Revolution von oben

Die steuerliche Umverteilung des Paul Kirchhof

Als Zielperspektive eines radikalen Neoliberalismus dürfte das Steuerkonzept von Paul Kirchhof in der öffentlichen Debatte auch weiterhin präsent bleiben.

Auch wenn es zur Drucklegung dieser SoZ-Ausgabe so aussieht, dass das Steuerkonzept des von Angela Merkel in ihr CDU- Kompetenzteam berufenen ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof einer der Gründe für das schlechte Abschneiden der Union war und damit Geschichte ist, als Zielperspektive eines radikalen Neoliberalismus dürfte es in der öffentlichen Debatte auch weiterhin präsent bleiben. Die folgende Kritik der beiden Attac-Steuerspezialisten Sven Giegold und Malte Kreutzfeldt bleibt damit aktuell.

Paul Kirchhofs Steuerkonzept hat neuen Schwung in die Steuerreformdebatte gebracht. Kaum jemand polarisiert so wie er: Während die einen in ihm den Retter der deutschen Wirtschaft sehen, halten ihn die anderen für einen Vorreiter eines sozialstaatsfreien Kapitalismus. In der Tat stellte die Umsetzung des Vorschlags eine vollständige Abkehr von den bisherigen steuerlichen Grundprinzipien dar.

Abschied von der Steuergerechtigkeit

Kirchhofs Einheitssteuer ("Flat tax") senkt den Spitzensteuersatz auf 25%. Dieser soll schon bei Einkommen ab 20.000 Euro greifen. Für niedrigere Einkommen gilt ein enger Stufentarif. Dadurch ergibt sich bei den niedrigen Einkommen eine Steuerprogression, während sie bei den hohen Einkommen radikal aufgegeben wird. Die Abschaffung der Progression und die Einführung eines allgemeinen Steuersatzes von 25%, unabhängig von der Höhe des Einkommens, verstoßen jedoch gegen das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip. Die minimalen Zugeständnisse, die Kirchhof bei den unteren Einkommen macht, sind nicht mehr als ein Feigenblatt.

Das Prinzip der Steuergerechtigkeit ist ein Ausfluss des Gerechtigkeitsprinzips. Der moderne Rechtsstaat rechtfertigt sich durch die grundgesetzlich verankerte Wahrung der Gerechtigkeit. Der für das Steuerrecht maßgebliche Gerechtigkeitsgrundsatz ist der Gleichheitssatz (Art.3 GG), ergänzt durch das Sozialstaatsprinzip (Art.20GG). Die Grenzen der Besteuerung liegen im Freiheitsgrundrecht, dem ebenfalls Verfassungsrang zukommt (Art.2 Abs. 1, 12 und 14 GG).

Gleichheit bedeutet im Steuerrecht nicht nur die Einheit der Rechtsordnung, Gleichheit heißt auch, dass hohe Einkommen stärker belastet werden als niedrige. Dabei genügt es nicht, dass die absolute Steuersumme mit dem Einkommen steigt, sondern auch der Steuersatz muss deutlich ansteigen. Denn Beziehern mittleren Einkommens fallen 25% Steuersatz ungleich schwerer zu tragen als Bürgern mit Spitzenverdienst.

Das Bundesverfassungsgericht und eine Reihe namhafter Steuertheoretiker sehen Gleichheit nicht nur als ein formales, sondern auch als soziales Prinzip und leiten die Steuerprogression unmittelbar aus dem Gleichheitsprinzip ab. Andere wiederum verstehen den progressiven Tarif als unmittelbaren Ausfluss des Sozialstaatsprinzips, dessen konkrete Aufgabe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes der Schutz des menschenwürdigen Existenzminimums sowie der Ausgleich großer sozialer Differenzen und Gegensätze im Interesse des sozialen Friedens ist.

In jedem Falle steht fest, dass der Steuerprogression Verfassungsrang zukommt. Zwar steht das Sozialstaatsprinzip nicht nur von konservativer und liberaler Seite wegen seiner vermeintlichen Leistungsfeindlichkeit unter heftigem Beschuss, doch nicht einmal die FDP hat es in ihrem Steuerentwurf gewagt, die Tarifprogression abzuschaffen. Selbst in den angelsächsischen Ländern ist der progressive Einkommensteuertarif gängige Praxis. Bislang haben lediglich die Ukraine, Russland, Serbien, Georgien, die Slowakei, Estland, Litauen, Lettland und Hongkong eine Einheitssteuer eingeführt.

Auch im Menschenrechtsdiskurs spielt die Idee der Steuerprogression eine wichtige Rolle. Ungerechtigkeit in den Steuerpflichten war ein wichtiger Auslöser der Französischen Revolution. In der Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 heißt es:

"(Art.1.) Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet seinÂ… (Art.13.) Für den Unterhalt der öffentlichen Gewalt und für die Kosten der Verwaltung ist eine allgemeine Abgabe unumgänglich. Sie muss gleichmäßig auf alle Bürger unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeiten und ihrer Vermögen (faculté) verteilt werden." Die Zahlungsfähigkeit nimmt aber im Gegensatz zu Kirchhofs Einheitssteuer mit steigendem Vermögen und Einkommen überproportional zu.

Mit Umsetzung der Einheitssteuer wäre die Bundesrepublik das erste westliche Land, das die Abkehr vom Sozialstaatsprinzip im Steuerrecht eindeutig manifestiert. Das ist nicht nur ein weiterer Schritt zur Zerschlagung des deutschen Sozialstaates; die materielle Abkehr vom Sozialstaat im Steuerrecht kommt einer Revolution gleich. Es ist vorauszusehen, dass hier eine neue Ära des internationalen Steuerwettbewerbs anbricht, deren Leitbild die umfassende Einführung einer Einheitssteuer in allen Industrienationen ist.

Damit wird das Steuersystem auf seine Finanzierungsfunktion zusammengestutzt. Der Anspruch auf Umverteilung wird praktisch vollständig aufgegeben. In Zeiten der wirtschaftlichen Globalisierung ist dies jedoch grundfalsch. Durch die zunehmende Konkurrenz im Bereich niedriger Einkommen und die sinkende Verhandlungsmacht der Gewerkschaft geht die Einkommensschere immer weiter auf, die Unsicherheit im Arbeitsleben wird größer und die Anforderungen an den Staat etwa im Bereich der Bildung und sozialen Sicherung steigen. Globalisierung erhöht die Notwendigkeit umverteilender Steuerpolitik. Die Einheitssteuer bedeutet das Gegenteil.

Steuerausfälle zu Ungunsten der Armen

Durch Grundfreibetrag und Stufentarif bei niedrigen Einkommen wird im unteren Bereich der Einkommensleiter das Prinzip der steuerlichen Progression nicht aufgehoben. Bei der konsequenten Umsetzung der Einheitssteuer wird auch ein Teil der Bezieher kleinerer Einkommen entlastet. Das gilt allerdings nicht für diejenigen, die etwa durch große Entfernungen zur Arbeit, Behinderungen, Nacht- und Schichtarbeit besondere Lasten zu tragen haben und daher bis heute einen steuerlichen Ausgleich erhalten.

Zudem werden gerade die Bezieher niedriger Einkommen unter den leeren staatlichen Kassen leiden, die sich durch das Kirchhof-Modell einstellen werden. Leistungen, die bislang öffentlich finanziert werden, wird es als Folge nur noch privat gegen Entgelt geben.

Die geschätzten Mindereinnahmen liegen nach Berechnungen der Finanzbehörden im ersten Jahr der Umsetzung bei 43 Milliarden Euro und im zweiten Jahr bei rund 20 Milliarden Euro. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel kommt zwar mit Steuerausfällen von 18 Milliarden Euro im ersten Jahr zu geringeren Mindereinnahmen als Bund und Länder, im zweiten Jahr geht jedoch auch das Institut von Ausfällen von 20 Milliarden Euro aus. Es scheint daher plausibel, im längerfristigen Durchschnitt von Steuerausfällen von rund 20 Milliarden Euro auszugehen.

Zum Vergleich: Nach Berechnungen des DIW beträgt der Finanzbedarf zur Aufrechterhaltung des Status quo bei der Kinderbetreuung 2006 rund 15 Milliarden Euro. Der aus öffentlichen Mitteln finanzierte Teil des Sachmittelhaushalts der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität 2004 macht nur ein Hundertstel dieses Betrags aus, und ungefähr ebensoviel gibt die Stadt Frankfurt, die sich rühmt, im Vergleich der deutschen Städte den größten Kulturanteil am Haushalt zu haben, für Kultur aus.

20 Milliarden weniger pro Jahr bedeuten also etwa die komplette Streichung der öffentlichen Kinderbetreuung, die Schließung von 15 Universitäten und die komplette Streichung öffentlich geförderter Kultur in allen deutschen Großstädten. Wie die ohnehin nahezu bankrotte öffentliche Hand so Kultur, Bildung und Frauenerwerbstätigkeit fördern will, bleibt ein gut gehütetes Geheimnis.

Wenn Universitäten nur noch gegen Studiengebühren besucht werden können und Volkshochschulen teurer werden, wenn die Zuschüsse für den öffentlichen Nahverkehr sinken und die Preise für Theater und Schwimmbad steigen, dann summieren sich die privaten Kosten des staatlichen Rückzugs schnell auf mehrere tausend Euro und verkehren somit einen möglichen Steuervorteil für Niedrigverdiener ins Gegenteil.

Mit Kirchhof kommt es zu einem Tausch: Weniger Lehrer, stattdessen mehr Kindermädchen und Hausangestellte, weniger Sozial- und Jugendarbeiter und stattdessen mehr private Sicherheitsdienstleister usw. Dieser Tausch ist weder ökonomisch effizient noch sozial gerecht. Die Senkung der Steuerquote ist schlicht die Entscheidung, weniger in Gemeinschaftsgüter zu investieren. Weiterhin gilt: Es gibt keinen Beweis, dass Länder mit niedrigeren öffentlichen Ausgaben wirtschaftlich leistungsfähiger sind oder eine höhere Beschäftigungsquote aufweisen als solche mit einem entwickelten Sozialstaat.

Steuerentlastungen zugunsten der Reichen

Ganz anders sieht es im Bereich der hohen Einkommen aus. Ohne Berücksichtigung der möglichen Auswirkungen einer verbreiterten Bemessungsgrundlage beträgt die Entlastungswirkung im Vergleich zum bisherigen System für das in 2004 durchschnittliche Einkommen (West) von 29428 Euro rund 1250 Euro, das sind 22%. Bei einem Einkommen von 60.000 Euro im Jahr sind es schon 33% Entlastung, bei 100.000 Euro 39%. Ein Spitzenverdiener mit einem Jahreseinkommen von 500.000 Euro wird durch Kirchhof um fast 100.000 Euro entlastet, das macht eine Steuerentlastung von 42%.

Kirchhof hält dem entgegen, dass gerade die Bezieher hoher Einkommen überproportional von den derzeit gültigen Ausnahmetatbeständen profitieren, und die höhere prozentuale Tarifentlastung bei Spitzenverdienern durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage gerechtfertigt wäre. Doch diese Rechnung geht nicht auf: Nach Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) macht nur die Hälfte der 1% Spitzeneinkommensteuerzahler von Verlusten aus Vermietung/Verpachtung und/oder Beteiligungen Gebrauch. Selbst bei dieser Hälfte machen die Steuerabzüge nur durchschnittlich 10% des zu versteuernden Einkommens aus. Kurz: nicht annähernd würde Kirchhofs Verbreiterung der Bemessungsgrundlage die Senkung des Spitzensteuersatzes ausgleichen. Kirchhof setzt also nicht nur die Politik der Steuergeschenke für Reiche fort, seine Entlastungen setzen vielmehr neue Maßstäbe für Umverteilung von unten nach oben.

Selbstverständlich könnte man mit einem höheren Steuersatz - etwa 28% oder 30% - auch höhere öffentliche Einnahmen erzielen und damit die Kürzungen vermeiden. Das widerspricht jedoch fundamental dem kirchhofschen Gedanken, Kapital- und Arbeitseinkünfte mit dem gleichen Steuersatz zu belegen, ohne konsequent gegen Steuerflucht und internationalen Steuerwettbewerb vorzugehen. Nach der Wettbewerbslogik wären 25 - 30% schon bald nicht mehr konkurrenzfähig. Der Druck, den dann flachen Einkommenssteuertarif weiter abzusenken, würde bestehen bleiben. Der Druck wäre umso größer, je höher der Satz ist.

In einem hat Kirchhof Recht: Eine Abkehr von der bisherigen Steuerpolitik ist nötig. Allerdings in die andere Richtung. Statt Steuerwettbewerb, Steuersenkung und Vereinfachungen auf Kosten der Gerechtigkeit brauchen wir eine Steuerreform, die folgende Kriterien erfüllt: Sie muss ausreichend ergiebig sein, um eine umfassende Versorgung mit öffentlichen Gütern in allen Bereichen sicher zu stellen; Unternehmen müssen stärker als bisher zur Finanzierung öffentlicher Leistungen herangezogen werden; Steuerschlupflöcher für Private und Unternehmen müssen gestopft werden; Steuerflucht und internationale Steuervermeidung muss durch entschiedenes Vorgehen gemeinsam mit anderen Ländern bekämpft werden; Steuerbetrug muss weitgehend verhindert werden; Der Sozialstaatsgedanke muss über einen progressiven Tarif stärker in den Vordergrund treten.

Vorgelegt haben ein solches konkretes Konzept der "Solidarischen Einfachsteuer" (http://www.attac.de/aktuell/steuer.pdf) Attac, Ver.di und IG Metall: Hieran ließe sich weiter diskutieren.