Große Koalition und außerparlamentarische Opposition

Die Aktions- und Strategiekonferenz, die am 19. und 20.November die Debatte um Ziele und nächste Etappen des sozialen Protests weiterführen soll, ...

...die im Mai 2004 mit dem Perspektivkongress in Berlin begonnen und im Juli 2005 mit dem Sozialforum in Erfurt fortgesetzt wurde, sollte ursprünglich APO-Konferenz heißen - ein Rückgriff auf die Außerparlamentarische Opposition, die als Reaktion auf die erste Große Koalition 1966-1969 die gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD zum Tanzen brachte und das "System Adenauer" unter sich begrub. Der Titel wurde wegen rein formaler Analogie wieder fallen gelassen, die Verhältnisse sind auch nicht vergleichbar, doch der Rückbezug ist es wert, dass man einen Augenblick dabei verweilt.

Ein Streit über Steuererhöhungen veranlasste die FDP - nach der Bundestagswahl 1965 Koalitionspartner von CDU/CSU unter Bundeskanzler Ludwig Erhard - im Herbst 1966 die schwarz-gelbe Koalition aufzukündigen. Am liebsten hätte sie Neuwahlen durchgeführt, doch die SPD unter Herbert Wehner (und die CDU unter Kurt-Georg Kiesinger) zogen es vor, nur die Koalition zu wechseln. Der SPD winkte nach über 30 Jahren endlich wieder eine Regierungsbeteiligung, aus der Sicht der herrschenden Klasse ging es vor allem um die Durchsetzung der Notstandsgesetze.

Im Verlauf des Jahres 1967 kam die erste große Rezession nach den Wirtschaftswunderjahren mit fast einer halben Million Erwerbslosen hinzu. Finanzminister Franz-Josef Strauss und Wirtschaftsminister Karl Schiller ("Plisch und Plum") unternahmen es, deren Lasten auf die abhängig Beschäftigten durch Einbindung der Gewerkschaften in die Konzertierte Aktion abzuwälzen: Lohnleitlinien legten Obergrenzen für Lohnerhöhungen fest, ein Investitionsprogramm in Straßenbau und Rüstung stärkte die Nachfrage. Es gab für diese Große Koalition zwischen SPD und CDU durchaus eine gemeinsame programmatische Basis: sie war autoritär, korporatistisch und staatsinterventionistisch.

Gegen diese "formierte Demokratie" gab es im Bundestag keine linke Opposition. Aber in der SPD und in Teilen der Gewerkschaften stieß sie auf heftigen Widerstand, auf der Straße und an den Universitäten entlud er sich in einen Kampf gegen das verkrustete politische System. Dessen wesentliche Leitplanken - die Politik der Stärke gegenüber dem "Ostblock", ein hoffnungslos veraltetes Bildungssystem und hohe Demokratiedefizite in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft - waren durch die internationale politische Entwicklung überholt; genannt seien hier vor allem die Welle der Kolonialrevolution seit Ende der 50er Jahre, die Einleitung einer "Politik der Entspannung" unter der Administration Kennedy und die "Amerikanisierung" der Kultur. Damals waren die Konservativen die Bremser und Blockierer, die Jungen standen gegen die Alten - in der Familie, in der Gesellschaft, in der Politik. Ihr ganzes Streben stand unter einer Losung: Freiheit.

Heute sind es die Anhänger des Neoliberalismus, die das Wort Revolution im Mund führen und auf die Umwälzung, sprich: die Monetarisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse drängen. Als Bremser und Blockierer gelten heute diejenigen, die die sozialen Sicherungssysteme und so altmodische Dinge wie Arbeitsplatz- und Existenzsicherheit verteidigen. Ihr gesellschaftliches Potenzial wird zunehmend segmentiert in verschiedene Gruppen von abhängig Beschäftigten, Erwerbslose, Studierende und Rentner und ist in Abwehrkämpfen zersplittert. In dieser Umkehrung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse liegt der ganze Unterschied.

So ist auch die politische Dynamik eine andere: In den 60er Jahren bildete die Große Koalition den Übergang zu einer sozialliberalen Reformregierung. Heute wird die Große Koalition den Übergang zu einer schwarz-gelben Regierung markieren, die am liebsten ein Thatcher-Programm auflegen würde. Dafür gibt es in der Bevölkerung keine Mehrheit, wie die Bundestagswahlen deutlich gezeigt haben. Die ganze Frage besteht aber darin, ob die passive, gesellschaftliche Mehrheit gegen neoliberale Politik in eine aktive Kraft für eine Alternative verwandelt werden kann.

Eine neue APO ist bislang eher Wunsch als Realität. Die vielfach beschworene "Mehrheit links von der CDU" (ein Ausspruch, der Willy Brandt 1972 zugeschrieben wird) ist nur eine formale, die unterstellt, SPD und Grüne hätten bislang keine neoliberale Politik betrieben. Politisch ist der Begriff unbrauchbar, er kaschiert nämlich, dass es im Bundestag nicht nur eine große, sondern eine ganz große Koalition für "freien und uneingeschränkten Wettbewerb und Standortsicherung" gibt, die u.a. quer durch SPD und Grüne geht. Im Bundestag steht nur eine winzige Kraft gegen neoliberale Politik - das immerhin ist eine positive Neuerung gegenüber 1966.

Die formale Analogie zu 1966 besteht unter anderem in der Einbettung von Teilen der Gewerkschaft in die Große Koalition. Aber hier zeigen sich am deutlichsten auch die Unterschiede. Damals wurde Georg Leber (Vorsitzender der IG Bau, Steine, Erden) Bundesbauminister. Heute braucht die Kapitalseite einen Hubertus Schmoldt (IG BCE) nicht mehr als Arbeitsminister, um sich das Stillhalten eines Teils der Gewerkschaften zu erkaufen. Heute steht ein SPD-Mann wie Clement sozialpolitisch rechts von einem CSU-Mann wie Seehofer. Die Auswirkungen der jetzigen Großen Koalition auf SPD und Gewerkschaften werden erheblich andere sein.

1966 wandte sich die APO gegen das "Establishment", auch gegen das sozialdemokratische. Dennoch trieben ihr Mobilisierungserfolg und der Mangel an einer parteipolitischen Alternative links von der SPD bei den Bundestagswahlen 1969 und 1972 die Wähler, vor allem Jungwähler, in Scharen der Sozialdemokratie zu. Die Stillhaltepolitik der Gewerkschaften erhielt eine Quittung in den "wilden" Septemberstreiks, die eine neue Generation von Aktiven in den Betrieben hervorbrachte; aber die Gewerkschaften konnten dieses Potenzial zum größten Teil später zurückgewinnen und für eine Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit nutzen.

Heute verspricht das Festhalten eines Teils der Gewerkschaften an einer korporatistischen Linie der Zusammenarbeit mit "sozial verantwortungsvollen Unternehmern" einen verschärften Orientierungskampf um grundlegende Fragen nach Zweck und Form gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Die neue Regierung wird es den Gewerkschaften nicht einfacher machen als die alte, und dies wird die innergewerkschaftliche Differenzierung befördern. Denn die Wirtschaftsverbände - die sich um den Wahlsieg geprellt fühlen - werden die Regierung mit immer neuen Forderungen vor sich hertreiben. Die Wirtschaftspresse klagt laut über die Schlüsselposten, die die SPD mit dem Finanz-, dem Arbeits- und dem Gesundheitsministerium besetzt, sie klagt über die staatsinterventionistische Tradition der CSU und dass mit Stoiber und Seehofer der SPD eigentlich zwei weitere Ministerposten zufallen. Vor allem aber hält sie die Wiederausgliederung der Bereiche Arbeit und Soziales aus dem Wirtschaftsministerium für eine "mittlere Katastrophe".

"Diese mutige Tat - bisher hatte noch kein Kanzler [wie Schröder] die Gewerkschaften derart entmachtet - Â… sollte den Widerstand der Arbeitnehmerlobby frühzeitig brechen." Damit sei nun Essig. Deshalb gehen die Arbeitgeberverbände und der Wirtschaftsrat der CDU jetzt auf Angriffposition und machen von außen maximalen Druck, um mit Hilfe von Merkel, Steinbrück und vielleicht Müntefering ihr Programm durchzusetzen. Je weiter aber die Große Koalition den Unternehmern entgegenkommt, desto stärker geraten die Gewerkschaften unter Druck, gegen die Regierung zu mobilisieren, desto mehr Wähler und Mitglieder laufen der SPD davon - bis sie die Koalition aufkündigen muss, um nicht auszubluten. So weit will es die Kapitalseite treiben, das ist offenkundig.

Man wünscht sich, die Seite der Arbeit sei ebenso entschlossen. Denn für den Ausgang der nächsten Wahlen wird entscheidend sein, unter welchen Bedingungen diese Koalition zu Ende geht. Dazu bedarf es einer außerparlamentarischen Opposition, die nicht verschreckt versucht, die schlimmsten Missetaten Angela Merkels abzuwehren, sondern offensiv die zwei, drei Stützpfeiler aufs Korn nimmt, auf denen das Konzept der neuen Koalition ruht. Diese Regierung muss weg - das muss von Anfang an die Zielsetzung sein. Dazu bedarf es eines politischen Bündnisses mindestens in der Bandbreite, wie sie das Sozialforum von Erfurt aufwies. Dessen Dreh- und Angelpunkt ist das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und den anderen sozialen Bewegungen. Und das hat sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Die politische Entfremdung der Gewerkschaften von der Sozialdemokratie des Dritten Wegs ist ein Prozess, den wir in ganz Europa beobachten können.

Man denke nur an die schroffe Ablehnung, auf die das Projekt europäischer Märsche gegen Erwerbslosigkeit und Ausgrenzung 1997 noch beim Europäischen Gewerkschaftsbund stieß. Wahlweise wurden die Akteure als Anarchisten oder Rechtsradikale gescholten. In den Anfangszeiten des WSF in Porto Alegre veranstaltete der Internationale Bund Freier Gewerkschaften sein Gewerkschaftsforum parallel dazu und ausschließlich für die eigenen Mitgliedsorganisationen.

Auf dem Europäischen Sozialforum im nächsten Frühjahr in Athen wird das Gewerkschaftsforum integraler Bestandteil des ESF und für alle Gewerkschaften offen sein, auch für solche, die nicht im EGB vertreten sind. Und der größte Erfolg des ersten Sozialforums in Deutschland im vergangenen Juli war der, dass Ver.di, IG Metall, IG BAU, GEW mitgemacht haben und mit von der Partie bleiben. Die Mühlen mahlen langsam, und doch ist es ein weiter Weg, der da zurückgelegt wurde.

Gemeinsame Kampagnen wie die Lidl-Kampagne, in der Ver.di und Attac zusammen arbeiten, oder eine bundesweite Kampagne gegen die Bolkestein-Richtlinie, oder auch lokale und regionale Kampagnen gegen Entlassungen und Betriebsschließungen können diesen Prozess vertiefen. Nicht von ungefähr will deshalb der Vorbereitungskreis für die Aktionskonferenz im November die Frage nach einem strategischen Bündnisses zwischen Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen an den Beginn der Konferenz stellen. Diese Konstellation hat viel Ähnlichkeit mit der der Jahre 1966-69, wenn es damals auch nicht um die Erneuerung des Sozialstaats und um die Konzipierung einer alternativen, solidarischen Wirtschaftsweise ging, sondern um die Verhinderung der Notstandsgesetze und die Demokratisierung der Gesellschaft. In diesen Jahren (bis Sommer 1968) war der SDS das strategische Zentrum der außerparlamentarischen Opposition. Er vermochte es, gestützt auf studentische Aktionsausschüsse und auf die eigene erfolgreiche Verbandstätigkeit an den Universitäten gewerkschaftlichen Protest, Demokratisierungsbestrebungen und die Bewegung gegen den Kalten Krieg und für eine Verständigung mit dem Osten in der Kampagne gegen die Notstandsgesetze zu bündeln.

Eine solche Bündelung steht wieder an. Die Bedingungen sind aber erheblich komplizierter als damals, weil es nicht nur um gemeinsame Kampagnen geht. Es geht heute auch um die langfristige Arbeit an neuen Strukturen der Interessenvertretung, denn die soziale Zusammensetzung der Arbeiterklasse hat sich geändert, langjährige Massenarbeitslosigkeit und die Prekarisierung der Erwerbsarbeit bewirken, dass die Organisationskraft der Gewerkschaften schwindet, weil sie an betriebszentrierten Konzepten festhalten.

Die Gewerkschaften gehen auf außergewerkschaftliche soziale Bewegungen zu, weil sie sich davon Unterstützung z.B. für den Erhalt des Flächentarifs versprechen. Das ist aber zu kurz gedacht. Kämpfe gegen Entlassungen, Produktionsverlagerungen, gegen Privatisierung und Lohnraub können nur dann zu gesamtgesellschaftlichen werden, wenn sie über die betriebliche und gewerkschaftliche Ebene hinausreichen und eine politische Dimension erlangen. Ein strategisches Bündnis mit den Gewerkschaften erfordert heute, dass gewerkschaftliche Kämpfe sich zu gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen weiten, gewerkschaftliches Handeln sich mithin einen neuen Rahmen sucht. Auf der Tagesordnung stehen Schritte in Richtung territorialer Formen der Interessenvertretung, die auf dem Gedanken der Selbsthilfe aufbauen, und eine Politisierung der Kämpfe.

Was heute zudem fehlt, ist ein strategisches Zentrum für außerparlamentarische Opposition, eine Struktur, die zugleich Kontinuität in der Arbeit, soziale Verankerung, Offenheit und Bündnisfähigkeit aufweist. Ein solches Zentrum ist durch keine Partei zu ersetzen - zumindest nicht solange, wie diese sich in Parlamentssessel verkriecht. Das ist nicht einfach eine organisatorische Aufgabe. Es ist eine programmatische Aufgabe. Die Stärke des SDS war ein gewisser, wenn auch labiler sozialistischer Grundkonsens, der sich von der SPD freigemacht hatte und sich dem Stalinismus nicht unterordnen wollte. Einen solchen Grundkonsens wieder aufzubauen, ist der eigentliche Zweck der globalisierungskritischen Bewegung.

Auf der Aktionskonferenz in Frankfurt wird es darauf ankommen, in dieser Richtung weiter zu gehen.