Die Zeit der Volkspartei

Mehrere linke Parteien können eine Chance bieten

Die große Zeit dieser Volksparteien, das waren die 1960er und 1970er Jahre, ist wahrscheinlich endgültig vorbei. Ohnehin waren sie eine Ausnahmeerscheinung, vor allem im internationalen Vergleich.

Spw: Bei der Bundestagswahl haben es weder CDU/CSU noch SPD geschafft, an die 40 % Marke zu kommen. Den großen Volksparteien gelingt es nicht mehr, so viele WählerInnen an sich zu binden, dass sie alleine oder mit einem kleineren Partner eine Regierungskoalition bilden können. Hat sich damit das Konzept der Volkspartei erledigt?
Prof. Franz Walter: Zunächst ist es so, dass es einen derart scharfen Begriff von Volkspartei in der Politikwissenschaft gar nicht gibt. Viele Politologen vermeiden diesen Begriff. Wenn er allerdings in der öffentlichen Debatte benutzt wird, dann bezeichnet er - sehr unscharf - Parteien, die in der Lage sind, hohe Zustimmung bei verschiedenen, heterogenen Bevölkerungsgruppen zu erreichen.
Die große Zeit dieser Volksparteien, das waren die 1960er und 1970er Jahre, ist wahrscheinlich endgültig vorbei. Ohnehin waren sie eine Ausnahmeerscheinung, vor allem auch im internationalen Vergleich. Die 1970er Jahre waren aber insofern günstige Jahre, als dass eine Partei, die unterschiedlichste Gruppen einbinden will, dies mit dem "Schmiermittel der Patronage" tun muss. Es muss also eine wirtschaftliche Situation bestehen, in der viel verteilt werden kann. Seit Ende der 1970er Jahre haben sich die Bedingungen hierfür verändert, ohne dass die Volksparteien damit gleich zu Honoratioren- oder Splitterparteien geworden sind. Sie entwickeln sich aber zunehmend zu spezifischeren Parteien.
spw: Lediglich die CSU konnte in Bayern fast 50 % der Stimmen erreichen.
Walter: Die CSU ist ohne Zweifel die erfolgreichste Volkspartei in Europa. In Teilen von Baden-Württemberg gilt das für die CDU sicher auch, selbst wenn sie jetzt bei der Bundestagswahl Mobilisierungsprobleme hatte, weil es wohl Identifikationsdefizite mit der Spitzenkandidatin gab. Für Rheinland-Pfalz kann in einigen Regionen auch noch davon gesprochen werden, dass die CDU volksparteiliche Züge trägt. Für die Sozialdemokratie gilt das in weiten Teilen Norddeutschlands. In manchen Regionen sind sie also immer noch Volksparteien, weil sie weiterhin über eine große und gewachsene gesellschaftliche Verbindung verfügen und damit sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen integrieren.
Übrigens gelingt es der SPD besser als der CDU, eine innerparteiliche Harmonie der unterschiedlichen Milieus herzustellen. Das Gefälle zwischen den einzelnen Gruppen ist bei der SPD nicht so groß wie in der CDU. Sie wird etwa gleich viel von Jungen wie von Alten gewählt. Das Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland ist deutlich geringer als bei der CDU. Die Disparitäten sind hier bei der CDU deutlich größer und das sollte bei Volksparteien eigentlich nicht so sein. Gleichzeitig muss man sagen, dass die Sozialdemokratie eine Volkspartei auf einem sehr stark abgesunkenem Niveau ist. Aber man kann natürlich auch Volkspartei mit 35 % WählerInnenzustimmung sein.
spw: In manchen Regionen liegt die SPD ja sogar - über die letzten Jahre betrachtet -bei gerade mal 20 % oder, wie in Sachsen bei der Landtagswahl 2003, sogar knapp unter 10 %.
Walter: Zunächst kann man feststellen, dass die aktuellen Wahlergebnisse auf frappierende Weise - was die unterschiedlichen regionalen Ausschläge angeht - an die der Zeit nach 1949 erinnern, gerade auch bezogen auf die FDP mit ihren guten Ergebnissen in Baden-Württemberg oder Hessen. Der entscheidende säkulare Wandel, auch im europäischen Vergleich, ist in Sachsen abgelaufen: Sachsen war früher eine der roten Hochburgen, ist jetzt aber für die SPD tiefste Diaspora. Ein solcher Mentalitätswechsel ist europaweit einmalig.
spw: Warum gelingt es nicht, dort oder auch in anderen Regionen Süddeutschlands unterschiedliche Milieus einzubinden?
Walter: Die Verhaltensweisen in Parteien, die eher randständig und nicht Volkspartei sind, sind ähnlich, unabhängig davon, ob es sich um Bayern, Sachsen oder Thüringen handelt. Oft finden wir hier den politischen Typus des Außenseiters, gerade in den kleinen Gemeinden. Bei der bayerischen SPD ist es zum Beispiel oft so, dass der Zugezogene, etwa der linksliberale Lehrer, dort gelandet und dann manchmal auch besonders links und kritisch ist. Oft finden wir bei den Akteuren Eigenschaften, die man nicht gebrauchen kann, wenn man mehrheitsfähig werden will. Im Ruhrgebiet oder in Hamburg bei der SPD oder eben in der CSU in Bayern ist das anders. Da treten die Menschen ein, die etwas bewegen und dabei sein wollen - und das nicht immer nur aus Opportunismus. Die gehen aber genau in die Partei, die gesellschaftlich verankert ist und nicht in die randständige Partei, die außerhalb steht. Insofern verstärken sich Randständigkeit der Partei und ihre mangelnde Anziehungskraft auf Interessierte, die politisch Einfluss nehmen wollen.
spw: Gibt es dennoch Unterschiede zwischen z.B. der SPD in Bayern auf der einen und der in Sachsen oder Thüringen auf der anderen Seite?
Walter: Natürlich gibt es zwischen z.B. der SPD in Bayern und in Ostdeutschland einen erheblichen Unterschied auch jenseits der Tatsache, dass die SPD dort erst seit 1990 besteht: Die SPD ist in Ostdeutschland seit ihrer Wiedergründung eigentlich eine Partei der Mitte. Und für Parteien, die in der Mitte stehen, kommt es gar nicht darauf an, ob man 20, 30 oder 40 % erzielt. Es kommt viel mehr auf die komfortable Lage zur Mehrheitsbildung an. Die "FDP-isierung der Sozialdemokratie" erleben wir z.T. ja auch im Westen mit Wahlergebnissen wie in den 1950er Jahren. Damals war sie jedoch in der Gesellschaft isoliert, heute akzeptiert und für die Mehrheitsbildung unentbehrlich. In Ostdeutschland ist das besonders gut zu sehen, z.B. bei der sächsischen SPD, die trotz 9,8 % in einer Regierung ist, die als "Große Koalition" bezeichnet wird. Sie ist zwar randständig in Sachsen, aber anders als in Bayern. Es ist gesellschaftlich für eine Partei schon wichtig, ob sie einen Wirtschafts- oder Wissenschaftsminister stellt, oder wie in Bayern immer nur Opposition ist. Dann ist sie wichtiger für verschiedene Milieus, natürlich vor allem für die gesellschaftlichen Eliten. Insofern ist die politische Struktur und die Mentalität, die sich daraus entwickelt, in Sachsen eine andere als in Bayern, wo ich den Eindruck habe, dass man sich sehr in der bestehenden, subalternen Situation eingerichtet hat. In Thüringen ist die Situation für die SPD deutlich besser als in Sachsen, sie ist dort viel stärker verankert. Der gouvermentale Charakter ist bei der SPD in Thüringen viel stärker ausgeprägt als in Bayern. Und wenn die SPD ihr Verhältnis zur PDS überdenkt, kann es in absehbarer Zeit durchaus eine Mehrheit jenseits der CDU in Thüringen geben.
spw: Die PDS gilt vielen als die Volkspartei in Ostdeutschland, gleichzeitig wird ihr weiterhin vorgeworfen, sie sei die Partei der alten Kader, die Partei derer, die nur alte Zeiten wiederaufleben lassen wolle. Passt das zusammen - einerseits als Volkspartei verschiedene Gruppen einzubinden, andererseits aber nur eine "Ein-Milieu-Partei" zu sein?
Walter: Das kann schon möglich sein. Die CDU wurde in den 1950er Jahren Volkspartei, indem sie unterschiedliche, jeweils für sich intakte Milieus - zum Beispiel das evangelische, das katholische Milieu - unter dem Dach der CDU nicht "vereinte", sondern nebeneinander ko-exisitieren ließ. Man war also im Grunde genommen keine Partei, sondern tatsächlich eine "Union". Das hat der CDU auch die Stabilität als Volkspartei gegeben, dass sie die unterschiedlichen Milieus nicht integrierte, sondern sie hat ko-existieren lassen. In dem Moment, wo die Milieus erodieren, wird es für die Volksparteien schwierig. Die Volkspartei an sich war nicht stabil, weil sie Volkspartei war, sondern sie verfügte über die Kohäsion und Mobilisierungsfähigkeit, so lange es die sie tragenden Milieus gab - und natürlich solange, wie die Volksparteien über die Integrationsmöglichkeiten durch staatliche Umverteilung verfügten, so lange es die traditionellen Loyalitäten und programmatischen Anknüpfungsmöglichkeiten gab. Dies gehört eng zusammen.
Für die PDS heute ist es ganz ähnlich wie bei der CDU früher. Sie muss sehr unterschiedliche Gruppen zusammen halten. Die PDS ist beispielsweise mittlerweile auch eine Partei der Selbständigen, das hat natürlich bestimmte historische Gründe. Der Selbständigenanteil ist etwas genau so hoch wie bei der FDP oder auch bei den Grünen. Das muss man ja als Partei auch aushalten. Dann muss man junge, bewegliche Parlamentarier aushalten und eine alteingesessene Basis - der über 65jährigen Rentner. Die Geschichte mit den alten Kadern finde ich eigentlich ziemlich banal, das interessiert in der Politik eigentlich niemanden mehr, es sei denn, man hat einfach etwas gegen die PDS.
spw: In wie weit konkurrieren SPD und PDS um das gleiche Wählerpotenzial?
Walter: Das Interessante ist tatsächlich, dass die entscheidende Alterskohorte für die PDS mit der der SPD identisch ist. Beide Parteien sind am stärksten bei den 45-59jährigen, auch im Westen. Im Westen kommen sie auch aus ähnlichen Milieus. Das sind also WählerInnen, die sehr stark geprägt sind durch die Sozialstaatlichkeit der 1970er Jahre, durch die gesellschaftlichen Konflikte dieser Zeit. Und da spürt man natürlich etwas von dieser "Familienabgrenzung", die es im Verhältnis zwischen SPD und WASG gibt, ganz deutlich natürlich in Bezug auf Oskar Lafontaine. Die Sozialdemokraten liebten ihren Oskar, das hatte ja auch etwas Erotisches, wenn er gesprochen und einen Parteitag mitgerissen hat. Er traf das Lebensgefühl dieser Generation, wenn er rebellisch war und aus der Revolte heraus Themen nach oben gebracht hat. Und dann ist das ganz gewöhnlich wie in jeder Ehe, wenn es am Anfang ganz exzessiv gewesen ist und man sich dann trennt, wird aus der Liebe Hass.
Die SPD tut sich immer schwer damit, wenn links von ihr etwas Neues entsteht. Sie denkt immer, dass sie die Mutterpartei ist - aber das ist Denken des 19. Jahrhunderts. Unter den Bedingungen der politischen Verfolgung ist Geschlossenheit sicher wichtig, aber heute gehören verschiedene Parteien der Linken zur Normalität in fast allen europäischen Ländern.
Bei der Bundestagswahl vom 18. September sind etwa eine Million Wähler von der SPD zur Linkspartei rüber gegangen, dabei handelt es sich ja nicht um Postkommunisten oder SED-Nostalgiker, sondern um Leute, die von der jetzigen Ausrichtung der Sozialdemokratie enttäuscht sind. Viele hoffen sicherlich, dass sie dadurch die Sozialdemokratie wieder auf den von ihnen gewünschten Weg zurück führen könnte. Aber es gibt schon ein bemerkenswertes Gefälle. Interessant ist doch, dass viele Aktive und Wähler der Linkspartei im Westen zwischen Mitte 40 und Anfang 50 sind, also eine Altersgruppe, die im sozialdemokratischen Funktionärskörper vergleichsweise gering vertreten ist. Dort dominieren diejenigen, die zur sogenannten "Enkelgeneration" gehören, also etwa zu Beginn der 1940er Jahre geboren wurden. Diese haben die ihr nachfolgende Generation politisch nicht hochkommen lassen. Auf Seiten der Jüngeren haben wir dann bei den Mandatsträgern oft bereits die Schlipsträger.
Der Typus aber, der aus einfachen Verhältnissen kam, der klassische sozialdemokratische Funktionär, der das Abitur oft erst über den zweiten Bildungsweg erworben hat, der kommt in dieser jüngeren Generation überhaupt nicht mehr vor. Es gibt da zweifellos ein kulturelles Problem: während bei der WASG vom Habitus, vom Auftreten und der Kleidung eher der Typ des Gewerkschafters aus den 1980er Jahren dominiert, finden wir heute in der SPD oder gerade auch bei der Friedrich-Ebert-Stiftung oft eher den feinen Zwirn und eine Diskussionsweise, wie sie in großen Unternehmensberatungen üblich ist. Also: auch wenn die WählerInnenschaft zwischen Linkspartei und SPD in manchen Bereichen sehr ähnlich ist, gibt es bei den Aktiven in der SPD nicht nur das beschriebene Altersloch, sondern sehr starke Differenzen im Habitus. Das hat aber auch dazu geführt, dass viele frustrierte ehemalige SPD-Wähler nicht bei der Wahlenthaltung geblieben sind, sondern nun für die Linkspartei votiert und schwarz-gelb vereitelt haben.
Bei der CDU sind hingegen 600.000 in die Wahlenthaltung gegangen. Die FDP ist für mich trotz des Ergebnisses von knapp unter 10 % der eigentliche Verlierer, denn sie hat nicht kompensieren können, was die CDU verloren hat. Die Linkspartei war dafür, dass das bürgerliche Lager nicht regieren konnte, Gold wert - ohne, dass die Sozialdemokraten das verstanden haben.
Nun kommt noch ein Punkt dazu: die Sozialdemokraten sehen sich mit der Linkspartei nicht in einer linken Formation. Sie sagen zwar unter sich: "Die anderen haben keine Mehrheit bekommen", doch eine rot-rot-grüne Konstellation sehen sie nicht als eine handlungsfähige linke Option. Hingewiesen wird dann zwar immer wieder auf das Beispiel der skandinavischen Länder, wo Sozialdemokraten sich etwa tolerieren lassen, oder, wie jetzt in Norwegen, zusammen mit ihnen ein Bündnis eingehen. Doch diese Linksozialisten gibt es dort seit vielen Jahrzehnten, und was dort nicht so zerstört worden war wie in Westdeutschland ist das, was man ein "linkes Milieu" nennt, also Organisationen, Infrastrukturen, Freizeitorganisationen, Naturfreunde, auch die Anti-Alkoholikerorganisationen, die ja in Skandinavien eine große Rolle spielen - also Vereine, bei denen Kommunisten und Sozialdemokraten einfach zusammen und aktiv sind. Insofern sind die Berührungspunkte in den Facetten des Alltags einfach ständig präsent, deshalb wäre es von der skandinavischen Linken verrückt, diese Abgrenzungen zu machen, wie es die SPD in Bezug auf die Linkspartei tut. Also, es gibt hier in Deutschland zu wenig Begegnungen im Alltag, weil diese Formen unterhalb der Parteiorganisationen, die dann die Berührungszone schafft, in Deutschland heute, anders als in der Weimarer Republik, nicht mehr vorhanden sind."
spw: In den letzten Wahlkämpfen wurde ja vielfach die "Neue Mitte" umworben. Dabei wurde sowohl von der SPD als auch von der CDU eine zahlenmäßig nicht unbedeutende Gruppe stark vernachlässigt, die in die Volksparteien immer auf die eine oder andere Weise integriert werden konnten. Wenn wir das an Bourdieu angelehnte Milieu-Schaubild von Michael Vester nehmen, gibt es im rechten unteren Drittel Milieus, die ein starkes Bedürfnis nach sozialem Schutz, gewissermaßen den Wunsch nach dem guten Patron haben. Welche Partei kann diese Gruppe eigentlich noch erreichen?
Walter: Die Wahlbeteiligung ist ja weiter zurückgegangen, und es gibt dann eben über 20%, die sich jetzt doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr beteiligen, und das ist sehr stark im Kern auch diese Gruppe, die Sie gerade charakterisiert haben. Ob die überhaupt noch jemand mit rationalen Mitteln erreichen kann, da habe ich in der Tat meine Zweifel. Das kann vielleicht geradezu rhapsodisch-eruptiv irgendein demagogischer Populist schaffen, aber nicht mehr Organisationsparteien, die ein Mindestmaß an Rationalität haben.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich eine ganze Reihe von Leuten - unterer Bereich der Arbeiterklasse, Arbeitslose, die sind in den letzten Jahren, wenn man so will, durch das Parteiensystem mäandert. Das ist ja das Interessante: Früher hat man immer gesagt, das volatile Element, also die, die hin und herschwanken, das sind die gewerblichen Mittelschichten -was auch richtig war. Das ist heute nicht mehr so. Das eigentliche volatile Element ist tatsächlich die Arbeiterschaft, das sind vor allem die Arbeitslosen. Und die haben seit 1998 nun einiges probiert: 1998 sehr stark eben bei der SPD, dann große Enttäuschung 2002-2003. Dann haben nur sie die CDU zur Partei der Ministerpräsidenten in den Ländern gemacht, da gab es ja geradezu phänomenale Bewegungen hin zur CDU. Wir haben dann gesehen, dass das schon im Spätsommer des letzten Jahres auf dem Höhepunkt der Hartz-Demonstrationen dazu geführt hat, dass die sich wieder weg gewandt haben von der CDU. In dem Maß, in dem die soziale Frage ein Thema wurde, hat das der CDU überhaupt nicht genützt. Viele sind dann- gerade in Sachsen - auch zu den rechtsextremen Parteien gegangen, also auch das haben sie mitgemacht. Und jetzt ist die Partei der Arbeitslosen nun ohne jeden Zweifel die PDS geworden. Die SPD hat zehn Prozentpunkte verloren, die CDU hat alles, was sie in 2002 hinzugewonnen hatte, jetzt wieder verloren. Und das Wachstum allein im Westen in dieser Gruppe von der Linkspartei war 18 Prozentpunkte, insgesamt in Deutschland 15 Prozentpunkte.
spw: Welche Konsequenzen hat das für die Linkspartei?
Walter: Die PDS war in den 90er Jahren - anders, als es viele gesagt, haben - nie eine Protestpartei. Wenn man Protestpartei sieht als eine Partei, die irgendwo vagabundierenden Protest um sich sammelt, denen es eigentlich darum geht, den Herrschenden Knüppel zwischen die Beine zu werfen, die aber nicht gebunden sind an spezifische Normen, Werte, Programmziele. Die PDS-Anhängerschaft war aber eine vergleichsweise stark gebundene Stammwählerschaft, die eben sehr stark orientiert war auch an sehr spezifischen Zielen. Das hat sich geändert: Sie haben nun in ihrer Wählerschaft eine wirkliche Protestgruppe. Und übrigens sieht man das auch an der Struktur dieser Wählerschaft, an der Geschlechterstruktur der Wählerschaft, die nahezu typische für zumeist rechte, rechtspopulistische Protestparteien ist: zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen. Männer neigen beispielsweise sehr stark zu so einer Haltung, den Herrschenden "eine reinzuwürgen". Frauen wollen es lieber positiv, konstruktiv ausgedrückt haben. Das zeigt natürlich aber auch, wie schwierig es die Linkspartei haben wird, weil diese Wählergruppe keineswegs an die Linkspartei gebunden ist, jetzt aber trotzdem einiges erwartet.
In Skandinavien ist diese Gruppe eher zu den Rechtspopulisten gegangen. Die linkssozialistischen Parteien - ob in den Niederlanden, in Portugal oder in Schweden. - sie sind eigentlich Parteien der Menschen im öffentlichen Dienst, und da sind etliche dabei mit einem akademischen Zertifikat. Sie sind nicht die Parteien des Subproletariats.
Insofern kann keine Partei diese Wählergruppe zu ihrer Stammwählerschaft rechnen, zumal es heute auch nicht mehr so einfach ist, dieses patriarchalische "Sich-Kümmern". Wir leben in einer Gesellschaft, in der 20-25% der Leute eigentlich eher den Status von Entbehrlichkeit oder Überflüssigkeit haben. Das ist ja was Neues, gerade für die Industriegesellschaft. Die früheren Unterschichten, die frühere Arbeiterklasse war wichtig, um Rentabilität zu erzeugen, um Profit zu machen. Wir haben jetzt einen Status bei den Unterschichten, der sehr mich stark erinnert an das Mittelalter, an Vaganten oder Herumtreiber, wie man das damals genannt hat, die sich vor irgendwelchen Kirchenportalen versammelt hatten und vollkommen entbehrlich gewesen sind. Auch der Gutsherr auf den ostelbischen Großgütern brauchte diese Unterschicht als Knechte, Mägde oder Landarbeiter - und da fütterte man den einen Dorftrottel mit durch, da war man Patriarch. Aber jetzt fünf Millionen mit durchzufüttern ist für die moderne Bourgeoisie unmöglich, die ja auch nicht gebunden ist durch Glauben. Diese moralische Verpflichtung ist im modernen Bürgertum gering geworden. Dieser Transzendenzfaktor, der doch über viele Jahrhunderte in der abendländischen Geschichte auch bei den Eliten sehr stark verankert gewesen war, ist verschwunden. Also hat die Säkularisierung, die man als Linke ja auch so ein bisschen gefeiert hat, zumindest in diesem Bereich auch eine Menge Unheil angerichtet.
spw: Kommen wir zur Sozialdemokratie in Deutschland heute zurück. Kann sie linke Volkspartei bleiben und was müsste sie dafür tun?
Walter: Ich weiß ja gar nicht genau, ob das gut ist, ob man Volkspartei bleiben soll. Wir haben es ja vorhin schon kurz angesprochen: In den meisten Ländern ist es so, dass die Sozialdemokraten oder Sozialisten so irgendwo zwischen 20 und 25% haben, da gibt es dann noch Grüne zwischen 5 und 10 und Linksozialisten auch zwischen 5 und 10 %. Wenn es ganz gut läuft, kommen die drei Parteien zusammen und sind in irgendeiner Weise auch regierungsfähig. Das halte ich im Grunde genommen für das realistische Konzept, weil sich tatsächlich auch unterschiedliche Kulturen und Interessen und Lebenslagen dahinter verbergen.
Als die Grünen in den 1980er Jahren aufgekommen sind, hielt man sie zunächst auch für eine Abspaltung von der SPD; dabei sind die Grünen in der Tat ein ganz anderes Milieu, die auch Leute erreichen, die für die Sozialdemokratie nie erreichbar gewesen wären. Sie haben, wenn man so will, das altbürgerliche Lager dadurch kaputt gemacht, indem sie eben dort neue Schichten aus den Quartieren der Gutverdienenden für sich und so in das rot-grüne-Lager geholt haben.
Und wenn man sich jetzt ganz genau das Wahlergebnis von 2005 ansieht, dann sieht man: die Sozialdemokratie hat ihre besten Ergebnissen immer in den so genannten mittleren Lagen: Nicht dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch oder niedrig ist - sondern eben mittel. Nicht dort, wo die Kaufkraft hoch oder niedrig ist - sondern mittel. Nicht dort, wo der akademische Status durch das Zertifikat hoch oder niedrig ist - sondern mittel. Sozialdemokraten sind die Menschen, die mittelgut verdienen, in Mehrfamilienhäusern wohnen, Realschulabschluss haben oder zweiter Bildungsweg, die in einem Drei-Sterne-Hotel übernachten, nicht im Fünf-Sterne, aber auch nicht auf dem Campingplatz. Und das ist, glaube ich, zumindest für die Anhängerschaft relativ deutlich. Für die Parteieliten ist es sogar noch ein Stückchen darüber hinaus. Auch die jungen Abgeordneten haben nahezu fast alle Abitur, haben aber dadurch auch schon lebensweltlich gar nichts mehr mit denen zu tun, von denen sie dann häufig reden. Und insofern wächst dann natürlich aber auch eine spezifische Politik, wie man das in den letzten Jahren schon gesehen hat. Sie entkoppelt sich von den Menschen, die man eigentlich mal vertreten sollte. Und die kann dann natürlich eine neue linkssozialistische Partei vertreten, viel deutlicher und in sich konziser. Sie könnte zum Beispiel viel stärker auf eine Erhöhung von Steuern setzen, während die Sozialdemokratie bei so was immer aufpassen muss, denn in ihren mittleren Bereichen sind eben viele, die diese Steuern dann zu bezahlen hätten. Und diese Anhänger haben oftmals den Eindruck, dass sie gar nicht davon profitieren würden, sondern immer nur eine Gruppe alimentieren müssen, zu der sie dann gar nicht gehören. Sie sind besorgt, dass das Geld dann fehlt für die Zukunft ihrer Familien.
Das Problem wird ja auch in den Gewerkschaften zunehmend virulent. Es gibt einfach eine Reihe Gewerkschafter, die in den nächsten Jahren politisch-strategisch sagen werden: "Der Konfliktkurs ist wichtig", konfliktuelle Gewerkschafter, und andere, die eher korporatistisch, im Sinne von Absprachen und Partnerschaft argumentieren. Warum sollen die die gleiche Partei unterstützen? Das sind tatsächlich unterschiedliche strategische Vorstellungen, mit unterschiedlichen Erfahrungen mit unterschiedlichen Mentalitäten innerhalb der eigenen Basis, die sich dann auch übersetzen in verschiedene Parteien.
spw: Heißt das, dass die Konflikte, die Unterschiede zwischen den Parteien wieder stärker heraus gearbeitet werden müssen?
Walter: Im Grunde ja, aber das Entscheidende ist für mich, dass wir eine Kultur der Zusammenarbeit finden. Wir haben in den letzten Jahren auch gemerkt, wie unpopulär Volksparteien wurden, weil sie im Grunde genommen unscharf geworden sind, unkonturiert sind. Und dass sie dann zwar ab und zu bei den Wahlen mal was versprechen, aber das dann doch nicht halten, aber dass irgendwas fehlt, auch an programmatischer Deutlichkeit. Insofern könnte natürlich eine Reihe kleinerer Parteien wieder etwas deutlicher werden. Sie stehen intensiver im Wettbewerb miteinander. Die Sozialdemokraten müssen in den nächsten Jahren deutlicher machen, was sie denn eigentlich wirklich wollen, wohin es gehen soll.
Wenn man heute einen Christdemokraten nachts um zwei weckt und fragt, was getan werden muss, dann kann er - gleich ob betrunken oder nüchtern - antworten: "Entbürokratisierung, Staat verschlanken, Steuern runter, Arbeitsmarkt deregulieren." Wenn man den Sozialdemokraten fragt, weiß er es nicht genau: Ist eigentlich ein starker Staat gut oder schlecht, sind hohe Steuern gut oder schlecht - er weiß es nicht. Kündigungsschutz? In den vergangenen Wochen hat er gelernt, ihn zu verteidigen, aber in den Jahren vorher sah das anders aus. Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung von Menschenrechten? Man war mal dafür, mal dagegen.
spw: Dann verstehe ich Sie richtig, dass sie an die sozialdemokratischen Akteure die Empfehlung richten, inhaltliche Klärungen herbei zu führen, was man inhaltlich und strategisch eigentlich will, statt weiter mittig zu versuchen, mal diesen und mal jenen einzubinden?
Walter: Es war doch entwürdigend für eine Partei, dass sie nur darauf reduziert wurde nachzuvollziehen, was der Leitwolf zu erschnüffeln meint. Das, was sie in den letzten Jahren gar nicht mehr oder nur nach Gutsherrenart gemacht haben, mal ein bisschen Programmdiskussion, dann kam der nächste Generalsekretär, der hat dann wieder nix gemacht und so weiter - das kann sich die SPD gar nicht mehr leisten. Ich glaube z.B., dass die Linkspartei einen ganz guten Think-Tank hat in der Rosa-Luxemburg-Stiftung und im Umfeld darum. Und die werden bei einigen Projekten einfach auch gut erarbeitete Ideen vorbringen. Und da müssen die Sozialdemokraten mithalten. Das muss nichts Schlechtes sein.
Sozialdemokraten müssen wissen, was ihr Verhältnis zur Gesellschaft und zum Staat ist. Die Philosophie der Agenda 2010 war ein Ansatzpunkt: Wenn man sozialpolitisch lediglich die alimentiert, die keine Arbeit haben, sie aber dann damit alleine lässt, dann ist das kein zukunftsfähiges Konzept: Wir müssen schauen, dass sie aus dieser passiven Lage, zu der sie verdonnert sind, herauskommen. Dazu braucht man Instrumente, Möglichkeiten, man muss immer wieder Chancen geben oder Leitern bereitstellen - an sich ist das ja ein richtiges Konzept. Nur so furchtbar viel hat man über diese einzelnen Chancen und Leitern anschließend gar nicht nachgedacht, man hat sie nicht bereit gestellt. Das wäre die Aufgabe der Sozialdemokratie, und dazu braucht sie dann aber wirklich ein geschlossenes Konzept.
Entscheidend ist schließlich im Verhältnis zur Linkspartei: Es muss immer noch genügend Orte der Begegnung geben, dass sich Animositäten abbauen, dass man miteinander lernt und dadurch auch dazu in der Lage ist, allianzfähig zu sein in der Politik. Dann muss die Sozialdemokratie keineswegs mehr die große linke Volkspartei sein. Warum soll das Modell der siebziger Jahre für alle Zeiten gelten?
spw: Professor Walter, vielen Dank für das Gespräch.

Erschienen in spw 145 (September/Oktober 2005)