Niederlage, Befreiung oder Sieg

Der 8. Mai im Spiegel seiner Jubiläen

Der Umgang mit dem 8. Mai spiegelt die geistige Verfassung der Bundesrepublik wie ansonsten wohl nur jener mit dem 9. November. Bereits zum ersten, kleinen Jubiläum, nämlich 1950...

Der Umgang mit dem 8. Mai spiegelt die geistige Verfassung der Bundesrepublik wie ansonsten wohl nur jener mit dem 9. November. Bereits zum ersten, kleinen Jubiläum, nämlich 1950, wurde seitens der ersten Bundesregierung erwogen, den 8. Mai zu einem Gedenktag der Bundesrepublik zu machen. Unmittelbarer Anlass war damals jedoch nicht die Erinnerung an den Tag des Kriegsendes, die bedingungslose deutsche Kapitulation, sondern die abschließende Lesung des parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949, mit der das neue Grundgesetz gebilligt wurde.

Bundespräsident Theodor Heuß hätte diesem Datum als erstem "Nationalen Gedenktag" wohl einiges abgewinnen können, denn anlässlich seiner Rede zum 7. September 1950 - dieser Tag der Konstituierung von Bundestag und Bundesrat (1949) wurde schließlich zum Gedenktag erkoren - attestierte er, dass der 8. Mai "etwas mehr von Geschichtswucht in sich trage". Doch wahrscheinlich war es letztlich gerade diese "Wucht", die die politisch Verantwortlichen vor der Entscheidung für dieses Datum zurückschrecken ließ.1

Bis heute bietet der 8. Mai, vor allem bei seiner runden, zehnjährigen Wiederkehr, Anlass für geschichtspolitische Debatten, historische Bekenntnisse und symbolische Politikarrangements. Das staatsoffizielle Gedenken an Kriegsende und Befreiung von der Nazi-Diktatur geben der politischen Elite die Möglichkeit, den Stand der Vergangenheitsdebatte zu reflektieren und die Politik in dieser Debatte zu positionieren. Dabei unterliegt die Politik selbst dem Wettstreit konkurrierender Deutungseliten im geschichtspolitischen Feld. Anders als in nicht-demokratischen Gesellschaften kann sie keine Sichtweisen verbindlich vorgeben und mittels Sanktionen durchsetzen. Sie kann jedoch mit den Mitteln und der Macht staatlicher Symbolpolitik Bilder der Geschichte legitimieren oder diskreditieren. So ist es nicht verwunderlich, dass beim Blick auf den politischen Umgang mit dem Datum 8. Mai wenig zu verzeichnen ist, was von sich aus als neuer Akzent zu erkennen ist. Selbst die umgehend als historisch empfundene Rede von Richard von Weizsäcker aus dem Jahr 1985 "verhalf", wie Norbert Frei an dieser Stelle schrieb,2 einer Deutung der Kapitulation als Befreiung bloß zum Durchbruch, die längst Gegenstand öffentlicher Diskussion war. Und dennoch zeigt gerade dieses Beispiel die Bedeutung des politischen Umgangs mit konkurrierenden Deutungen der Vergangenheit: Geschichte und Erinnerung lebt auch von der politischen Symbolik, die in ihrem Namen betrieben wird. Willy Brandts Kniefall in Warschau und Helmut Kohls Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg brachten in symbolischer Form ganze Vergangenheitsdeutungen und Konsequenzen aus dem historischen Faschismus auf den Punkt. So bietet der 8. Mai bis heute die Gelegenheit der Positionierung und Akzentuierung im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die - von einigen bedauert, von anderen gefordert - eine Vergangenheit bleibt, die nicht vergeht.

Der 8. Mai als Niederlage

Der Mai 1955 bot vielfältige Gelegenheit für einhaltendes Gedenken der staatlichen Organe der jungen Bundesrepublik. Nicht jedoch das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Beseitigung des Faschismus in Europa standen im Mittelpunkt dieses Gedenkens, sondern die Wiedererlangung der vollen Souveränität der Bundesrepublik, die mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 besiegelt wurde. Am 9. Mai wurde der jetzt souveräne Staat in das westliche Militärbündnis NATO aufgenommen. Natürlich spielte in den Reden und Verlautbarungen die Erinnerung an das Kriegsende eine wichtige Rolle, und gerade aus der Zusammenschau beider Ereignisse zog die Regierung Adenauer beträchtliche politische Legitimation, hatte sie doch nach der schwersten Niederlage Deutschlands, so die unwidersprochene Auffassung, einen Neuanfang geschafft. "Wir stehen als Freie unter Freien!"3, lautete der Titel der Proklamation der Regierung zum 5. Mai 1955, deren Blick zurück vor allem Teilung und Kriegsgefangene hervorhob, ohne an dieser Stelle die Opfer des NS-Regimes zu erwähnen. Auch die Rundfunkansprache Konrad Adenauers stellte Niederlage und Teilung ins Zentrum: "Der Tag der Zurückgewinnung der Souveränität ist ein großer Tag in der deutschen Geschichte. Vor zehn Jahren zerbrach Deutschland und hörte auf, ein sich selbst regierender Staat zu sein. Es war die dunkelste Stunde unseres Vaterlandes."4

Mit der wiedererlangten Souveränität und dem Abstand von zehn Jahren konnte es so scheinen, als sei die Nachkriegszeit zumindest für den westlichen Teil des Landes zu einem glücklichen Abschluss gekommen. Diesen Schluss legt auch der redaktionelle Kommentar im Bulletin der Bundesregierung zur Erlangung der Souveränität nahe: "Blickt man auf das Jahr 1945 zurück und von 1955 hinaus in die Zukunft, dann erscheint der Tag der Wiederherstellung der deutschen Souveränität als ein gewichtiger End- und Ausgangspunkt, der das Prädikat eines geschichtlichen Zeitpunkts verdient."5

Erinnert und betrauert wurden im Rückblick insbesondere die deutschen Opfer von Krieg, Flucht, Vertreibung und Teilung; die Opfer der Deutschen fanden sich summarisch unter "den Opfern von Krieg und Gewalt".

Die Rückschau galt als zukünftige Aufgabe nur insoweit, als die Überwindung der Teilung zum vordringlichen Ziel bundesdeutscher Politik erklärt und deren Ausgangspunkt mit dem Datum des 8. Mai 1945 verbunden wurde. Allein die Ansprache des Bundespräsidenten Heuß anlässlich der neuen Souveränität lässt einen etwas anderen Ton erkennen, der Vergangenheit und Zukunft stärker miteinander zu verbinden schien und dem 8. Mai im deutschen Bewusstsein eine "seltsam erregende Zwielichtigkeit" unterstellte. Neben der "Vernichtung von jahrhundertealter deutscher Staats- und Volksgeschichte" verbinde sich auch "das Gefühl des Befreit-Seins" mit diesem Datum.6 Im Zusammenhang mit der Vergangenheitspolitik der Bundesregierungen unter Adenauer lag das Schwergewicht jedoch eindeutig auf dem Verständnis der Niederlage und der möglichst schnellen Überwindung der Erinnerung. Das von Hermann Lübbe als Voraussetzung des neuen Staates begrüßte "Beschweigen" der Vergangenheit wurde für den schmerzhaften Teil der deutschen Verbrechen weitgehend befolgt - für die Thematisierung eigenen Leids aus dieser Vergangenheit traf das sicher nicht zu.7

Zehn Jahre später, im Mai 1965 nahm die Bundesregierung das Datum des Kriegsendes selbst zum Anlass eines Rückblicks, der, anschließend an Heuß, die Zwiespältigkeit des Tages hervorhob. 20 Jahre nach dem Ende des Naziregimes war bereits deutlich geworden, dass die Erinnerung nicht so schnell verschwinden würde, wie man zuvor noch geglaubt hatte. Erst jetzt, in den 60er Jahren, drangen die ungeheuren Opfer deutscher Mord- und Vernichtungspolitik nach und nach ins öffentliche Bewusstsein. Der Ulmer-Einsatzgruppenprozess (1958), die Anklage gegen Eichmann in Jerusalem (1961) und vor allem der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963) rückten die Opfer der Deutschen gegenüber den deutschen Opfern stärker in den Mittelpunkt.

Der Bulletin-Artikel zum 8. Mai verharrt jedoch weitgehend in einer Sichtweise, die Niederlage und deutsche Opfer betonte und das Datum aus dem Blickwinkel der geschlagenen Nation betrachtete. Selbst die deutschen Opfer des NS-Regimes wurden in diese nationale Sichtweise gezwungen, denn das ihnen zugestandene Aufatmen sei nicht "das Aufatmen des wiedergewonnenen Lebens" gewesen, denn "dunkel stand die Frage nach der eigenen Zukunft und der des Vaterlandes vor uns. Ob Opfer, ob Nutznießer des Regimes, die Hinterlassenschaft Hitlers trugen alle."8 Diese Opfer-Täter-Nivellierung sollte die Interpretation als Niederlage festschreiben.

Immerhin wurde eingeräumt, dass diese Niederlage nicht 1945, sondern 1933 begonnen habe. Sich selbst attestierte man, entgegen der Wahrheit, einen vorbildlichen Umgang mit der Frage der Kriegsverbrecher, der die Entschlossenheit zur "Selbstreinigung" belege. Das Gedenken an die "Toten des Krieges" am Ende des Artikels schreibt diese Nivellierung fort. "Bombenhagel", Terror, Flucht und Vertreibung auf allen Seiten - Ursache und Wirkung blieben so ungeklärt. Die Juden als spezielle Opfergruppe fanden an keiner Stelle Erwähnung.

Ludwig Erhards Erklärung über Rundfunk und Fernsehen forderte implizit diese Negierung des Tages als "Befreiung" auch von den Verbündeten ein: "Jener unselige Krieg brachte der gequälten Menschheit nicht den Frieden, sondern an seinem Ende stand neues Unrecht und Gewalt, wurde die Freiheit von Menschen und Völkern wiederum mit Füßen getreten."9 Die Totalitarismusfolie und der Blick auf die deutsche Teilung sollte so zum bestimmenden Element der westlichen Erinnerung werden, womit die konservative Bundesregierung einer Sichtweise verhaftet blieb, die zunehmend hinterfragt und nur ein Jahr später, mit dem Wechsel zur großen Koalition und dann zur sozial-liberalen Regierungszeit, auch außenpolitisch überwunden wurde.

Der 8. Mai als Befreiung

Willy Brandts Kniefall in Warschau, die neue Ostpolitik der Regierung Brandt und die über das Faschismus-Thema politisierte Studentenbewegung hatten zu einem Klimawandel in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beigetragen. Entscheidend für eine stärkere Thematisierung deutscher Verantwortung und Schuld war aber auch der Umstand, dass eine jüngere und unbelastete Generation stärker ins Zentrum der Gesellschaft rückte, womit die vermeintliche Notwendigkeit eines "kollektiven Beschweigens" aufgehoben wurde.

Nach Feiern stand der politischen Klasse zwar noch immer nicht der Sinn, allerdings unterscheidet sich die Begründung dafür jetzt deutlich von früher. So benennt Walter Scheel in seiner Ansprache von 1975 die Befreiung von "Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei", schränkt jedoch ein, "dass diese Befreiung von außen kam, dass wir, die Deutschen, nicht fähig waren, selbst dieses Joch abzuschütteln".10 Widersprochen wird von Scheel auch der lieb gewonnenen Vorstellung des Faschismus als eines Schlages des bösen Schicksals: "Adolf Hitler war kein unentrinnbares Schicksal. Er wurde gewählt."11 Auch ist es Scheel, der zum ersten Mal in einer Präsidentenrede zum 8. Mai einige Opfergruppen deutscher Vernichtungspolitik benennt - Juden, Sowjetbürger und Polen. Der vorwärts weisende und neue Akzent der Rede lag auf der Erkenntnis, dass nur die Anerkennung und Erinnerung der eigenen negativen Vergangenheit zur angestrebten nationalen Selbstachtung führen könne, die schließlich, so die Erkenntnis aus der Gegenwart, zur Überwindung aller aus dieser Vergangenheit erwachsenen Beschränkungen - etwa militärischer Art - beitragen würde. Bei Scheel heißt es: "Alle Worte von nationaler Würde, von Selbstachtung bleiben hohl, wenn wir nicht das ganze, oft genug drückende Gewicht unserer Geschichte auf uns nehmen. Es geht um unser Verhältnis zu uns selbst. Nur wenn wir nicht vergessen, dürfen wir uns wieder mit Stolz Deutsche nennen."12 Erinnerung als Voraussetzung nationaler Selbstachtung, dieser Zusammenhang kehrt das von konservativer Seite vertretende Verständnis um, nachdem erst die Überwindung oder Relativierung der schmachvollen Erinnerung den Weg zu neuer nationaler Größe ebnen würde. Hier wie dort bleibt jedoch Geschichte auf ihre Funktion als nationale Legitimationsinstanz fixiert.

Mit der wohl berühmtesten Politikerrede zum 8. Mai verhalf Richard von Weizsäcker einer selbstkritischen und reflektierten Sicht auf die Bedeutung der NS-Erinnerung für die Bundesrepublik zu einem, mindestens zeitweiligen Durchbruch. Weizsäckers Rede fällt in eine Zeit, die von den bis dahin heftigsten öffentlichen Auseinandersetzungen über den richtigen Umgang mit der Vergangenheit gekennzeichnet ist. Die sich in den siebziger Jahren vollziehende Zurückweisung der Totalitarismustheorie als zentralem Deutungsrahmen blieb keineswegs unwidersprochen - genauso wenig wie die Auffassung, Anerkennung von deutscher Schuld und Verantwortung und deren offensive Thematisierung könnten bessere Garanten einer allseits gewünschten "Normalisierung" sein, als deren ständige Relativierung.

Der Rückruf der Geschichte wurde von der konservativ-liberalen Regierung unter Helmut Kohl ab 1982 systematisch betrieben, verbunden mit dem Zweck, nationale Geschichte zum bindenden Glied der Bevölkerung jenseits der problematischer werdenden materiellen Einbindung zu machen.13

Der von der Regierung Kohl eingefädelte Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg, unmittelbar vor dem 40. Jahrestags des 8. Mai 1945, war der symbolpolitische Versuch, einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen und Absolution von den Siegern zu erhalten - die viel diskutierten SS-Gräber in Bitburg hatten gerade die Funktion, diese Absolution ohne Einschränkungen zu erlangen. Die mediale Begleitmusik von konservativer Seite zeigte, dass man hier gewillt war, die eigene Sicht, der 8. Mai symbolisiere angesichts des noch gegenwärtigen totalitären Feindes eine Niederlage nicht nur Deutschlands, sondern des ganzen Westens, zur allgemein verbindlichen zu erklären.14 Der ein Jahr später einsetzende Historikerstreit sollte mit den Einlassungen von Ernst Nolte, Andreas Hillgruber, Joachim Fest und anderen diese Sicht untermauern.

Weizsäckers Rede im Bundestag war eine eindeutige Stellungnahme innerhalb der geschichtspolitischen Debatte. Der Hinweis, dass es "für uns Deutsche kein Tag zum Feiern" sei wahrte die heute scheinbar in Auflösung begriffene Differenz zwischen Deutschland und seinen Kriegsgegnern. Aber wie niemand an dieser Stelle zuvor beharrte Weizsäcker auf dem objektiven Charakter als eines Tages der Befreiung: "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."15 Weizsäcker benannte die Gruppen der Opfer deutscher Vernichtungspolitik bis hin zu den oft vergessenen Homosexuellen, beim Gedenken an die Opfer des deutschen Widerstands fehlten auch die Kommunisten nicht; zudem sprach Weizsäcker von den "Opfern des Widerstands in allen von uns besetzten Staaten", womit wenigstens einmal die Standardformulierung von den Taten "im deutschen Namen", ausgeübt von wem auch immer, überwunden wurde. Dass Aussöhnung und Überwindung von Feindschaft und Vorbehalten gegen Deutschland keineswegs selbstverständlich oder nur eine Frage der Zeit ist, sondern auf der Bereitschaft der Deutschen basiert, die Vergangenheit gerade nicht zu vergessen, war ebenfalls eine Einsicht, die in dieser Deutlichkeit erst hier formuliert wurde.

Der 8. Mai als Sieg

Die für alle überraschende deutsch-deutsche Vereinigung 1990 und das Ende der Blockkonfrontation brachte in Deutschland die Nation als ideologischen Bezugspunkt der Politik zurück auf die Tagesordnung. Der scheinbare Sieg der linksliberalen Kräfte im Historikerstreit relativierte sich in den 90er Jahren angesichts einer immer stärkeren Infragestellung der postnationalen Ausrichtung deutscher Politik. Die Erinnerung an die NS-Vergangenheit wurde von zahlreichen konservativen Intellektuellen als Hindernis auf dem Weg zu einer auch militärisch abgestützten Machtpolitik der neuen "Zentralmacht Europas"16 gesehen. Die Erinnerung an Faschismus und Vernichtungspolitik galt manchen hier als Waffe des Auslands. Die Frage "Wird der Hinweis auf Auschwitz uns auch künftig erpressbar machen?", gestellt den Diskutanten Wolf Jobst Siedler und Arnulf Baring in einem für Furore sorgenden Gesprächsband, brachte diese Sichtweise auf den Punkt.17 Artikuliert wurde sie von einer so genannten Neuen Rechten, die für eine "selbstbewusste Nation" jenseits der bedrückenden NS-Erinnerung stritt. Die 1995 erneut geführte Debatte, ob der 8. Mai nicht vor allem als Niederlage Deutschlands zu begreifen sei, war Ausdruck dieser Stimmung; und einige Abgeordnete der Union, darunter ihr Ehrenvorsitzender Alfred Dregger, unterschrieben denn auch jenen ominösen Aufruf "Gegen das Vergessen", womit die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen gemeint war.

Dass diese schon einmal gescheiterte Strategie wenig vorwärts weisend war, wurde spätestens mit den geschichtspolitischen Debatten in der zweiten Hälfte der 90er Jahre klar. Mit Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" und der Wehrmachtsausstellung rückten die deutschen Verbrechen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, denen die Relativierungsversuche von rechts immer gegolten hatten.

Die besondere Ironie der Geschichte: Nur über die offensive Anerkennung dieser Tatsachen ließ sich zu einem Verhältnis zur eigenen Vergangenheit kommen, mit dem man langfristig den Platz wechseln und sich auf die Seite der Sieger stellen konnte.

In diesem Sinne war es ein klares Signal, dass Bundespräsident Herzog in seiner Rede zum 8. Mai 1995 den Fokus auf die Zukunft und nicht auf die Vergangenheit richtete. Die Debatte um Befreiung oder Niederlage halte er für müßig, vielmehr begreife er den 8. Mai 1945 als Tag, "an dem ein Tor in die Zukunft aufgestoßen wurde. Nach ungeheuren Opfern und unter ungeheuren Opfern. Aber doch ein Tor in die Zukunft."18 Dieser Zukunft soll nicht länger die quälende Debatte um die NS-Vergangenheit im Weg stehen.

Der Weg durch das sechste Jahrzehnt der Nachkriegszeit verdeutlichte, dass mit der Anerkennung auch der schrecklichsten Seiten dieser Vergangenheit - der massenhaften Beteiligung "normaler" Deutscher an den Verbrechen des Regimes, wie sie von Goldhagen und der Wehrmachtsausstellung verdeutlicht wurden - ein Wechsel möglich wurde, den man so nicht für möglich gehalten hatte: Das vereinigte Deutschland steht heute auf der Seite der (moralischen) Sieger des Kampfes gegen den Faschismus. Ob bei der Holocaustkonferenz 2000 in Stockholm, den Siegesfeiern 2004 in der Normandie oder in Moskau im Mai 2005: Der deutsche Bundeskanzler ist wie selbstverständlich dabei. Gerhard Schröder stellte denn auch in einem Beitrag für die Bild-Zeitung zu den D-Day-Feiern im letzten Jahr unumwunden fest: "Der Sieg der Alliierten war kein Sieg über Deutschland, sondern ein Sieg für Deutschland." Diese Eingemeindung auf der Seite der Sieger ist für die Nation der Täter nur durch eine vorbehaltlose Anerkennung der eigenen Schuld und Verantwortung möglich geworden. Gleichzeitig ist sie die Voraussetzung dafür, die eigene Opfergeschichte stärker zu betonen, wie wir es gegenwärtig so penetrant erleben.

Deutschland ist heute Teil der universalisierten Erinnerungsgemeinschaft an den Holocaust, der zum Synonym des nationalsozialistischen Regimes geworden ist. Mit dieser Eingemeindung sind scheinbar auch die letzten Barrieren gefallen, die sich aus der Erinnerung an den Faschismus gehalten hatten. "Deutschland befreit Auschwitz im Kosovo"19, auf diese sarkastische Formulierung bringen Daniel Levy und Natan Sznaider die geschichtspolitische Legitimierung der deutschen Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien durch die rot-grüne Bundesregierung.20

Angesichts der gegenwärtigen Debatte um Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung droht die Bundesrepublik den Bogen jedoch zu überspannen, indem sie sich zunehmend in eine Opferkonkurrenz begibt, die für die internationale Stellung der deutschen Täternation eher schädlich sein dürfte. Für die Erinnerung in der Bundesrepublik an die Vergangenheit des mörderischsten Systems auf deutschem Boden ist diese Entwicklung jedenfalls keinesfalls erfreulich: Die Vermischung von Täter- und Opfererinnerung, der Verlust an Wissen um historische Kausalitäten und die zunehmende Entkonkretisierung von Erinnerung zu Gunsten einer moralisch einfachen wie folgenlosen Distanzierung sind der fatale Preis für diesen Wechsel auf die Seite der Sieger.

1 Vgl. hierzu Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München und Wien 1999, S. 49 ff.
2 Norbert Frei, 1945 und wir. Wie aus Tätern Opfer wurden, in: "Blätter", 3/2005, S. 356-364.
3 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 6.5.1955, Nr. 85, S. 701 (im Folgenden zitiert als Bulletin).
4 Ebd.
5 Bulletin vom 5.5.1955, Nr. 84, S. 696.
6 Bulletin vom 7.5.1955, Nr. 86, S. 709.
7 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 8 ff.
8 Bulletin vom 7.5.1965, Nr. 80, S. 633.
9 Bulletin vom 11.5.1965, Nr. 81, S. 641.
10 Bulletin vom 7.5.1975, Nr. 59, S. 549.
11 Ebd., S. 550.
12 Ebd., S. 551.
13 Vgl. Gerd Wiegel, Die Zukunft der Vergangenheit. Konservativer Geschichtsdiskurs und kulturelle Hegemonie, Köln 2001.
14 Vgl. ebd., S. 59 ff.
15 Bulletin vom 9.5.1985, Nr. 52, S. 441.
16 So der Titel eines Buches von Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994.
17 Arnulf Baring, Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf Jobst Siedler, Berlin 1991, S. 146.
18 Bulletin vom 12.5.1995, Nr. 38, S. 331.
19 Ebd., S. 198.
20 Daniel Levy und Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2001, S. 215.

Blätter für deutsche und internationale Politik © 2005
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