Armutszeugnis

"Kennen Sie einen Armen?" fragte der damalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel in einem Interview Ende 2000. "Gehen Sie doch mal durch die Straßen und suchen Sie die Armen. Ich finde sie nicht"...

"Kennen Sie einen Armen?" fragte der damalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel in einem Interview Ende 2000. "Gehen Sie doch mal durch die Straßen und suchen Sie die Armen. Ich finde sie nicht", so Henkel. 1

Spätestens seit den Weihnachtsfeiertagen wissen wir wieder, wo die Armen zu finden sind. Angesichts der Tsunami- Katastrophe mit ihren Hunderttausenden Toten und Millionen Betroffenen weisen die meinungsmachenden Finger auf die andere Seite des Globus. Dort, in Südostasien, sind Unzählige von einem Moment auf den nächsten verarmt, stehen vor dem Nichts - und das im Wesentlichen ohne menschliches Zutun.

Wo Opfer einer Naturkatastrophe zu beklagen sind, tritt die von Menschen gemachte Ungleichheit in den Hintergrund. Verblassen angesichts des Massenelends nicht die Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger in den entwickelten, reichen Ländern des Westens? Und wird hierzulande nicht zuviel gejammert? "Unsere Sorgen möchten wir haben, das war der gar nicht geheime Subtext über diesem Jahreswechsel." 2

Man könnte dies zynisch auch das Motto der politischen Krisengewinnler nennen. Gerade die SPD mit ihrem erprobten Manager für Flutkatastrophen erlebt einen Aufwind, der noch vor kurzem kaum denkbar schien. Wie die Bürgerinnen und Bürger hat auch die Bundesregierung die Spendierhosen angezogen - schon um davon abzulenken, dass von einer substanziellen "Entwicklungshilfe ohne Flut" nicht die Rede sein kann. Den "unschuldigen" Armen in anderen, entlegenen Ländern wird gegeben, was den angeblich selbst verschuldeten "Faulenzern" (Bundeskanzler Schröder) im eigenen Land verweigert wird: So kann die Katastrophenhilfe der Verschleierung von Armut hierzulande dienen.

Lebenslagen in Deutschland

Lassen wir den aktuellen Katastrophenpopulismus einmal beiseite und wenden uns dem offiziell noch unveröffentlichten, aber bereits öffentlich zugänglichen Entwurf des "2. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung" zu. 3 Was sind die wichtigsten Fakten über die Entwicklung von Arm und Reich - oder, weniger moralisierend: der sozialen Ungleichheit - in der Bundesrepublik?

Die kurze Antwort lautet: Die soziale Ungleichheit hat sich unter Rot-Grün wesentlich verstärkt; die Bundesrepublik sieht sich mit einer "Infantilisierung", "Feminisierung" und Vererbung von Armut konfrontiert.

Die lange Antwort kann diese Aussage mit dem Zahlenmaterial des Berichtes selbst belegen: Das Nettogesamtvermögen in der Bundesrepublik stieg zwischen 1998 und 2003 um 17 Prozent auf inzwischen fünf Billionen Euro; inklusive des im Bericht nicht berücksichtigten Betriebsvermögens beträgt es gar 7,8 Billionen Euro. Dieses Vermögen ist nicht nur höchst ungleich verteilt; die Ungleichheit hat in den vergangenen Jahren auch beträchtlich zugenommen. So gehören den reichsten zehn Prozent der Haushalte nunmehr 46,8 Prozent des Vermögens - 2,4 Prozentpunkte mehr als 1998. 4 Das ist der höchste Zuwachs seit Jahrzehnten. Die reichsten 20 Prozent der Haushalte besitzen jetzt sogar 67,5 Prozent (plus 1,4 Prozentpunkte). Demgegenüber hat sich der Anteil der unteren 50 Prozent aller Haushalte am Gesamtvermögen auf nun 3,8 Prozent weiter verringert; die unteren 30 Prozent der Haushalte haben - statistisch kumuliert gesehen - überhaupt keinen Anteil am Vermögen (0,0 Prozent). Diese Verschärfung der sozialen Ungleichheit wird auch durch die Einkommensverteilung bestätigt. Zu dem gleichen Ergebnis kommt eine Studie des DGB: "Stattgefunden hat eine Umverteilung zu Lasten der abhängig Beschäftigten." 5

Ähnlich gravierend gestaltet sich der Anstieg der Armut. So hat sich der Anteil derjenigen, die mit einem Einkommen unterhalb der von der EU definierten Armutsgrenze 6 auskommen müssen, seit 1998 von damals 12,1 auf nun 13,5 Prozent erhöht; das entspricht einer Zunahme von mehr als zehn Prozent. Von Armut besonders betroffen sind erstens die Arbeitslosen, die in wachsendem Maße unter die Armutsgrenze fallen (jetzt 56,3 nach 45,9 Prozent); zweitens Alleinerziehende, die zu über einem Drittel (35,4 Prozent) arm sind; drittens Migrantinnen und Migranten, von denen nunmehr nahezu jede vierte Person (24 Prozent) von Armut betroffen ist; und viertens Frauen - so fallen doppelt so viele Arbeitnehmerinnen wie Arbeitnehmer unter die Armutsgrenze.

Dementsprechend hat sich die Zahl der überschuldeten Haushalte erneut erhöht. Waren 1994 noch zwei Millionen und 1999 dann 2,77 Millionen Haushalte überschuldet, sind es nun 3,13 Millionen (2002) oder 8,1 Prozent aller Haushalte (West: 7,2, Ost: 11,3 Prozent).

Zwar hat sich der Anteil der Sozialhilfeempfänger seit 1998 kaum verändert: Er liegt derzeit bei 3,4 Prozent (2003). Eklatant bleibt jedoch die gruppenspezifische Häufung des Sozialhilfebezugs. Die mit Abstand größte Gruppe sind 1,1 Millionen Kinder, deren Anteil mit 7,2 Prozent mehr als doppelt so hoch liegt wie im gesellschaftlichen Durchschnitt. Neben der seit den 80er Jahren diskutierten "Infantilisierung der Armut" bestätigt sich auch deren "Feminisierung": 26,3 Prozent der allein erziehenden Frauen (aber nur 6,1 Prozent der allein erziehenden Männer) sind auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen. Allerdings hat sich der Anteil der von Sozialhilfe lebenden Rentner geringfügig und Ausländer merklich (von 9,1 auf 8,4 Prozent) verringert. Insgesamt muss man bei diesen Zahlen allerdings berücksichtigen, dass hier eine erhebliche Dunkelziffer derjenigen existiert, die zwar anspruchsberechtigt sind, ihre Ansprüche aber nicht geltend machen - der Bericht der Bundesregierung selbst veranschlagt diese Dunkelziffer mit mehr als der Hälfte der Sozialhilfe Beziehenden.

Ein zentrales Kennzeichen für die "Vererbung" des sozialen Status sind die Bildungschancen. Dem Bericht zufolge stehen die Chancen eines Kindes aus einem Elternhaus mit hohem sozialem Status, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, 2,7mal so hoch wie die eines Facharbeiterkindes. Die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie später ein Studium aufnehmen wird, ist sogar 7,4mal größer. Diese auch durch die PISA- Studie bestätigten, geradezu "ständischen" Strukturen zeigen anschaulich, wie gering die soziale Durchlässigkeit und wie stabil die Ungleichheitsrelationen der bundesrepublikanischen Gesellschaft sind.

Es gibt zahlreiche weitere Indikatoren sozialer Ungleichheit, zum Beispiel mit Blick auf das Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland, wo die Rede von einem "Aufholprozess in den neuen Ländern" angesichts der vorliegenden Daten als vorschnell erscheint, oder auch mit Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit oder die Situation von Migranten. Abgesehen von der - vermutlich durch die Einführung einer Grundrente - leicht verbesserten Einkommenssituation für gering verdienende Senioren weist der Trend indes unübersehbar in eine Richtung: Die soziale Ungleichheit steigt. Und während der Reichtum in der Bundesrepublik rasch weiter wächst, wächst auch die Armut.

Semantisches Glasperlenspiel

Die Erhebungsdaten sind so unerfreulich, dass die Bundesregierung zunächst verschiedene Wege eruierte, die Faktenlage zu manipulieren. So prüfte Sozialministerin Ulla Schmidt Möglichkeiten, die Bilanzregeln zu ändern und Konjunktureinflüsse stärker einzubeziehen, um so die schlechten Zahlen ein wenig "aufzuhübschen" 7. Weil sich dadurch jedoch nichts Grundlegendes geändert hätte, scheint man sich stattdessen dazu entschlossen zu haben, die Veröffentlichung des eigentlich fertigen Berichts bis auf weiteres zurückzustellen und peu à peu Details durchsickern zu lassen.

Wie aber erklärt eine sozialdemokratische Bundesregierung, dass sich die Verschärfung der sozialen Ungleichheit unter ihrer Regentschaft nicht nur fortgesetzt, sondern gar beschleunigt hat? Sie macht erstens die Weltkonjunktur verantwortlich: "Der Bericht verdeutlicht, dass das Armutsrisiko in erheblichem Umfang mit Arbeitslosigkeit korrespondiert. Wenn aber Arbeitslosigkeit die Hauptursache von Armut und sozialer Ausgrenzung ist, dann muss sich sozial gerechte Politik vorrangig an der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Integration Erwerbsloser in den Arbeitsmarkt orientieren. Sozial gerechte Politik lässt dabei andere Problemlagen und Betroffene nicht außer Acht. Aber im Mittelpunkt steht die Beschäftigungsfrage. Sie weist auf die zentrale Bedeutung von Wirtschaftswachstum hin. Die Wachstumsschwäche der vergangenen Jahre resultierte vor allem aus zahlreichen externen Schocks [...]" Nicht die sozial polarisierende Politik der Bundesregierung, die Arbeitslosigkeit (und auch gering qualifizierte Arbeit) zu einem Lebensstand in Armut verwandelt, sondern jenseits ihrer Macht liegende Faktoren seien also alleine verantwortlich.

Zweitens unterstellt die Bundesregierung daher, dass "alte" Umverteilungskonzepte nicht mehr zeitgemäß bzw. unwirksam seien. Politik der sozialen Gerechtigkeit sei heute nicht länger mit Umverteilung befasst, sondern mit der Verfügbarmachung von "Teilhabeund Verwirklichungschancen". Zwar ist zu begrüßen, dass die Frage von Zugang und Teilhabe jenseits rein materieller Zuwendungen nunmehr verstärkt Beachtung findet. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die "alte" soziale Frage der Einkommensarmut eine, wie der Bericht zeigt, wieder wachsende Bedeutung besitzt. Ohne eine Umkehr der aktuellen Politik der Umverteilung von unten nach oben wird soziale Gerechtigkeit daher nicht herzustellen sein.

Dieser Abschied von ihrem historischen Projekt der sozialen Umverteilung, von der Milderung der Härten des Kapitalismus im Interesse der abhängig Beschäftigten, hat von der Sozialdemokratie unter Schröder Besitz ergriffen. Damit ist die SPD nun beim Ansatz des Schröder-Blair-Papiers von 1999 angelangt. Dort heißt es: "Die Schwächen der Märkte wurden über-, ihre Stärken unterschätzt." In Politik übersetzt bedeutet dies, dass Marktsozialdemokraten "zuerst der Wirtschaft und damit zugleich allen Akteuren dienen" 8 wollen. Ihr eigener Armuts- und Reichtumsbericht widerlegt jetzt den zweiten Teil dieser Annahme - und belegt die fortschreitende "mentale Kolonialisierung der Sozialdemokratie durch den Neoliberalismus" 9.

Ein kapitalistisches Tandem

Offenbar besteht zwischen der Zunahme von Reichtum und Armut in der Bundesrepublik ein systematischer Zusammenhang, der allerdings jenseits bloß verteilungspolitischer Kausalisierungen anzusiedeln ist. Er liegt in der Struktur und Dynamik des neoliberal globalisierten Kapitalismus nach dem Fordismus.

Wie bereits der "1. Armuts- und Reichtumsbericht" von 2001 belegt, steigt die soziale Ungleichheit seit den späten 70er Jahren im Zuge der postfordistischen Restrukturierung kontinuierlich an - und dies nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen westlichen Industriestaaten, allen voran den USA. 10 Vor allem zwei Trends beschleunigen dabei die Verbreitung von Armut: Erstens produziert die andauernde Massenarbeitslosigkeit eine permanente industrielle Reservearmee und dauerhafte städtische "Unterklasse". Zweitens verstärkt sich der "Trend zu Prekarisierung und Niedriglohn", 11 und die Zahl der working poor - Beschäftigte, die von ihrem Lohn nicht leben können - nimmt beständig zu.

Je stärker sich die Politik den "Segnungen" des Marktes verschreibt, desto freier und ungehemmter kann sich die Dynamik der kapitalistischen Produktion von Ungleichheit und damit Armut entfalten. 12 Nicht zufällig wird bereits von einem sozialpolitischen "Rückfall ins 19. Jahrhundert" gesprochen. Der Wettlauf der nationalen Wettbewerbsstaaten um die besten Standortbedingungen führt so dazu, dass die Zunahme des Reichtums - die börsennotierten Unternehmen verzeichnen derzeit Rekordgewinne - auch ein Mehr an Armut produziert. Die Aneignung geht der Verteilung voraus: Insofern sind Reichtum und Armut ein kapitalistisches Tandem.

Die Politik der Bundesregierung scheint jedenfalls auch weiterhin alles dafür zu tun, kräftig in die Pedale dieses Tandems zu treten: Die Folgen der aktuellen Steuersenkungen und von Hartz IV sind in diese Zahlen aus den letzten Jahren noch nicht eingegangen. Die gegenwärtige Situation hat somit den im Bericht festgehaltenen Zustand schon wieder hinter sich gelassen. Es bedarf insofern keiner Prophetie, vorhersagen zu können, dass soziale Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung in absehbarer Zeit weiter zunehmen werden.

Was das bedeutet, wissen diejenigen, die versuchen müssen, von 345 bzw. 331 Euro im Monat zu leben. Diese Erfahrung würde man auch Hans-Olaf Henkel einmal wünschen.

1 Zit. n.: Rhein-Zeitung online, 25.4.2001.
2 Gustav Seibt, in: "Süddeutsche Zeitung", 4.1.2005.
3 Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung. (Entwurf; Stand: 14.12.2004), www.sozialpolitik- aktuell.de/berichte_einkommen.shtml. Die folgenden Zahlenangaben und Zitate ebd.
4 Da rund sechs Prozent aller Haushalte Betriebsvermögen von durchschnittlich 275 000 Euro (alte Bundesländer) bzw. 80 000 Euro (neue Länder) besitzen, das im Bericht nicht berücksichtigt wurde, ist der reale Vermögensanteil noch wesentlich höher anzusetzen.
5 DGB Bundesvorstand, Verteilungsbericht 2003 (28.11.2003).
6 Als arm gilt, wer über weniger als 60 Prozent des "Nettoäquivalenzeinkommens" - das nach Bedarfsgesichtspunkten ermittelte Pro-Kopf- Einkommen - einer Gesellschaft verfügt; es gilt für Einpersonenhaushalte bzw. für die erste Person eines Mehrpersonenhaushalts (weitere Personen in diesen werden niedriger gewichtet).
7 "Der Spiegel", 49/2004.
8 Stefan Grönebaum, Regulationsmodell für ‚flexiblen KapitalismusÂ’ gesucht, in: "Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte", 1-2/2002, S. 115-118, hier: S. 115.
9 Birgit Mahnkopf, Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit, in: "Prokla", 4/2000, S. 489-525, hier: S. 503.
10 Vgl. Albert Scharenberg, Globalisierung, Postfordismus und soziale Ungleichheit, in: ders. und Oliver Schmidtke (Hg.), Das Ende der Politik? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen, Münster 2003, S. 26-54.
11 Dirk Hauer, Normale Arbeit anno 2004. Der Trend zu Prekarisierung und Niedriglohn, in: "Blätter", 12/2004, S. 1475-1483.
12 Vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.), Jahrbuch 2003/2004: Armut, Kapitalismus und Menschenrechte, Köln 2004.

Blätter für deutsche und internationale Politik © 2005
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