Bolkesteins Hammer

Als "visionären" Vorschlag bezeichnet der just ins Amt eingeführte irische EU-Kommissar Charlie McCreevy ...

Als "visionären" Vorschlag bezeichnet der just ins Amt eingeführte irische EU-Kommissar Charlie McCreevy den im vergangenen Jahr von seinem Vorgänger Frits Bolkestein vorgelegten Entwurf einer neuen EU-Dienstleistungsrichtlinie. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement sieht gar eine "Kulturrevolution" im Anmarsch, den "größten Integrationsschub nach dem Binnenmarkt und der Währungsunion". Auch Gerhard Schröder ist höchst zufrieden: Allein in Deutschland würden "Millionen Unternehmen profitieren", so der Unternehmer-Kanzler. In den Chor der Liberalisierer mischen sich allerdings immer mehr kritische Stimmen, die auf die weitreichenden Konsequenzen des spröden Vertragswerkes hinweisen. Warum also handelt es sich bei der ominösen Richtlinie, die in globalisierungskritischen Kreisen nur unter dem Namen "Bolkestein-Hammer" firmiert?

Der Kommissionsvorschlag ist ein zentraler Baustein der im Jahr 2000 verabschiedeten "Lissabon-Strategie". Bis zum Jahr 2010 muss die Europäische Union "der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt" werden. So zumindest will es der Beschluss des Europäischen Rates. Da auf den Dienstleistungssektor 70 Prozent der Wirtschaftstätigkeit und der Beschäftigung in der EU entfallen, betrachtet die Kommission die Beseitigung "rechtlicher und bürokratischer Schranken" im tertiären Sektor als wesentliche Voraussetzung für die Vollendung des Binnenmarkts.

Was jedoch offizielle Stellen als Bürokratieabbau und Verwaltungsvereinfachung verkaufen, erweist sich bei näherer Betrachtung als radikalisierte Form kompetitiver Deregulierung, als Abwärtswettlauf bei Sozialstandards sowie als Bruch mit den bisherigen Verfahren der europäischen Integration.

Diesen Bruch illustriert bereits der horizontale Ansatz der Richtlinie, die - von wenigen Ausnahmen abgesehen - grundsätzlich für alle Dienstleistungstätigkeiten gilt. Derartige Rahmengesetze sieht der EG-Vertrag jedoch gar nicht vor. Bisher galt die Norm, den Spezifika einzelner Branchen durch eigene sektorielle Gesetze Rechnung zu tragen. Dagegen erstreckt sich der Anwendungsbereich des Kommissionsentwurfs auf sämtliche Dienstleistungen, die als "wirtschaftliche Tätigkeiten" betrachtet werden. Wesentliches Kriterium: Sie werden gegen Entgelt erbracht. Da mittlerweile für zahlreiche öffentliche Aufgaben Entgelte erhoben werden, betrifft der Gesetzentwurf folglich nicht nur alle kommerziellen Dienste, sondern auch weite Bereiche des öffentlichen und Non-Profit-Sektors: Rundfunkanstalten, Verkehrsunternehmen, Ver- und Entsorger, Kindergärten, Volkshochschulen, Universitäten, Pflegedienste, Krankenhäuser und Sozialkassen.

Zur Erleichterung der Niederlassungsfreiheit untersagt die Richtlinie eine Reihe staatlicher Auflagen, wie zum Beispiel Registrierungspflichten oder wirtschaftliche Bedarfsprüfungen. Andere Auflagen werden einem so genannten "Screening-Verfahren" unterworfen: Die Mitgliedstaaten müssen sie selbst auf Diskriminierungsfreiheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit überprüfen und gegenüber der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten im Zuge einer gegenseitigen Evaluierung rechtfertigen. Dieses Verfahren bricht mit dem bisherigen Prozedere bei Vertragsverletzungen, da die EUMitglieder ihre Vorschriften zu legitimieren haben, ohne dass die Kommission zuvor eine Zuwiderhandlung feststellen müsste.

Im Zuge des Screening-Verfahrens müssen die Mitgliedstaaten zahlreiche Vorschriften der gegenseitigen Überprüfung unterwerfen und gegebenenfalls beseitigen. Ins Visier geraten Anforderungen an die Rechtsform, die Kapitalausstattung, Qualifikationen, festgesetzte Mindestpreise oder Zulassungsgrenzen. Letztere verhindern durch gesteuerte Zulassung zahlreicher Gewerbe vom Taxiunternehmen bis zur Arztpraxis einen ruinösen Verdrängungswettbewerb. Im Gesundheitswesen sind solche Maßnahmen unverzichtbar, um die Kostenentwickung bei den Sozialversicherungen zu kontrollieren. Durch das Schleifen festgesetzter Mindestpreise geraten nicht nur Honorarordnungen für Freiberufler unter Druck, sondern auch kartellrechtliche Dumpingverbote. Nach dem Willen der Kommission dürfen transnationale Konzerne künftig mit aggressiven Dumpingangeboten neue Märkte erobern.

Auflagen, nach denen für bestimmte Tätigkeiten "juristische Personen", also Unternehmen, zu gründen sind, werden ebenfalls der gegenseitigen Evaluierung unterworfen. Damit forciert die Richtlinie den Trend, Beschäftigte und Erwerbslose in kaum überlebensfähige Mini-Selbständigkeiten zu drängen. Die mit den "Ich-AGs" der Hartz-Gesetze betriebene Legalisierung prekärer "Scheinselbständigkeiten" findet damit ihre Fortsetzung auf dem EUBinnenmarkt.

Vergünstigungen für Gesellschaften "ohne Erwerbszweck" kommen ebenfalls auf den Prüfstand. Diese Anforderung zielt einerseits auf jegliche Form öffentlicher Bereitstellung von Daseinsvorsorgeleistungen ab, andererseits auf den gesamten Non-Profit-Sektor. Das beträfe beispielsweise die Gemeinnützigkeitsprivilegien freier Träger sozialer Dienste. In der Bundesrepublik können Wohlfahrtseinrichtungen exklusiv Subventionen erhalten, sie sind von Ertragssteuern befreit und Spenden sind abzugsfähig. Diese Privilegien diskriminieren kommerzielle Anbieter, die Klagen auf Gleichbehandlung gegebenenfalls auf die Dienstleistungsrichtlinie stützen könnten.

Nicht zuletzt spricht die Kommission ein faktisches Regulierungsmoratorium aus: Neue Rechtsvorschriften dürfen nur dann eingeführt werden, wenn sie diskriminierungsfrei, erforderlich, verhältnismäßig und durch geänderte Umstände begründet sind. Sie sind der Kommission mitzuteilen, die sie auf Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht überprüft. Damit muss jede neue Rechtsvorschrift, egal auf welcher Verwaltungsebene sie entwickelt wurde, eine hohe Hürde nehmen, um den Segen der EU-Konformität zu erhalten.

Chaos der Rechtssysteme

Um den Dienstleistungsverkehr darüber hinaus zu erleichtern, sieht die Richtlinie den grundsätzlichen Übergang zum so genannten Herkunftslandprinzip vor. Damit kommt europaweit eine ganz neue Qualität der Deregulierung ins Spiel. Dienstleister, die vorübergehend grenzüberschreitend tätig werden, unterliegen danach nur noch den Anforderungen ihres Herkunftslands. Auflagen und Kontrollen des Tätigkeitslands wären gänzlich untersagt. Selbst die obligatorische Registrierung einer Geschäftsaufnahme will die Kommission verbieten. Faktisch setzt das Herkunftslandprinzip eine effektive Wirtschaftsaufsicht in der Europäischen Union völlig außer Kraft. Künftig könnten sich Unternehmen durch Sitzverlagerung oder die simple Gründung einer Briefkasten-Firma im EU-Ausland lästiger inländischer Auflagen entledigen. Örtliche Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen, Standards beim Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz würden auf einfache und billige Weise unterlaufen.

Eine Kontrolle durch Behörden des Tätigkeitslands soll in Zukunft gänzlich unterbleiben. Die EU-Staaten haben dafür Sorge zu tragen, "dass Dienstleistungserbringer lediglich den Bestimmungen ihres Herkunftsmitgliedstaates unterfallen". Nur, welches Interesse sollte ein Staat haben, die Auslandsgeschäfte der bei ihm beheimateten Unternehmen zu kontrollieren? Warum sollte er ihnen Geschäftsmöglichkeiten verbauen, die sich positiv in seiner Außenwirtschaftsbilanz niederschlagen? Auf die nahe liegenden Einwände liefert die Richtlinie keinerlei Antworten. Stattdessen begnügt sie sich mit blumigen Maßnahmen der Verwaltungszusammenarbeit.

Die Standards des Tätigkeitslands bestünden praktisch nur noch für inländische Unternehmen, nicht mehr für all jene, die ihren Sitz in anderen EU-Staaten haben oder dorthin verlagern, um strengere Auflagen zu umgehen. Im Effekt gäbe es im jeweiligen Mitgliedstaat kein einheitliches Recht mehr. Das Recht wäre von Betrieb zu Betrieb je nach Herkunft des Dienstleisters verschieden. Damit treten die nationalen Rechtssysteme innerhalb eines jeden Mitgliedstaats direkt miteinander in Konkurrenz. In der Konsequenz werden inländische Betriebe, die sich strengeren Auflagen ausgesetzt sehen, die rechtliche Gleichstellung mit der ausländischen Konkurrenz einklagen. So stimuliert das Herkunftslandprinzip einen unerbittlichen Abwärtswettlauf bei Standards und Normen.

Die weiteren Verbote nach dem Herkunftslandprinzip machen es praktisch unmöglich festzustellen, welche Dienstleister überhaupt in einem Land tätig sind. Untersagt werden diverse bisher gültige nationale Minimal- Anforderungen an ausländische Unternehmen: eine ausgewiesene Niederlassung zu betreiben, eine Genehmigung dafür zu beantragen, eine Registrierung vorzunehmen, eine Anschrift zu nennen oder eine vertretungsberechtigte Person zu stellen. Damit können Unternehmen, die ihren formalen Sitz außerhalb des Tätigkeitslands haben, zu weitgehend unkontrollierten Konditionen Dienstleistungen erbringen. Diese Freiheit gilt sowohl für die Beschäftigung inländischer Arbeitskräfte als auch für Entsendekräfte aus anderen EU-Ländern. Leiharbeitsfirmen, von denen viele ohnehin grenzüberschreitend tätig sind, dürften daher zu den besonderen Profiteuren der Herkunftslandregel zählen.

Arbeitgebern, die sich durch Sozialversicherungsbetrug bereichern, rollt die Kommission den roten Teppich aus. Die Richtlinie verbietet dem Tätigkeitsland, Dienstleistern aus dem EU-Ausland die Vorhaltung oder Aufbewahrung von Sozialversicherungsunterlagen vorzuschreiben. Sozialversicherungsträger fragen sich bereits, wie dann die Versicherungspflicht überhaupt festgestellt werden kann. Da im Tätigkeitsland niemand nach entsprechenden Dokumenten fragen darf und eine effektive Kontrolle durch das Herkunftsland unmöglich ist, könnten Unternehmen über längere Zeit sozialversicherungsfrei arbeiten. Das Herkunftslandprinzip stellt sich insofern als eine radikale Liberalisierungsmethode dar, die nicht nur die niedrigsten Lohnniveaus EU-weit verallgemeinert, sondern auch die niedrigsten Standards. Es bricht zudem mit dem bisherigen Modus binnenmarktlicher Integration, der mitnichten eine unkonditionierte Akzeptanz der Herkunftslandregeln vorschreibt, sondern die gegenseitige Anerkennung nationaler Vorschriften. Bei den bisherige EU-Richtlinien, die ein Herkunftslandprinzip beinhalten, kam es deshalb zur vorherigen Vereinbarung gemeinsamer Mindeststandards.

Zunehmende Widerstände

Letztlich setzt die Dienstleistungsrichtlinie eine unkontrollierbare Deregulierungslogik in Gang. Vorschriften, die sich nicht durch gegenseitige Evaluierung schleifen lassen, werden durch Briefkasten-Firmen unterlaufen werden. Die jeweils niedrigsten Standards werden zur EU-weiten Norm. Bisherige Sonderwirtschaftszonen, frei von gesetzlicher Regulierung, werden damit zum Maßstab für die gesamte Europäische Union. Sie werden zukünftig das Niveau vorgeben, auf das die Sozialsysteme zu trimmen sind. Aufgrund des weiten Geltungsbereichs bliebe kaum ein Sektor verschont, seien es die freien Berufe, öffentliche Dienste, Non-Profit- Organisationen oder kommerzielle Anbieter. Weitere Bereiche der Daseinsvorsorge würden dem Wettbewerb unterworfen. Mit den Sozialversicherungen gerieten zentrale gesellschaftliche Umverteilungsmechanismen unter Beschuss. Kurzum: Die ganze EU droht zu einer einzigen Sonderwirtschaftszone zu mutieren.

Noch ist die Richtlinie allerdings nicht durch. Sie bedarf nach dem Mitentscheidungsverfahren sowohl der Zustimmung des Europäischen Parlamentes als auch des Rates. Die Kommission hofft auf eine Einigung noch in diesem Jahr. Erste Erörterungen im Rat sowie Anhörungen des Europaparlaments förderten jedoch zahlreiche Vorbehalte zutage.

Neben den umfassenden kritischen Stellungnahmen von Gewerkschaften, Sozialverbänden, freien Berufen, Kommunen oder öffentlichen Unternehmen überraschten die vielen Einwände des Handwerks sowie anderer mittelständisch geprägter Branchen. Während manche Mitgliedstaaten daraufhin zumindest einzelne Sektoren ausklammern wollen, stellen andere das Herkunftslandprinzip mittlerweile grundsätzlich in Frage.

Die deutsche Regierung dagegen will auf diesen zentralen Deregulierungshebel keineswegs verzichten. Wolfgang Clement ließ unlängst wissen, dass eine Ablehnung des Herkunftslandprinzips praktisch einer Ablehnung der Richtlinie gleichkäme. Allerdings zeigen sich auch im Regierungslager erste Risse, nachdem die Ministerinnen für Verbraucherschutz, Gesundheit und Justiz Bedenken anmeldeten. An diesen zunehmenden Widersprüchen gilt es für soziale Gegenkräfte anzusetzen, um ein geräuschloses Durchwinken der verheerenden Richtlinie doch noch zu verhindern.

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