen und träumt von einer Rolle Südkoreas als Mediator und Innovator Nordostasiens. Diese Vorstellung überschätzt allerdings die wirtschaftliche und politische Macht des Landes - und sie macht deutlich, wie wenig kon- sistent die südkoreanische Außenpolitik ist.

Zu befürchten ist, dass sich die angespannte Situation nicht so schnell beruhigen wird. Die absehbare Genehmigung des umstrittenen Geschichtsbuchs durch das japanischen Erziehungsministerium wird die antijapanische Stimmung in China und Südkorea weiter anheizen. Wenn, was ziemlich sicher ist, Südkorea in der UNO gegen einen ständigen Sitz Japans im Sicherheitsrat stimmt, wird dies die japanische Regierung nachhaltig verbittern. Wichtiger aber ist das Abstimmungsverhalten Chinas in dieser Frage. Ein Veto Chinas im Sicherheitsrat gegen Japan würde den politischen Graben noch weiter vertiefen und zugleich der Japanfeindlichkeit weiteren Auftrieb geben.

1 "Korea heute", 24.3.2005, www.koreaheute.de/ bbs/zboard.php?id=nachrichten&no=1084.

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