Zehn Jahre WTO

Wenn die WTO im Dezember ihre Ministerratskonferenz in Hongkong abzuhalten gedenkt, demonstriert sie einmal mehr, dass sie sich bei der Auswahl ihrer Tagungsorte bestens auf Symbolpolitik versteht.

"Hongkong" ist einer jener wohlklingenden exotischen Städtenamen, bei dem vage Erinnerungen aufkommen. Früher im Sandkasten, stand da nicht immer auf den Spielzeugautos "Made in Hongkong"? Und kam nicht das Transistorradio von dort? Wenn die Welthandelsorganisation (WTO)
im Dezember ihre Ministerratskonferenz in Hongkong abzuhalten gedenkt, demonstriert sie einmal mehr, dass sie sich bei der Auswahl ihrer Tagungsorte bestens auf Symbolpolitik versteht. Denn Hongkong steht geradezu paradigmatisch für den Freihandel.

Schon zu Zeiten der Tang-Dynastie vor vierzehnhundert Jahren war Hongkong (zu deutsch: Duftender Hafen) ein bedeutendes Handelszentrum. Als britische Kronkolonie entwickelte sich Hongkong in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer wichtigen Freihandelszone für ganz Ostasien. In den 1960er und 70er Jahren wurden in Hongkonger Sweatshops zu Billiglöhnen Massenartikel für die westliche Welt gefertigt. Heute ist die Megacity ein wichtiges Finanzzentrum in Asien und eine der liberalisiertesten Marktwirtschaften der Welt. Seit 1997 gehört Hongkong zur Volksrepublik China, also zu jenem aufstrebenden WTO-Mitglied, das die Kräfteverhältnisse des globalen Kapitalismus in den nächsten Jahren umwälzen wird.
Hongkong passt also ideal zu jener UN-Sonderorganisation, die sich seit zehn Jahren anschickt, den Freihandel zur globalen Maxime zu machen. Als eine der bedeutendsten institutionellen Verdichtungen des neoliberalen Typus von Kapitalismus gelingt der WTO das auch in vielen Bereichen. Beim weltweiten Handel mit Dienstleistungen, bei geistigen Eigentumsrechten sowie bei vielen Industrie- und Agrarprodukten hat die WTO einen Liberalisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungsschub bewirkt. Die Auswirkungen auf Arbeitsverhältnisse, Lohn- und Preisniveaus, Gesundheitssysteme und die Umwelt sind gravierend. Sie variieren allerdings von Land zu Land erheblich. Länder mit exportorientierter Wirtschaft wie etwa Deutschland oder Südkorea können von schrankenlosem Freihandel zweifelsohne profitieren - wenngleich nicht alle Wirtschaftszweige und Bevölkerungsgruppen. Ganz anders sieht es bei den ohnehin benachteiligten Ländern aus, deren schwache Landwirtschaften und Industrien keine Chance gegen die übermächtige Konkurrenz haben. Eine im Auftrag der britischen Hilfsorganisation Christian Aid erstellte Studie beziffert die Verluste des subsaharischen Afrika durch Handelsliberalisierung während der letzten 20 Jahre auf 272 Mrd. US-Dollar.
Trotz der immens großen Bedeutung der WTO für die heutige Verfassung der Weltwirtschaft wäre es falsch, die Kritik allein auf sie zu richten. Denn die WTO ist bei weitem nicht die einzige Institution, die sich dem Freihandel verschrieben hat. Parallel zu ihr bilden sich immer mehr regionale Freihandelszonen und bi-regionale Freihandelsbündnisse, wie z.B. der Mercosur und die EU-Mercosur-Kooperation. Meistens gehen diese regionalen Abkommen über die Liberalisierungsvorgaben der WTO hinaus. Nur in wenigen Fällen erfolgt die Gründung regionaler Abkommen in bewusster Abgrenzung zur hegemonialen, von den Großmächten dominierten Freihandelspolitik, wie dies etwa bei der von Fidel Castro und Hugo Chávez lancierten Bolivarischen Alternative für Lateinamerika (ALBA) der Fall ist.

Ebenso falsch wäre es, die WTO mächtiger erscheinen zu lassen als sie ist. Die Durchsetzung der neoliberalen Agenda war immer auch von Rückschlägen begleitet, wofür symbolhaft besonders die als gescheitert geltenden WTO-Ministerratskonferenzen in Seattle (1999) und Cancún (2003) stehen. Auch der Vorbereitungsprozess von Hongkong verlief so kontrovers, dass die Tagung möglicherweise abgesagt wird. Die Interessensdivergenzen zwischen den WTO-Mitgliedsstaaten verlaufen dabei nicht nur entlang des Nord-Südkonflikts, sondern auch quer durch alle Staatengruppen. Besonders deutlich wird dies im Agrarbereich, wo EU-Subventionen auf US-Kritik stoßen (und umgekehrt) oder die Importländer des Südens (G 33) mit den Interessen großer Agrarexportländer (G20) hadern.
Bereits seit ihrer Gründung zieht die WTO massive Kritik auf sich, etwa von Umweltbewegungen, Entwicklungsorganisationen, KapitalismuskritikerInnen oder Feministinnen. Die Proteste gegen die WTO-Tagung in Seattle gelten als Initialzündung der globalisierungskritischen Bewegung. Auch bei der für Mitte Dezember 2005 in Hongkong geplanten WTO-Ministerratstagung wird es zu Protesten kommen, wenn dort versucht wird, die ins Stocken geratenen Verhandlungen über die Ausweitung der Freihandels auf immer neue Bereiche zum Erfolg zu führen.

Zehn Jahre WTO sind Anlass genug, um die Praxis und Theorie der Freihandelsdoktrin in einem iz3w-Themenschwerpunkt kritisch nachzuzeichnen. Dabei soll auch die übliche Kritik am Freihandel einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Unabhängig vom konkreten Ausgang der Tagung in Hongkong erscheint eines sicher: Die Themen WTO und Handelspolitik werden auf der Agenda bleiben, auch in der iz3w.

iz3w redaktion