Wie weiter mit der EUuropäischen Union?

Der EU-Gipfel über die Finanzielle Vorausschau 2007-2013 ist gescheitert. Nettozahler und Nettoempfänger, Alt- und Neumitglieder der EU konnten sich nicht verständigen. Hauptgrund für das Scheitern sind aber die Forderungen nach Reduzierung der EU-Agrarmittel einerseits und nach Abbau des Briten-Rabatts andererseits, was nicht auf Gegenliebe der französischen, bzw. der britischen Regierung gestoßen ist.
Die Ratifizierung der EU-Verfassung über Referenden ist in Frankreich und den Niederlanden jeweils mit deutlicher Mehrheit gescheitert. Die mit der Erweiterung der EU so dringend gewordene Vertiefung wird also so schnell nicht kommen. Größere Transparenz und Bürgernähe, Stärkung der demokratischen Legitimation und der Handlungsfähigkeit der Union können auf absehbare Zeit nicht erreicht werden.
Die EU ist in der Krise. Wie also weiter mit der EU? Können wir davon ausgehen: "Wo Not ist, wächst das Rettende auch?" Die Ratlosigkeit ist groß.
Das Rettende wächst nämlich sicher nicht von allein, sondern muss aktiv gesucht und angestoßen werden. Zunächst ist es aber erforderlich, die Gründe für das Scheitern zu erkennen. Und zweifelsohne gibt es viele Gründe für das Nein beim Verfassungsreferendum:
Euroskeptiker und Souveränisten - wie es sie vor allem bei der extremen Rechten, aber auch ganz links, z.B. bei den französischen Kommunisten gibt - haben - das war nicht anders zu erwarten - Nein zur EU-Verfassung gesagt. Die Mehrheit der Verfassungsverweigerer tat dies aber aus anderen Gründen:
- Kritik an / Unzufriedenheit mit den nationalen Regierungen;
- eine Identitätskrise in der Bevölkerung wegen der nicht ausreichend gelungenen Integration von Immigranten;
- Angst vor Überfremdung und Arbeitskonkurrenz durch eine zu rasche Erweiterung;
- Sorge, als kleines Land in einer immer größeren EU zwar finanziell "ausgenommen", aber nicht ernst genommen zu werden;
- Entfremdung von der als Spezialistenpolitik der EU-Eliten empfundenen Praxis;
- Verunsicherung durch die Auswirkungen der Globalisierung und der damit verbundenen ökonomischen Entgrenzung;
- Angst vor schrankenlosem Wettbewerb;
- Kritik an der neoliberalen Politik der EU; diese Politik ist zwar erklärbar aus den Ursprüngen der EU als einer Wirtschaftsgemeinschaft, die den vier Freiheiten für Menschen, Güter, Kapital und Dienstleistungen verpflichtet ist: erklärbar auch aus der Tatsache, dass die Kompetenz für Sozialpolitik nach wie vor bei den Nationalstaaten liegt. Die Menschen haben aber mehr und mehr den Eindruck - und zwar nicht nur in Frankreich -, dass das europäische Gesellschaftsmodell, das sie zwar als Begriff kaum kennen, das sie aber in der Nachkriegsgeschichte erfolgreich erlebt haben, durch die Liberalisierungs-/Deregulierungs-"Wut" aus Brüssel in Gefahr gerät.
Das aktuelle Beispiel, das in der Referendumsdebatte vor allem in Frankreich eine Rolle spielte, ist der Kommissions-Entwurf für eine Dienstleistungsrichtlinie - in Anlehnung an den verantwortlichen Kommissar Bolkestein in Frankreich zur "Frankenstein-Richtlinie" umetikettiert.
Die Vorteile, die der EU-Verfassungsvertrag gegenüber dem Nizza-Vertrag gebracht hätte, sind dagegen nicht, bzw. nicht ausreichend und nicht rechtzeitig kommuniziert worden. Es gab auch keine hinreichende öffentliche Debatte über die Aspekte der EU-Erweiterung und über die neuen Herausforderungen für die EU auf dem Hintergrund der ambivalenten Auswirkungen der Globalisierung.
Deshalb verwundert es nicht, dass in der Debatte um den Verfassungsentwurf auch bei der Linken Renationalisierungstendenzen sichtbar wurden. Es erscheint paradox, dass angesichts transnational operierender Unternehmen Regierungen, Gewerkschaften und Parteien die Illusion nähren, der Sozial-/Wohlfahrtsstaat könne national erhalten werden.
Unsicherheit, Unwohlsein und Ablehnung, die sich in den Voten der Niederländer und Franzosen artikuliert haben, sind auch in zahlreichen anderen Mitgliedsländern vorhanden. Deshalb ist es auch wenig sinnvoll, nach einer nur auf diese beiden Länder bezogenen Lösung zu suchen.
Die Lösung kann weder darin bestehen, den Europäerinnen und Europäern, die die Verfassung abgelehnt haben, den unveränderten Text wieder vorzulegen, noch diesen nur von den Parlamenten absegnen zu lassen.
Eine Neuverhandlung zwischen den Regierungen - wie z.B. von den linken französischen Verfassungsgegnern in Aussicht gestellt - kann bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen in den Mitgliedsstaaten mit Sicherheit auch nicht annähernd das gewünschte Ergebnis hin zu einem sozialeren Europa bringen. Im Gegenteil: Es ist zu befürchten, dass mühsam errungene fortschrittliche Kompromisse wieder in Frage gestellt werden.
Wie also weiter mit der EU?
1. Die EuropäerInnen müssen für die EU "zurückgewonnen" werden. Das verlangt nicht nur einen intensiven europapolitischen Diskurs mit den Bürgern und Bürgerinnen. Es erfordert auch ihre Einbeziehung in die Erarbeitung eines "Verfassungstextes". Zwei Wege sind denkbar:
a) Bürger und Bürgerinnen wählen europaweit eine Verfassung gebende Versammlung. Der neue Text sollte nur die wirklich verfassungsrelevanten Teile enthalten, also nicht die Regelungen für die einzelnen Politikfelder, wie im Teil III des derzeitigen Verfassungsentwurfs.
Ein solcher Text könnte dann erfolgreich einem EU-weiten Referendum unterzogen werden.
Die Bevölkerung kann aber nur erfolgreich für Europa zurückgewonnen werden, wenn sie nicht überfordert wird, sondern wenn sie - im Gegenteil - positive Erfahrungen mit der EU macht.
b) Das Europäische Parlament erarbeitet als Verfassungskonvent einen neuen Text, der die wesentlichen Errungenschaften des Verfassungsentwurfes in konzentrierter, verständlicher Form enthält.
2. In jedem Fall muss die Erweiterungspolitik behutsam vorangetrieben werden. Das verlangt,
a) die (Binnen-)Integration der neuen Mitgliedsstaaten nach Kräften zu unterstützen und diese mit Hilfe des europäischen Solidarprinzips an das Wohlstandsniveau der alten Mitgliedsstaaten heranzuführen;
b) sich bei der Verhandlung mit neuen EU-Kandidaten (Türkei, Kroatien, evtl. westliche Balkanstaaten) klar an den Kopenhagener Kriterien zu orientieren. Damit müssen nicht nur die Beitrittskandidaten die Prinzipen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Achtung der Menschenwürde und der Marktwirtschaft beachten, auch die EU muss ihre Beitrittsfähigkeit beweisen: Ist sie in der Lage, neue Integrationsleistungen zu erbringen? Hat sie ihre Politiken ausreichend reformiert (z.B. Agrarpolitik)? Verfügt sie über die institutionellen Instrumente, um ihre Handlungsfähigkeit in einer größeren EU unter Beweis zu stellen? (Eine Weiterentwicklung der Institutionen kann teilweise auch unterhalb der Verfassungsschwelle erfolgen, z.B. Die Verlängerung der EU-Ratspräsidentschaft, der gemeinsame Außenminister).
c) Dem Erweiterungsdruck könnte begegnet werden, indem weitere Elemente einer integrierenden Nachbarschaftspolitik unterhalb der Beitrittsschwelle entwickelt werden.
3. Die europäischen Bürger und Bürgerinnen müssen in den nächsten Jahren die Erfahrung erfolgreicher Europapolitik machen. Das heißt, die EU muss es schaffen,
a) bei der GASP und der ESVP Fortschritte zu erzielen. Damit kann Europa seiner Verantwortung in der Welt gerecht werden, aber gleichzeitig auch die Sicherheit seiner Bevölkerung erhöhen.
b) Konstruktive Zusammenarbeit in Europa muss die EU in die Lage versetzen, so entscheidende wirtschaftliche Erfolge zu erzielen, dass dieser große Wirtschaftsraum gemäß der Lissabonstrategie dem internationalen Wettbewerb standhalten kann. Eine Voraussetzung dafür ist durch eine Neuausrichtung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes geschaffen worden.
c) Die Bürger dürfen die EU nicht als "trojanisches Pferd" der Globalisierung erleben, sondern als eine Kraft, die ihre Bevölkerung nicht nur schützt gegenüber destruktivem Dumpingwettbewerb, sondern auch die Unterstützung gibt, dass alle die Chance bekommen, auf dem Weg in die Wissensgesellschaft mitzugehen (z.B. Verabredung europäischer Mindestlöhne und Steuerharmonisierung).
Schon die nächsten Monate werden zeigen, ob der formulierte Gegensatz zwischen sozialprotektionistischem Gesellschaftsmodell und neoliberalem Deregulierungsmodell bestehen bleibt oder ob sich hinter der sozial ausgerichteten Rhetorik von Tony Blair tatsächlich die Bereitschaft verbirgt, mit den europäischen Partnern gemeinsame Schritte zu tun. Dies wird z.B. am Thema der Dienstleistungsrichtlinie schon sehr schnell deutlich werden. Dass kein europäisches Land seine Vorstellungen durchsetzen kann (siehe Frankreich) ergibt sich logisch.
Die nationalen Parlamente müssen stärker als in der Vergangenheit ihre Gestaltungs- und Kontrollkompetenz gegenüber ihren Regierungen nutzen, um die Erwartungen der Bürger und Bürgerinnen so auch in den Europäischen Rat zu tragen. Dies kann das ohne Verfassung vorhandene demokratische Defizit mindern und die EU-Politik den Menschen näher bringen.
Beim Ringen um die konkrete Politik wird sich auch zeigen, ob auf Dauer die vorhandene Kompetenzaufteilung zwischen EU und Nationalstaaten und die eingeführten Instrumente ausreichend sind, um die von den Menschen erwarteten Fortschritte zu erzielen.
4. Es könnte sich nämlich erweisen, dass eine kohärentere und damit erfolgreichere europäische Politik nur möglich ist, wenn die Koordinierungsinstrumente verbessert werden, wenn also beispielsweise im Sinne einer "gouvernance économique" zusätzliche Kompetenzen auf die EU-Ebene übertragen werden. Dass dies auch der entsprechenden demokratischen Legitimation bedürfe, versteht sich von selbst.
Es sollte niemand so naiv sein zu glauben, die vorgeschlagenen Lösungswege seien einfach umzusetzen. Dazu bedarf es nicht nur sozialdemokratischer Mehrheiten in den Mitgliedsstaaten. Wir brauchen auch eine intensive und tabufreie Debatte unter europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten mit dem Ziel, nationale Denkbarrieren zu überwinden. Der Austausch und die Zusammenarbeit in der SPE werden deshalb immer wichtiger.