Die Stimme der Unterdrückten

Gayatri Spivak, koloniale Wissensproduktion und postkoloniale Kritik

in (23.12.2005)
Eigentlich könnte man aus postkolonialer Perspektive angesichts des Artikels von Gerhard Drekonja-Kornat (2004) mehr als zufrieden sein: In einer der angesehensten deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften wird ein Aufsatz veröffentlicht, der die früher mit Unverständnis bedachte Frage "Wer darf wie über die Dritte Welt schreiben?" schon im Titel thematisiert. Dem geneigten Publikum werden nicht nur Rigoberta Menchu und die Querelen um ihr Buch, sondern auch generell Gayatri Chakravorty Spivak, Postkolonialismus und die Subaltern Studies näherzubringen versucht; es wird sich von der konservativen Gegenbewegung ("Nur tote weiße Männer verdienen es, gelesen zu werden!") deutlich distanziert, die Geringschätzung der Dritten Welt und ihrer Sozialwissenschaftler (!) angeprangert und die Überwindung metropolitaner akademischer Arroganz als Ziel formuliert. Eigentlich. Unglücklicherweise findet die Auseinandersetzung mit der Thematik und v.a. mit Spivaks vielzitiertem Aufsatz "Can the subaltern speak?" auf eine Art und Weise statt, dass sie entgegen ihrer Absichten doch wiederum als ein Zeugnis metropolitaner Arroganz gelesen werden kann. Als Argumente für eine solche auf den ersten Blick böswillig erscheinende Lesart lassen sich u.a. anführen: die Charakterisierung der Generation, welche die Frage nach der Legitimität, aus dem Norden über den Süden zu schreiben, aufwirft, als "grob argumentierend" und "aggressiv"; die Beschreibung der angeblichen Spivak-These als "nicht neu" und die Erklärung ihrer Wirkungsmacht durch die "Vehemenz", mit der sie vorgetragen wurde (nicht durch irgendwelche inhaltlichen Qualitäten); das Zugeständnis an das konservative akademische Establishment, die zuungunsten von Plato und Shakespeare in den Lehrplan aufgenommenen Werke indigener oder afroamerikanischer Herkunft seien ja tatsächlich "literarisch nicht so hochwertig"; oder der beruhigende Hinweis an ebendieses Establishment, schließlich hätten ja auch "die Evangelien trotz strenger Exegese" überlebt, gepaart mit einem Plädoyer für "Gelassenheit" angesichts der subaltern-postkolonial-homosexuellen Lehrplaninvasion - mit anderen Worten: "unsere" höherwertige Literatur und Philosophie wird sich auf Dauer schon durchsetzen, keine Sorge. Der unausgewiesene Maßstab ist dabei selbstverständlich der eigene. Die Subjektposition des Textes ist an den erwähnten Stellen kaum von jener der von den Subaltern Studies aufgrund der Verknüpfung mit dem kolonialen Weltbild kritisierten metropolitanen Wissenschaft zu unterscheiden. Das entscheidendste Argument für eine derart böswillige Lesart ist jedoch in folgender Passage zu finden: "'Can the Subaltern speak?' fragt die Inderin Spivak, um in ihrem inzwischen berühmten, wenngleich stark verschlüsselten Essay zu antworten: Ja! Die Peripherie meldet sich mit eigenen Stimmen zu Wort, und sie will auch gehört werden" (Drekonja-Kornat 2004: 432). Diese Paraphrasierung ist von ähnlicher Präzision wie die Aussage, das Kommunistische Manifest rufe die Kapitalisten aller Länder auf, sich zu vereinigen. Eigentlich kann, wer solches schreibt, den Text nicht gelesen haben, denn die klare Antwort auf die Frage lautet Spivak zufolge schlicht "Nein". Nun ist diese Episode kein Einzelfall, sondern m.E. ein zwar extremes, aber symptomatisches Beispiel für den Umgang weiter Teile des akademischen Establishments mit feministischen, poststrukturalistischen oder postkolonialen Ansätzen, die "man" mittlerweile nicht mehr vollständig ignorieren kann, ohne als borniert und konservativ zu gelten, andererseits aber auch nicht wirklich gelesen haben muss, um ihre Kernaussagen (oder das, was gemeinhin dafür gehalten wird) in wenigen Zeilen referieren und abkanzeln zu können.

Spivak und warum die Subalterne nicht sprechen kann

Angesichts eines solch symptomatischen "Missverständnisses" soll die fragliche Argumentationslinie des Spivak-Textes (nur diese) hier kurz nachgezeichnet werden. Sein Aufhänger ist ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze. Beide sind sich einig in der Ablehnung der Repräsentation der Unterdrückten, der Anmaßung, für diese zu sprechen, und formulieren als Ziel ihrer politischen Arbeit, Bedingungen zu schaffen, unter denen z.B. die Gefängnisinsassen selbst sprechen können und gehört werden. Denn, so die Annahme, die Unterdrückten brauchen keine Intellektuellen, die sie über ihre gesellschaftlich untergeordnete Position aufklären oder als ihre Sprecher fungieren, sie wissen selbst sehr gut darüber bescheid, was im Gefängnis, in der Fabrik, in der Schule wirklich geschieht - die Subalternen können selbst sprechen, wir müssen sie nur sprechen lassen und ihnen zuhören. Spivaks Kritik ist nun, dass Foucault entgegen seiner theoretischen Einsicht, dass Subjekte durch machtverstrickte Diskurse konstituiert werden, im politischen Kontext (wie etwa der Arbeit in der Gruppe Gefängnisinformation) an der Vorstellung eines selbstidentischen, souveränen Subjekts und seiner unhinterfragten Wertschätzung festhalte (Spivak 1994: 69). Die Notwendigkeit theoretischer Praxen von Bewusstseinsveränderung und gegenhegemonialer Wissensproduktion angesichts ideologischer Subjektkonstitution werden so laut Spivak ebenso leichtfertig vom Tisch gewischt wie das Problem der Repräsentation. Weder die Vermischung von Repräsentation als politischer Vertretung und Repräsentation als semiotischer, meist sprachlicher Darstellung noch die grundsätzliche Ablehnung des Prinzips sei hilfreich, im Gegenteil: Der Bezug auf das, "was wirklich geschieht", stelle einen Rückfall in einen überwunden geglaubten Repräsentationsrealismus dar, während die Intellektuellen in der Darstellung der Unterdrückten sich selbst als transparent verklärten (ebd.: 70) - "sie berichten lediglich über die Nichtrepräsentierten" (ebd.: 74). In diesem Fall verberge das postrepräsentationalistische Vokabular eine essentialistische Agenda (ebd.: 80), und die sich aus der grundsätzlichen Ablehnung von Repräsentation ergebende Weigerung, die Rolle eines Zeugen und "Richters" anzunehmen, werde der Verantwortung des Intellektuellen bzw. der Kritikerin nicht gerecht (ebd.: 75). Anschließend an ihre Kritik, dass die Hierarchien internationaler Arbeitsteilung von westlichen Intellektuellen entweder ignoriert oder aber anti- oder postkoloniale Widerstände als Teil eines politischen Bündnisses in einem gemeinsamen Kampf gegen Unterdrückung vereinnahmt würden, wendet sich Spivak in der Begründung ihrer Gegenthese, die Subalterne (verstanden als die innergesellschaftlich marginalisierten Gruppen(1)) könne nicht sprechen, der Dritten Welt zu, und dort speziell der durch Rassen-, Klassen- und Geschlechterverhältnis untergeordneten Gruppe der subalternen Frauen. Diese würden sowohl in der kolonialen Geschichtsschreibung als auch in den antikolonialen Befreiungskämpfen durch die herrschende Geschlechterkonstruktion nicht als sprechende Subjekte auftauchen: "Wenn der Subalterne im Kontext der kolonialen Produktion keine Geschichte hat und nicht sprechen kann, dann steht die Subalterne als Frau noch deutlich mehr im Schatten" (ebd.: 83). Spivak illustriert dies am Beispiel der Selbstverbrennung von Witwen auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes in Indien, eine Praxis, die hierzulande unter dem Namen Sati bekannt geworden ist. Die Abschaffung dieser Praxis durch die britische Kolonialherrschaft 1829 interpretiert Spivak als eine Manifestation des Topos "weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern". (92) Der Schutz der Drittweltfrau vor Ihresgleichen wird zum Signifikant der Etablierung einer guten Gesellschaft durch die zivilisierende Kolonialherrschaft: "Das Bild des Imperialismus als Begründer der guten Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dafür einzutreten, die Frau als Objekt vor sich selber zu schützen" (ebd.: 94). Auf der anderen Seite steht das nativistische Beharren vieler Inder, dass die Frauen schließlich freiwillig den Tod gewählt haben, da diese Praxis auch mit Tradition, Ehre, Würde sowie spirituellen Versprechungen bzw. Belohnungen verknüpft sei. Mit der Umdefinierung des Opferungsrituals als Verbrechen im Rahmen der britischen Kolonialgesetzgebung wurde in Spivaks Sicht jedoch nur die traditionell-patriarchale Diagnose des freien Willens der Frauen durch eine aufklärerische-britische abgelöst. Der Überlieferung des Dharmasastra zufolge ist die als Sati bezeichnete Witwenverbrennung jedoch keinesfalls obligatorisch, sondern eher ein Ausnahmefall. Dieser Ausnahmefall wurde erst in einem machtverstrickten historischen Prozess zur Regel: Die Ausbreitung der entsprechenden Praxis nahm ihren Ausgang in Bengalen, wo Witwen das Eigentum ihres Mannes erbten - wenn sie nicht den rituellen Freitod wählten. Dass diese Praxis also vor dem Hintergrund sozioökonomischer Auseinandersetzungen zwischen Gruppen mit bestimmten materiellen Interessen stattfand, nahmen die ihrem Topos verhafteten Briten gar nicht wahr. (96) Das Tüpfelchen auf dem I ist jedoch, dass die Briten aufgrund eines folgenreichen Missverständnisses die Praxis der "Verbrennung der Sati" (guten Ehefrau) kurzerhand als "Sati" bezeichneten, also das Gute-Ehefrau-Sein diskursiv mit der Selbstverbrennung auf dem Scheiterhaufen des Ehemannes identifizierten - und so die braunen Frauen, die sie retten wollten, unter zusätzlichen soziokulturellen Druck setzten, eine Praxis auszuüben, die sie gleichzeitig kriminalisierten. (101) Spivaks Schlussfolgerung ist klar: "The Subaltern cannot speak" (ebd.: 104). Die Subjektkonstitution der Subalternen wird bestimmt durch die widerstreitenden Diskurse von aufklärerischem Imperialismus und traditionellem Patriarchat, und jedes Aufbegehren gegen den einen wird als Zustimmung zum anderen gewertet und vereinnahmt. Jede ihrer Äußerungen zur Witwenverbrennung ist im einen oder anderen Diskurs befangen, und in beiden wird ihre untergeordnete Position konstruiert. Eine eigene Stimme ist ihnen verwehrt. Sie selbst sprechen zu lassen und ihrer vermeintlich authentischen "eigenen Meinung" zuzuhören ist ebenso problematisch wie an ihrer Stelle zu sprechen, weshalb Spivak postuliert: "Im Streben, zum historisch zum Schweigen gebrachten Subjekt der subalternen Frau sprechen zu lernen (eher als ihr zuzuhören oder für sie zu sprechen), 'verlernt' der postkoloniale Intellektuelle systematisch die weiblichen Privilegien" (ebd.: 91). Dieses Erfahren der eigenen Privilegien als negativ und ihr "Verlernen" stellt Spivak als zentrale Vorbedingung für einen sinnvollen Dialog von Intellektuellen und Subalternen dar. Indirekt wendet sie sich daher gegen die Wertschätzung, die in den Subaltern Studies oft der "Stimme der Unterdrückten" beigemessen wird, wenn auch sicher nicht gegen ihr Anliegen, der kolonialen Geschichtsschreibung eine andere Perspektive entgegenzusetzen.

Koloniale Wissensproduktion und postkoloniale Ansätze

Spivaks provokante These und ihr schlüssiges Beispiel sind allerdings sicher nicht das letzte Wort in der Debatte. Ihre in ihrer Radikalität an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gemahnende Geste schließt die Möglichkeit einer gegenhegemonialen Subjektivität, und somit jegliche emanzipatorische Handlungsfähigkeit subalterner Gruppen, vollständig aus (vgl. Habermann & Patel 2001; Steyerl 2005: 28). Dennoch bleibt ihre Kritik an der Vorstellung einer "authentischen Stimme der Unterdrückten" ebenso berechtigt wie Foucaults prinzipielles Misstrauen gegenüber jenen, die vorgeben, in ihrem Namen zu sprechen. Dass das Aufwerfen der Frage nach der Legitimität einer bestimmten Art des Sprechens über die Dritte Welt dringend geboten ist, daran kann spätestens seit den Arbeiten von Edward Said (1978, 1994) und Stuart Hall (1992) kein Zweifel mehr bestehen. Generell ist das Anliegen der postkolonialen TheoretikerInnen recht treffend umrissen als "Kritik... des Prozesses der Wissensproduktion über das Andere" (Williams & Chrisman 1994: 8). Die Kritik an der Wissensproduktion des kolonialen Diskurses (verstanden als Regelwerk zur Wissensproduktion) bezieht sich dabei auf die Stereotypisierung, auf die Konstruktion einer Folie des "Anderen", die der eigenen Identitätsformierung dient, und auf die herrschaftsförmigen Elemente. Besonders Hall zeichnet deutlich nach, dass die Identität der aufgeklärten, westlichen, säkularisierten, industriekapitalistischen, modernen Welt sich als solche erst im Prozess der Abgrenzung gegenüber dem als unzivilisiert und barbarisch charakterisierten "Anderen" konstituierte, in einem stereotypisierenden Diskurs über "den Westen und den Rest", der gleichzeitig als Legitimation dafür diente, den Rest der Welt unter koloniale Herrschaft zu stellen und zu "zivilisieren". Bestimmte diskursive Konstruktionen in dieser Art von Wissensproduktion ermöglichten dabei auch dann die Selbstzuschreibung als "zivilisiert", wenn man sich in den Kolonien der Folter und ähnlicher, eher mit dem Etikett "unzivilisiert" gekennzeichneter Praktiken bediente. Im Zusammenhang mit solchen Praktiken der US-Regierung auf den Philippinen urteilte der Regionalexperte Foreman 1898: "Die Filipinos, wie auch viele andere nichteuropäische Rassen, betrachten einen Akt der Großzügigkeit oder ein freiwilliges Zugeständnis an die Gerechtigkeit als ein Zeichen von Schwäche. Daher wird der (in der Kolonialpolitik) erfahrene Europäer oftmals genötigt, härter vorzugehen, als es seine eigene Natur ihm vorschreibt" (zit. nach Doty 1996: 40). Etwaige Brutalität und Ungerechtigkeit kolonialer Praktiken ist daher der verdorbenen Mentalität der Eingeborenen zuzuschreiben und läuft dem eher sanftmütigen Naturell des Kolonialherrn eigentlich zuwider: Das hier produzierte Wissen ermöglicht den "Zivilisierten" die Anwendung "barbarischer" Praktiken und untermauert dabei gleichzeitig die Konstruktion der Täteridentität als zivilisiert und der Opfer als unzivilisiert. Doch auch heute, lange nachdem der koloniale in den Entwicklungsdiskurs übergegangen ist (vgl. Ziai 2004), werden gegenüber den Sozialwissenschaften Vorwürfe einer (neo-)kolonialen Wissensproduktion erhoben. Diese beziehen sich zum einen auf die Art und Weise der Wissensproduktion, zum anderen auf das produzierte Wissen selbst. Die Vorwürfe der ersten Gruppe lauten etwa wie folgt: Die Sozialwissenschaften seien so organisiert, dass ihr Gegenstandsbereich die "normale" "moderne" Gesellschaft sei, während der abweichende Fall einer peripheren Gesellschaft (die ja drei Viertel der Welt ausmachen), einigen spezialisierten Subdisziplinen überlassen wird (Entwicklungssoziologie und -politik, Anthropologie, usw.), den "Wissenschaften vom Anderen" (vgl. z.B. Ferguson 1997). Darüber hinaus finde der weit überwiegende Teil der Wissensproduktion über die Dritte Welt in Universitäten und Institutionen der Ersten Welt oder durch in diesen geschulte WissenschaftlerInnen statt, weswegen immer noch eine Art "akademischer Imperialismus" zu konstatieren sei (vgl. Hettne 1995: 67ff). Schließlich illustriert Sarah White (2002) mit einem Gedankenspiel, dass auch heute in der universitären Wissensproduktion an die koloniale Ära erinnernde Strukturen zu finden sind. Man stelle sich vor, eine 22-jährige frischgebackene Soziologin aus Bengalen würde nach einem 18-monatigen Forschungsaufenthalt in London ihre Doktorarbeit über die sozioökonomischen Verhältnisse in Großbritannien schreiben, wäre aufgrund dieser Arbeit als Expertin für die britische Gesellschaft anerkannt und würde anschließend in Indien europäische (u.a. britische) Studierende über die dortigen Verhältnisse unterrichten. So lachhaft die Vorstellung erscheint: Im umgekehrten Fall findet niemand etwas dabei. Dass ExpertInnen aus dem Norden Menschen aus dem Süden über die in ihren Ländern vorhandenen gesellschaftlichen Probleme und die Wege ihrer Überwindung aufklären, ist auch in den heutigen Sozialwissenschaften die Regel, nicht die Ausnahme. Damit ist allerdings noch weder etwas über die Stichhaltigkeit der Vorwürfe noch über das produzierte Wissen selbst gesagt. Eine der fundamentalsten Kritiken aus der Dritten Welt an diesem Wissen ist im angelsächsischen Raum als Post-Development-Schule bekannt geworden.

Post-Development: Fundamentalkritik mit Fallstricken

Auf den ersten Blick könnten die Post-Development-Ansätze als postkoloniale Kritik der Entwicklungstheorie angesehen werden. Sie vertreten im Hinblick auf die Wissensproduktion über den Süden folgende Thesen: Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sei in diesem Bereich der Diskurs der "Entwicklung" dominant geworden. Dieser Diskurs sei erstens eurozentrisch, weil er die westliche Lebensweise als Norm, andere jedoch als defizitäre Abweichungen in Form rückständiger Vorstufen sehe: Das Fremde wird mit dem als universell überhöhten eigenen Maßstab gemessen und kulturelle Unterschiede werden "verzeitlicht" - Henning Melber (1992) spricht hier vom "kolonialen Blick". Zweitens sei er herrschaftslegitimierend, weil er im Namen von "Entwicklung", die mit dem Ideal einer guten Gesellschaft und dem Allgemeinwohl verknüpft wird, die Unterdrückung nichtwestlicher Lebensweisen und Wissensformen rechtfertige. Natürlich erkennen auch die Post-Development-Ansätze, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in der Dritten Welt die angeblich westlichen Vorstellungen einer guten Gesellschaft teilen oder ihnen zumindest nicht ablehnend gegenüberstehen. Allerdings beziehen sie sich oft auf soziale Bewegungen, die unter Berufung auf kulturelle Differenz und Selbstbestimmung zumindest wesentliche Teile der westlichen Wertmaßstäbe ebenso ablehnen wie die Fremdzuschreibung als "unterentwickelt". Des weiteren skizzieren einige von ihnen die Ausbreitung dieser Wertmaßstäbe als kulturimperialistische Manipulation oder gar Invasion. Eines der extremsten Beispiele liefert Majid Rahnema (1997), der diese Ausbreitung als "soziokulturelle Variante von AIDS" charakterisiert. Die Ideologie der Entwicklung habe durch das westliche Schulsystem, die Erzeugung von Konsumbedürfnissen und die Entwertung traditionellen Wissens die meisten Menschen der Dritten Welt in homines oeconomici verwandelt und so zur Auflösung des soziokulturellen "Immunsystems" traditioneller Gemeinschaften geführt. Auch hier findet sich wie bei Spivak das Motiv, dass der "freie Wille" der Subalternen durch die hochtrabenden Versprechungen nationaler Entwicklungspläne, Werbekampagnen und medienvermittelte Bilder des "american way of life" geprägt und alles andere als "authentisch" ist, und der kritische Verweis auf die subjektkonstituierende Funktion der entsprechenden (stets machtverstrickten) Diskurse ist berechtigt. Aber wenn in einer Biologisierung des Sozialen über "gesunde" und "kranke" Gesellschaftszustände gesprochen wird, dann entspricht dies genau dem Grundmuster des Entwicklungsdiskurses, eine universelle Norm festzulegen, auf deren Grundlage als defizitär kategorisierten sozialen Gemeinschaften mit der Autorität des wissenden Experten die entsprechende Therapie verordnet werden kann. Ganz davon abgesehen, ob die von Rahnema verschriebene Rückkehr zur Subsistenzgemeinschaft wünschenswert oder praktikabel ist: auch mit dem hier produzierten Wissen werden potenziell Herrschaftsverhältnisse legitimiert.(2) Auf diese Art und Weise argumentiert jedoch nur ein Teil der Post-Development-Ansätze, und zwar jener, der als neo-populistisch bezeichnet werden kann. Andere, die sogenannten skeptischen Post-Development-Ansätze, zeichnen sich u.a. durch den Verzicht auf die Formulierung eines universell gültigen Entwurfs einer guten Gesellschaft aus, in der Überzeugung, dass angesichts weitreichender kultureller Differenzen eine solche Vorgehensweise die Unterordnung zahlreicher anderer Entwürfe bedinge - und dass es eine fragwürdige Praxis wäre, den Marginalisierten in der Dritten Welt Konsumverzicht und die Rückbesinnung auf traditionelle kulturelle Werte zu predigen.

Fazit

Es wird deutlich, dass die Praxis, aus der Position des Nordens über die Dritte Welt zu sprechen - immer verbunden mit dem Anspruch, sie darzustellen (semiotische Repräsentation), wenn nicht gar, in ihrem Namen zu sprechen (politische Repräsentation) - stets vor dem Hintergrund einer machtverstrickten Wissensproduktion zu betrachten und auf ihre Kontinuitäten zur kolonialen Ära zu befragen ist. Ebenso deutlich wird allerdings, dass auch kritische Gegendiskurse aus der Dritten Welt keinesfalls als authentische oder emanzipatorische Äußerungen der Subalternen zu verklären sind, sondern gleichermaßen auf ihre Machtmechanismen untersucht werden müssen. Wer wie über die Dritte Welt spricht, ist eine eminent politische Frage.

Anmerkungen

(1) Natürlich wäre es so simplifizierend wie essentialistisch, würde Spivak die subalternen Gruppen über ihre Stellung im Produktionsprozess definieren. Dort, wo sie einer Definition am nächsten kommt, beschreibt sie die Identität der Subalternen (poststrukturalistisch) als durch Differenz konstituiert (Spivak 1994: 80), d.h. als von der jeweiligen nationalen Subjektivität ausgeschlossen. Dabei ist allerdings - und hier sollten wir Spivak weiterdenken - von einer Mehrdimensionalität der Ausschließungsverhältnisse auszugehen (Rasse, Klasse, Geschlechterverhältnis, sexuelle Orientierung, Alter, akademische Bildung, Behinderung usw.), weshalb die Subalternen streng genommen nicht als eine fest umrissene Gruppe gelten können. Sie sind die Differenz zwischen einer demographischen Gruppe und ihrer Subjektivität, die von dieser Gruppenidentität in der jeweiligen Dimension Ausgeschlossenen. Vgl. auch Steyerl 2005. (2) Die Beispiele, bei denen unter Berufung auf die Bewahrung der traditionellen eigenen Kultur eine menschenverachtende Politik gerechtfertigt wurde, sind zahlreich. Allerdings wäre es fatal, die Kulturdefinition der entsprechenden Despoten zu übernehmen, sowohl inhaltlich als auch formal (Kultur als statisches, abgeschlossenes System). Ebenso fatal wäre es zu glauben, Wertmaßstäbe für menschliches Handeln seien nur aus der westlichen Kultur (universelle Menschenrechte) abzuleiten.

Literatur

Doty, Roxanne Lynn (1996): Imperial Encounters. The Politics of Representation in North-South Relations. Minneapolis. Drekonja-Kornat, Gerhard (2004): "Wer darf wie über die Dritte Welt schreiben?" In: Leviathan, Nr. 4/2004, S. 431-439. Engel, Sven (2001): Vom Elend der Postmoderne in der Dritten Welt. Eine Kritik des Post-Development Ansatzes. Stuttgart. Ferguson, James (1997): "Anthropology and its Evil Twin: 'Development' in the Constitution of a Discipline". In: Cooper, Frederick; Packard, Randall (Hg.): International Development and the Social Sciences. Berkeley, S. 150-175. Habermann, Friederike; Patel, Rajeev (2001): "Wer spricht denn da? Peoples Global Action und das Problem der Repräsentation". In: iz3w (Hg.): Gegenverkehr. Soziale Bewegungen im globalen Kapitalismus. iz3w-Sonderheft, S. 40-42. Hall, Stuart (1994): "Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht". In: ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hamburg, S. 137-179. Hettne, Björn (1995): Development Theory and the Three Worlds. 2. Aufl., Harlow. Melber, Henning (1992): Der Weißheit letzter Schluß. Rassismus und kolonialer Blick. Frankfurt a.M. Rahnema, Majid (1997): "Development and the People's Immune System: The Story of another Variety of AIDS". In: ders. (Hg.): The Post-Development Reader, S. 111-129. Said, Edward (1978): Orientalism. New York. Said, Edward (1994): Kultur und Imperialismus. Frankfurt a.M. Spivak, Gayatri Chakravorty (1994): "Can the Subaltern Speak?". In: Williams & Chrisman 1994, S. 66-111 (zuerst in Nelson, C.; Grossberg, L. (Hg.) [1988]: Marxism and the Interpretation of Culture. Basingstoke, S. 271-313). Steyerl, Hito (2005): "Das Schweigen der Ausgeschlossenen. Ist 'Subalternität' eine postkoloniale Alternative zum Klassenbegriff?". In: iz3w, Nr. 282, S. 24-28. White, Sarah (2002): "Thinking race, thinking development" In: Third World Quarterly, Nr. 23(3), S. 407-420. Williams, Patrick; Chrisman, Laura (Hg.) (1994): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader. New York. Ziai, Aram (2004): "Imperiale Repräsentationen. Vom kolonialen zum Entwicklungsdiskurs". In: iz3w, Nr. 276, S. 15-18. Anschrift des Autors Aram Ziai aram.z@gmx.net

Aus PERIPHERIE 100 "100 PERIPHERIEN - Die Welt von den Rändern her denken", Münster 2005, S. 514-522

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