Algerien: Frieden und Versöhnung?

Algeriens Bürger scheinen mit überwältigender Mehrheit der "Charta des Friedens und der Versöhnung" ihre Unterstützung gegeben zu haben.

Präsident Abdelaziz Bouteflika hatte im August eine Volksabstimmung für den 29.9. über eine entsprechende Charta angekündigt, die dem über zehn Jahre dauernden Blutvergießen im Land ein Ende bereiten solle. Die Charta sieht unter anderem vor, dass die sich den Behörden freiwillig stellenden islamistischen Terroristen gerichtlich nicht weiter verfolgt werden. Die Amnestie betrifft allerdings nicht die Beteiligten an Massakern, Vergewaltigungen und Bombenanschlägen, wohl jedoch die an individuellen Mordanschlägen und die - in diesem Fall überwiegend zu den staatlichen Sicherheitskräften gehörenden - Verantwortlichen für das Verschwindenlassen von Personen - der Algerischen Menschenrechtsliga (LADDH) zufolge etwa 18.000 an der Zahl. Algeriens Ministerpräsident Ahmad Ouyahia bezifferte jüngst die rückläufige Zahl der noch aktiven Mitglieder bewaffneter Islamistengruppen im Land auf rund 1000.

Das Referendum

Innenminister Noureddine Yaszid Zerhouni zufolge haben sich 79% der 18 Millionen Wahlberechtigten am Referendum beteiligt. Davon hätten 97% mit Ja gestimmt. Die Wahlbeteiligung sei in den vom islamistischen Terrorismus am stärksten betroffenen Provinzen am höchsten gewesen und habe dort bei 99% gelegen. In der Hauptstadt der Großen Kabylei allerdings hätten sich nur 11% der Wahlberechtigten beteiligt, von denen etwa 87% mit Ja stimmten.

Der Innenminister machte dafür die Gewalt der Gegner und Kritiker des Referendums verantwortlich und die traditionell niedrige Wahlbeteiligungen der verstreut liegenden Ortschaften. Die auf den ersten Blick verdächtig hohen Prozentzahlen der Wahlbeteiligung und Unterstützung der Charta fielen einer Reihe von Beobachtern insbesondere im Fall der Hauptstadt Algier auf, wo traditionell nicht mehr als 40% der Berechtigten zu Wahlen gehen, diesmal aber angeblich 72%. In der Tat ist dieses Ergebnis verwunderlich, wenn man bedenkt, dass das Referendum nicht nur von Kräften wie der LADDH, sondern auch etwa von Parteien wie der sozialdemokratischen FFS (Front der sozialistischen Kräfte) abgelehnt worden war. Die FFS hat ihre Hauptbastionen in der berberischen Kabylei.

Die Kritiker des Referendums, die zu dessen Boykott aufriefen, haben sich insbesondere daran gestoßen, dass der Friede im Land durch Verdrängen der Wahrheit und Ablehnung angemessener Wiedergutmachung hergestellt werden solle und das Regime das Referendum benutze, um einen Persilschein zu erhalten. Dennoch kann kaum Zweifel daran bestehen, dass die Regierung eine überwältigende Bestätigung seitens der traumatisierten und der Verbrechen müden Bevölkerung erhalten hat. Ob dem Wunsch des Regimes, den islamistischen Terrorismus endgültig zu besiegen, Erfolg beschieden sein wird, sei dahingestellt. Allerdings stehen die Chancen dafür besser als lange zuvor.

Ursprünge des Islamismus

Der Islam und auch seine politische - islamistische - Spielart gehört zwar seit jeher zur algerischen Wirklichkeit, gerade auch während des nationalen Befreiungskriegs von 1954 bis 1961. Zur politischen Massenbewegung wurde er jedoch erst im Zuge des Legitimationsverfalls der Staatspartei, der FLN (Nationale Befreiungsfront). Nach ihrem Sieg über den französischen Kolonialismus erwies sich diese nicht nur als zunehmend korrupt und als politisches Organ einer sich herausbildenden Oligarchie. In den 80er Jahren konnte sie auch zunehmend weniger die wirtschaftlichen Grundbedürfnisse breitester Teile der Bevölkerung befriedigen.

In dieser Situation gewann eine als arabischsprachige gegenüber der herrschenden frankophonen benachteiligte Gegenelite mit Hilfe des auch durch die iranische Revolution und den Zusammenbruch des "sozialistischen" Lagers in Mode gekommenen islamistischen Appells eine breite Basis in der zunehmend verelendeten Bevölkerung. Zu Beginn jenes Jahrzehnts trat erstmals eine bewaffnete islamistische Organisation in Erscheinung, die aber bald aufgerieben wurde. Die Jugend der Elendsviertel bildete denn auch zusammen mit einigen ideologisierten Kadern, darunter eine Reihe von "Afghanen", d.h. Algeriern, die in Afghanistan im Jihad gegen die sowjetische Armee und die afghanischen "Kommunisten" gekämpft hatten, das Rückgrat der verschiedenen Guerillagruppen, die sich nach dem Staatsstreich von 1992 formierten.

Vor dem zweiten Wahlgang einer demokratischen Machtübernahme der FIS (Islamische Rettungsfront) hatte das Militär geputscht und die Islamisten waren erstmals in größerer Zahl in den bewaffneten Untergrund gegangen. (Nach offiziellen Angaben hat der darauf folgende Bürgerkrieg 150.000 Menschen das Leben gekostet, Tausende Verwundete und Hunderte von "verschwundenen" Zivilisten hinterlassen sowie Schäden an Infrastruktur und Eigentum im Wert von 20 Milliarden US-Dollar.) Zur Zeit des Höhepunkts ihres Wirkens 1994 scheinen die verschiedenen islamistischen Guerillaorganisationen, darunter die mit der FIS verbundene AIS (Islamische Rettungsarmee) sowie die unabhängigen GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen) der Armee zufolge 27000 Kämpfer, nach anderen Quellen 40.000 Mitglieder gehabt zu haben, ihre Zahl schrumpft ab 1996 deutlich.

Islamismus in der Defensive

Zu den Gründen dafür gehören nicht nur die oft äußerst brutalen Gegenmaßnahmen der Armee und der Aufbau der von ihr kontrollierten zivilen bewaffneten Selbstschutzgruppen, sondern vor allem auch die Abwendung breitester Teile der einst aus Abscheu vor dem Regime mit ihnen sympathisierenden Bevölkerung.

Diese war einerseits schon bald von den lokalen Regierungen der FIS enttäuscht, die in erster Linie ihre Anhänger in bestehende Jobs hievte und mehr noch verschreckt durch die zunehmend gewalttätig erzwungene Beachtung religiöser Vorschriften wie das Verbot, Alkohol zu trinken, Fernsehen zu schauen, Dame zu spielen oder das für Frauen, sich unverschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen. Wichtiger waren oft Verbote, dass Frauen keiner außerhäuslichen Arbeit nachgehen durften, obwohl die ansonsten recht konservativen Familien genau darauf in hohem Maße angewiesen waren. Letztlich ausschlaggebend war, dass die bewaffneten Gruppen angesichts der schwindenden Unterstützung durch die Bevölkerung begannen, diese als "Ungläubige" und "Feinde" zu behandeln und Massaker mit Hunderten von Toten an ihr veranstalteten. Die Politik des Regimes, einerseits mit großer Härte gegen den islamistischen Maquis vorzugehen und andererseits Amnestieangebote zu machen, hat unzweifelhaft Erfolge verzeichnet.

Aufgrund der positiven Entwicklung der Preise für Erdöl und Erdgas, Algeriens wichtigste Einnahmequelle, steht das Land und damit das Regime zur Zeit besser da als noch vor wenigen Jahren. Auch die Haltung der imperialistischen Staaten zum Regime und zur islamistischen Bewegung hat sich gegenüber den frühen 90er Jahren verändert. Damals gab es noch starke Stimmen, die für eine "islamisch-kapitalistische" Perspektive in Algerien eintraten, für einen Kompromiss zwischen der FIS und dem Regime. Angesichts des späteren unter dem Namen Al Qaeda zusammengefassten Phänomens und der militärischen Erfolge der éradicateurs (Ausrotter) sind diese Stimmen im imperialistischen Lager und gerade auch in den USA, die in Konkurrenz zu Frankreich agierten, weitestgehend verstummt.

Die von Präsident Bouteflika angebotene Amnestie dürfte allerdings den ideologischen harten Kern der GIA und der GSPC (Salafistische Grupppe für Predigt und Kampf), einer in den letzten Jahren entstandenen, Al Qaeda zugeordneten Gruppe, wenig beeindrucken. Die Attentate kurz vor dem Referendum zeugen davon. Ob diese in Zukunft erneut eine breitere Basis gewinnen werden, hängt eng mit der wirtschaftlichen Zukunft Algeriens zusammen.