Wirtschaftspolitik gegen die Jugend

Wenn es um Familie, Kinder und Jugend geht, dann sind vor allem in Wahlkampfzeiten die etablierten Parteien und Politiker sogleich vollmundig dabei. Bundespräsident Horst Köhler schlug den Ton an, .

... als er in seinem Beschluß zur Auflösung des Bundestages sagte: "Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel." Und in keinem Wahlprogramm fehlte das Bekenntnis zur Förderung der Jugend. Wenn aber wirksame Taten gefragt sind, tritt Schweigen ein. Dann hat das Interesse der Wirtschaft absoluten Vorrang. Deren Forderung nach längerer Arbeitszeit (ohne Lohnausgleich) und nach "Arbeitsverdichtung" wird von allen Parteien der "Mitte" unterstützt.

Führende Wirtschaftswissenschaftler wie der Ifo-Chef Hans Werner Sinn behaupten, solche Mehrarbeit der noch Beschäftigten würde neue Stellen schaffen. Den Beweis dafür hat bisher niemand geliefert. Im Gegenteil: Seit Mitte der 1990er Jahre ist die vereinbarte Arbeitzeit in den deutschen Betrieben im Durchschnitt um eine halbe Stunde länger geworden - und die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Betroffen davon sind vor allem die Jugendlichen, sie werden so um ihre Zukunft gebracht. Professor Gerhard Bosch, Vizepräsident des Instituts für Arbeit und Technik in Wuppertal, bringt es auf den Punkt: "Jetzt die Arbeitszeit zu verlängern, ist eine Kriegserklärung an die nächste Generation." Und Ossietzky-Autor Otto Mayer weist in dem Buch "Es geht auch anders" (PapyRossa Verlag) auf besondere Gemeinheiten der von unseren Parteien verhätschelten Kapitalisten hin. Vor einem Jahr hat zum Beispiel Siemens mit Drohungen durchgesetzt, daß in seinen Zweigwerken Bocholt und Kamp-Lintfort die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich um fünfeinhalb Stunden verlängert wurde. Mayer konstatiert: "Die Arbeiter werden um 14 Prozent ihrer Einkommen gebracht und müssen durch ihre kostenlose Mehrarbeit dazu beitragen, daß ihre Kinder keine Anstellung mehr finden." Und ausgerechnet den dafür Verantwortlichen, den früheren Siemens-Chef Heinrich von Pierer, berief die so vehement für Familie und Jugend eintretende Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel zu ihrem Chefberater für die Wirtschaftspolitik. Der heutige Aufsichtsratsvorsitzende der Siemens AG ist übrigens auch für die Streichung von 30 000 Stellen in dem Konzern verantwortlich.

Unter den mehr als fünf Millionen amtlich registrierten Arbeitslosen sind fast eine MiIlion unter 25 Jahren, wenn man jene in Zweit- und Drittausbildung hinzuzählt, die keine Stelle bekommen haben. Dauert die Warteschleife aber zu lange, lehnt fast jedes Unternehmen diese Jugendlichen mit der Begründung ab, sie seien zu alt sind und ihnen fehle betriebliche Praxis. Am schwersten haben es, wie kaum anders zu erwarten, Kinder aus sozial benachteiligten Familien und mit mäßigen Zeugnissen. Und auch diese Zahl sollte zu denken geben: Jeder fünfte Arbeitnehmer unter 30 Jahren ist nur auf Zeit angestellt.

Lehrstellenmangel herrscht seit Jahren. Der nordrheinisch-westfälische Arbeitgeber-Präsident Meiner-Hunke sagt offen: Bei einer Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden "müßte ich Arbeitsplätze streichen", was sich nicht nur langfristig, sondern direkt auf die Jugend auswirken würde. Eine Ausbildungsabgabe wird von der Mehrheit aller Bundestagsparteien, den Unternehmern und den ihnen ergebenen Medien abgelehnt, unter anderem mit dem Argument, das sei ein bürokratisches Monstrum ohne Wirkung - wofür ebenfalls jeder Beweis fehlt. Aber nicht nur die "freie Wirtschaft", auch Bund und Länder beteiligen sich trotz aller vorgeblichen Sorgen um die Zukunft unserer Jugend munter am Stellenabbau und der Verlängerung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst. Die von der bisherigen Bundesregierung eingesetzte Rürup-Kommission verlangt eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre; die Jungen Liberalen der FDP wollen es gar auf 70 Jahre hochschrauben. Was kümmert es sie, daß im August dieses Jahres in Deutschland 169 000 Lehrstellen fehlten? An den Grundzügen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik wird sich nichts ändern, egal, wer die nächste Bundesregierung stellt. Denn darin sind sich die Parteien der "Mitte" mit Bundespräsident Köhler einig, der da fordert: "Die Deutschen müssen mehr arbeiten", das heißt länger und härter. Auch wenn als Folge noch mehr Jugendliche chancenlos auf der Straße stehen.

in Ossietzky 19/05