Barbarisierung der Anderen - Barbarisierung des Wir

in (15.03.2006)

Erfolgt ein Zusammenwachsen der Völker auf Grundlage geltender zivilisatorischer Standards oder führt die Entwicklung in jene auch uns entmenschlichende Barbarei, die den "Anderen" zugeschrieben wir

1. Vorbemerkung: Wir und die Anderen
Die Herstellung von Identität bedarf der Abgrenzung des "Wir" von den "Anderen". Fremdheit speist sich daher aus der Entgegensetzung zum Eigenen, wobei dem Selbst ganz selbstverständlich positive Attribute zugewiesen werden, dem Fremden dagegen negative.1 So benötigt das "Wir" die "Anderen" als Projektionsfläche für die eigene Identitätsstiftung. Und in diesem wechselseitigen Prozess sagt meist die Ausmalung des "Anderen", des "Fremde" mehr über die Befindlichkeit des "Wir" aus als über diesen "Anderen", von dem es sich abzugrenzen versucht.

Zugleich werden die den Kollektiven zugehörigen Individuen in ihren grundlegenden Eigenschaften definiert, in essentiellen Charakteristika gleichgesetzt. Dieser Mechanismus führt dazu, dass nicht nur die Trennlinien zwischen den Kollektiven klar gezogen werden können, sondern auch dass den jeweiligen Mitgliedern der Kollektive - eben den Völkern oder neuerdings auch den Kulturen - gemeinsame Eigenschaften und ihr Handeln und ihre Denkweise determinierende Verhaltensweisen ebenso wie fundamentale wechselseitige Loyalitäten unterstellt werden können: Eine solcherart gewissermaßen ontologisch vorgegebene Identität erscheint dann - von innen wie von außen - als feste und berechenbare Größe.

Diese Dichotomisierung, die schon immer die Konstruktion kollektiver Identitäten begleitete, hat mit der Entstehung des bürgerlichen Nationalstaats eine besondere Qualität erreicht. Im Gegensatz zum Feudalismus und auch zum Absolutismus bekennt sich das Individuum, der Bürger/die Bürgerin, im bürgerlich-demokratischen Staat freiwillig zu einem bis dahin nicht existenten Kollektiv, der Nation, jenem abstrakten und zugleich wirkungsmächtigen Konstrukt, 2 das gerade mal gut zweihundert Jahre alt ist. Die Nation und der sie tragende Nationalismus dienen zugleich der Herstellung und der Sicherung kollektiver Identitäten. Und immer kleiden sich kollektive Identitäten in moralisierende Gewänder, definieren "gut" und "böse", "wert" und "unwert".

Die mit dem Aufstieg des Bürgertums verbundene Entstehung der Nation wurde begleitet vom Sieg der modernen Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaft über Obskurantismus und Theologie, die als Herrschaftsinstrument des Feudalismus galten. Nirgendwo wird das deutlicher als etwa in den Schriften Auguste Comtes und Henri de Saint-Simons, die die junge Disziplin der Soziologie als Naturwissenschaft verstanden wissen und sie, so zumindest bei Saint-Simon, zugleich zur Herrschaftswissenschaft für eine wissenschaftlich legitimierte Expertokratie machen wollten. Wie aber kann man die Nationen unterscheiden, identifizieren, klassifizieren, und dies möglichst noch mit wissenschaftlichem Anspruch? Hier bot sich die Biologie an, eine Disziplin, die auf naturwissenschaftlich exakte Methoden verweisen konnte und die Rassenlehre entwickelte.3 Ganz in diesem Sinne argumentierte schon der Humanist und große Aufklärer des 18. Jahrhunderts, Voltaire: "Die Rasse der Neger ist eine von der unsrigen völlig verschiedene Menschenart, wie die der Spaniels sich von der der Windhunde unterscheidet."4

Offen oder unausgesprochen transportiert die Debatte über das "Wir und die Anderen" immer auch die Legitimation von Herrschaft. Dies gilt in besonderer Weise für den Imperialismus: Die militärische, ökonomische und technologische Überlegenheit des Okzidents bedurfte der Legitimation als zivilisatorische Mission. Die behauptete Minderwertigkeit der Schwarzen, der Indios, der Asiaten und Orientalen wurden zum dichotomisierenden Erklärungsmuster für die Überlegenheit des Weißen Mannes, der damit zugleich seine Berufung zur Dominanz der minderwertigeren und zivilisatorisch weniger leistungsfähigen "Menschenarten" rechtfertigte. Rassenlehre und Herrschaftsanspruch gingen so eine geradezu perfekte Symbiose ein,5 die bis heute selbst bei sich kritisch verstehenden Sozialwissenschaftlern fortlebt, wenn Autoren wie Reimer Gronemeyer und Claus Leggewie angesichts der Konflikthaftigkeit und des Elends in Afrika den uralten Topos von der in moralische Verantwortung gekleideten Überlegenheit des "zivilisierten" Westens bemühen: "Alle beklagen wieder des weißen Mannes Last. Aber Jammern hilft nicht: Wir sind zur Dominanz verurteilt."6

2. Das neue Feindbild nach dem Ende der Bipolarität
In diesen Rahmen fügt sich trefflich der seit dem Ende der Bipolarität, mit dem "dem Westen" der Feind und das Feindbild zugleich abhanden gekommen sind,7 der (re-)aktualisierte Diskurs über den Orient oder "den Islam". Dieser Diskurs wird vielleicht gerade deshalb so vehement geführt, weil hier das "Wir" von einem "Anderen" abgegrenzt werden muss, dessen zivilisatorische Leistungen vor nicht allzu langer Zeit dem Westen weit überlegen waren, ja weil gerade dieser "Andere" unserem "Wir" historisch, religiös und kulturell besonders nahe steht.8 Am Anfang der Argumentation stand noch der biologistisch-rassistische Topos, wie er vom Ahnvater des Orientalismus, Ernest Renan, 1883 in seiner "Vorlesung über die semitischen Völker" initiiert wurde, der den Orientalen die Unfähigkeit zu wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen bescheinigte wegen "(...) der schrecklichen Schlichtheit des semitischen Geistes, die den menschlichen Verstand jeder subtilen Vorstellung, jedem feinsinnigen Gefühl, jedem rationalen Forschen unzugänglich macht, um ihm die immer gleiche Tautologie ›Gott ist Gott‹ entgegenzuhalten".9

Kein geringerer als Max Weber hat dieses Bild, kulturologisch gewendet, für die westliche Soziologie - und für das westliche Selbstverständnis - ausgemalt: Der Orient, gekennzeichnet durch Stagnation, Despotie, Fatalismus und Mangel an Rationalität konnte weder den Kapitalismus hervorbringen noch die Demokratie entwickeln.10 Die alten Topoi des biologischen Rassismus, der durch die Nazis gründlich desavouiert wurde, stehen in kulturologischem Gewande wieder auf: Ohne Untermenschen kann es keine Herrenmenschen geben. Aziz el Azmeh, Islamwissenschaftler an der Universität Exeter, sieht in der aktuellen medialen Darstellung des Orients und des Islam eine Kontinuität, die von den Schriften der Orientalisten des 19. Jahrhunderts geradlinig bis zu den zeitgenössischen Fernsehkommentatoren reicht: Der Islam erscheint als Anomalie, seine Charakteristika sind Despotismus, Un-Vernunft, Glauben, Stagnation, Mittelaltertum, und "Niedergang wird so nicht zu einem Tatbestand historischer Prozesse, sondern ein vorhersehbares Ereignis der metaphysischen Ordnung."11

Seine politische Aktualisierung erfuhr das alt-neue Feindbild Islam durch den 1993 in Foreign Affairs erschienen Aufsatz von Samuel P. Huntington The Clash of Civilizations? "Kultur" wird hier zum "Trenn-Begriff für Eigenes und Fremdes, Â… Konstrukt der Ein- und Ausschließung, ... Signal für unüberwindbare Grenzen, ... Abwehr- Terminus für bedrohlich Fremdes."12Warum aber sind Kulturen jene neuen, ultimativen und unüberwindbaren Grenzen, die geradezu ontologisch festgelegt zu sein scheinen? Ohne nähere Begründung setzt Huntington seine Prämisse: "Unterschiede zwischen Zivilisationen sind nicht nur real; sie sind grundlegend. ... Sie sind viel fundamentaler als die Unterschiede zwischen politischen Ideologien und politischen Regimen. Unterschiede meinen nicht notwendigerweise Konflikt, und Konflikt meint nicht notwendigerweise Gewalt. Aber, über die Jahrhunderte hinweg haben die Konflikte zwischen den Kulturen die längsten und gewalttätigsten Konflikte erzeugt."13

In seinem zweiten diesem Thema gewidmeten Aufsatz The West Unique, not Universal, der den Herrschaftsanspruch "des Westens" kulturologisch abzusichern versucht, vertritt Huntington die These, dass die westliche Kultur einzigartig ist, weil nur sie das Erbe der griechischen Philosophie rezipiert habe, weil sie geprägt sei vom Christentum, weil die europäische Sprachenvielfalt ein Unikat darstelle gegenüber den übrigen Kulturen, weil es nur dem Westen gelungen sei, geistliche und weltliche Autorität zu trennen, weil nur im Westen Rechtsstaatlichkeit herrsche, weil es nur dort sozialen Pluralismus und Zivilgesellschaft, repräsentativ gewählte Körperschaften und Individualismus gäbe.14 Demgegenüber gibt es im Islam nur den Koran und die shariÂ’a 15 - Renan lässt grüßen! Somit liegt der Schluss auf der Hand: All diese Eigenarten "machen die westliche Kultur einzigartig, und die westliche Kultur ist wertvoll, nicht weil sie universell ist, sondern weil sie einzigartig ist."16

Apodiktisch wird festgestellt, dass es eine gefährliche Illusion "des Westens" sei zu glauben, dass seine universellen Werte wie individuelle Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, rationales Denken und zivilgesellschaftliche Formen der Konfliktlösung auf andere Kulturen übertragbar wären. Daher muss "der Westen" aufhören, seine kulturellen Werte exportieren zu wollen, muss aufhören, an deren allgemeine und weltweite Generalisierbarkeit zu glauben. Anderen Kulturen eignen diese Werte nicht. Sie waren und sind unfähig, diese zu entwickeln oder zu adaptieren. Hierauf basiert die geradezu schicksalhafte Distanz zwischen "dem Westen" und "dem Rest".17 Dies ist letztlich nichts Anderes als kulturologisch verbrämter Rassismus. Und es geht darum, nicht nur die vielerorts geschmähten "Fundamentalisten" zum Feindbild zu erheben, sondern, wie Büttner treffend feststellt, die Angehörigen der nicht-westlichen Kulturen schlechthin als "...den Herausforderungen der Moderne psychisch - und wohl auch intellektuell - nicht gewachsen" darzustellen.18

3. Der Krieg gegen den Terrorismus als gegenzivilisatorisches Projekt
Was hier kurz angerissen wurde, könnte durch eine schier unendliche Zahl einschlägiger Belege aus dem aktuellen politischen Diskurs weiter unterfüttert werden. Eine entscheidende Verschärfung erfuhr der seit Ende der Bipolarität aktualisierte Diskurs über "den Islam" in der Folge der Anschläge des 11. September 2001 mit den Begründungen für den "Krieg gegen den Terrorismus", vor allem aber durch die Art der Kriegführung gegen Afghanistan und den Irak und dem diese Kriegführung begleitenden Abbau von zivilisatorischen Errungenschaften. Es lohnt sich, an dieser Stelle, den Kontrast deutlich zu machen, der besteht zwischen der Ausmalung dieses neualten Feindbildes und den zivilisatorischen Errungenschaften, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Normen festgeschrieben wurden. Exemplarisch sei hier nur verwiesen auf die Erklärung der universellen Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, die weltweit rechtsverbindlicher Standard geworden ist: 19 "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren " (Art. 1), jeder Mensch hat "das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person" (Art. 3), und: "Weiter darf keine Unterscheidung gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört ..." (Art. 2, Abs. 2).20 Der Widerspruch zwischen diesen allgemeinen und weltweit bindenden Prinzipien und der asymmetrischen Wirklichkeit in der Weltgesellschaft könnte krasser nicht sein.

Angesichts der durch die Globalisierung verursachten Verunsicherungen und - berechtigten - Ängste scheint Nationalismus, aus welchen Versatzstücken er auch immer bestehen mag, am Ende des 20. Jahrhunderts wieder zum zentralen Referenzsystem zu werden. Sein Charakteristikum ist, dass er "im wesentlichen negativ" ist, auf "ethnische Zugehörigkeit, sprachliche Unterschiede, zum Teil mit Religion verbunden" pocht.21 Zu Recht kann diese Spätform des Nationalismus in der Tat fundamentalistisch genannt werden, stammen doch die fundamentals, auf die er verweist, "stets aus einer früheren, angeblich ursprünglich und reinen Â… Periode".22 Nationalismus, in dessen Namen bereits die fürchterlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte vollbracht wurden, muss daher verstanden werden als nicht nur negativ sondern als profund reaktionäres Identifikationskonzept. Damit der Nationalismus seine Wirkungsmächtigkeit entfalten kann, bedarf es des äußeren Feindes, der zur lebensbedrohenden Gefahr für das "Wir" hochstilisiert wird. Statt die Komplexität der Globalisierung rational zu erklären und Gegenstrategien für ihre pauschal als "Modernisierungsverlierer" abqualifizierten Opfer zu entwickeln, wird ein äußerer Feind ethnischer oder kultureller Natur konstruiert. Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist grotesk und ahistorisch zugleich, wenn der Internationalisierung des Kapitals die Ethnisierung der Gesellschaft als Gegenstrategie entgegengesetzt wird. Dies geschieht auf der so genannten nationalen Ebene in gleicher Weise wie auf derjenigen, die die "Kulturen" bemüht.

Genau dies gelang mit der Erfindung des "Kampfes der Kulturen", in dem "der Islam" stellvertretend für die Bedrohung durch "die Anderen " aus der vormaligen Dritten Welt zu stehen scheint.23 "Dem Westen", der mit 12 Prozent der Weltbevölkerung über 80 Prozent der globalen Ressourcen verbraucht, steht "der Rest" der Menschen auf dem Planeten unversöhnlich gegenüber. Genau dies dürfte der Grund sein, warum die großartigen Errungenschaften des Westens, Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit für diesen Rest nicht gelten dürfen. Damit dies funktionieren kann, muss aber dieser Rest entmenschlicht werden.24 Es genügt, ein wenig die einschlägige Metaphorik zu betrachten, die sich der Metaphorik der Moral und der Naturkatastrophen bedient, um "Gefahren" zu pauschalisieren und die Menschen zu anonymen Partikeln dieser Gefahren zu machen: Da kämpfen "wir" gegen "das Böse", gegen "das Reich des Bösen", gegen "Terroristen",25 gegen "Schurkenstaaten", in denen ja Schurken leben oder zumindest über Demokratieunfähige herrschen müssen. Da bedrohen uns "Migrationsströme" oder "-fluten", die an "unseren Grenzen" "anbranden", Palästinenser werden in der offiziellen israelischen Politik als "zweibeinige Tiere" bezeichnet, und der derzeitige französische Innenminister Sarkozy will die Vorstädte mit dem Hochdruckreiniger vom "Gesindel" oder "Ausschuss" (racaille) säubern.

Angehörige anderer Kulturen oder Religionsgemeinschaften werden pauschal unter Kollektivverdacht gestellt, ihre Rechte und Freiheiten als Bürgerinnen und Bürger beschnitten. Solche Tendenzen finden sich hierzulande in den von Otto Schily eingebrachten und durchgesetzten so genannten Sicherheitsgesetzen,26 im Abbau von rechtsstaatlichen Prinzipien, in der Veränderung der Asylrechtsbestimmungen des Grundgesetzes ebenso wie in der im Gang befindlichen Errichtung von Lagern in den nordafrikanischen Diktaturen und Folterstaaten, die den Zweck verfolgen, dass Menschen gar nicht erst europäischen Boden erreichen können, wo sie die verbliebenen rechtsstaatlichen Elemente in Anspruch nehmen könnten, um ihr Recht auf Menschenwürde einzuklagen.

Schlimmer noch in den USA, wo Verdächtige ohne jedes Rechtsmittel nunmehr lebenslang in Haft gehalten werden können; wo der Begriff des "feindlichen Kämpfers" erfunden wurde, um einer unbekannten, aber großen Zahl ihre Rechte zu verweigern, die ihnen laut gültigen Völkerrechts zustehen; wo Gefangene an Folterstaaten wie Syrien, Jordanien, Ägypten, Algerien oder Marokko überstellt werden, weil deren Foltermethoden effizienter seien; wo unbekannte Gefangene auf Schiffen oder in Gefängnissen anderer Länder festgehalten und misshandelt oder wie Waren von einem (Folter-)Ort zum anderen transportiert werden.

Indem Menschen zu Fanatikern und Terroristen umdefiniert, also der menschlichen Eigenschaften von Humanität und Rationalität und damit ihrer Menschenwürde entkleidet werden, können für sie die zivilisatorischen Werte des Westens und der Humanität auch nicht mehr gelten. Dann sind alle Mittel legitim: Die Kriegführung mit Massenvernichtungsmitteln wie weißem Phosphor,27 mit Bomben, die großflächig den Sauerstoff vernichten und alles Leben in ihrem Wirkungskreis ersticken, mit angereichertem Uran, der neuen Massenvernichtungswaffe,28 und schließlich die Entmenschlichung des "Anderen" durch bestialische Folter und sexuelle Erniedrigung, die speziell auf kulturelle und/oder religiöse Tabus ausgerichtet sind.29

Diese jeder Humanität widersprechenden Akte und der sie begleitende Abbau von Rechtsstaatlichkeit sind nicht nur eine eklatante Verletzung des Völkerrechts, ihre wachsende gesellschaftliche Akzeptanz "zum Schutz gegen den internationalen Terrorismus" führt auch zu einem zunehmenden Abbau von Rechtsnormen im Inneren unserer Gesellschaften, und zu wachsender Gewalt gegenüber jeder Art von "Fremden". Dies ist der dialektische Zusammenhang zwischen der Barbarisierung und Entmenschlichung "der Anderen" und der Barbarisierung des "Wir", die nicht nur die Menschenwürde der "Anderen" verletzt, sondern auf rechtlicher wie auf normativer Ebene auch unsere Gesellschaft entmenschlicht. Die Dämonisierung der "Anderen" wird instrumentalisiert, um die Folgen der neoliberalen Unordnung zu verschleiern sowie soziale und politisch Rechte abzubauen. Und all dies geschieht im Rahmen und nach den formalen Spielregeln der Demokratie. Letztere wird zunehmend reduziert auf Wahlen, Meinungsumfragen und populistische Anpassung an politisch produzierte Stimmungen. Hinter dieser Fassade aber wird das Gerüst demontiert, das Demokratie erst lebensfähig und lebenswürdig macht: Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sowohl auf innerstaatlicher wie auf internationaler Ebene.

4. Plädoyer für die Stärke des Rechts
Die Außerkraftsetzung des Rechts, einer zentralen Errungenschaft der modernen Zivilisation, droht die Menschheit zurückzustürzen in die Anarchie vor-hobbesianischer Zeiten. Mit moralischen Argumenten werden die Folgen der strukturellen Gewaltverhältnisse (Galtung) in der Welt umgedeutet in Metaphern der moralischen Verantwortung für die Aufrechterhaltung eben dieser gewaltförmigen Herrschaftsverhältnisse. Ihr Fundament ist die Negierung des Gleichheitsgrundsatzes und der Gleichberechtigung aller auf der Grundlage ihrer Menschwürde. Nicht Kulturen sind entscheidend, sondern die Gleichheit aller und die Anerkennung ihrer Würde als Menschen. Solche Gleichheit setzt die - gleiche - Teilhabe an der politischen Gestaltung voraus. Genau an diesem Punkt entpuppt sich auch die unsägliche Debatte um die so genannte Leitkultur als nationalistischreaktionäres Konzept, das eben die Teilhabe am politischen leben, der res publica unter Zuhilfenahme kulturalistisch-rassistischer Argumente zu verhindern sucht: Nicht die Zugehörigkeit zu einer "Kultur" ist entscheidend für die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Staat, sondern die Garantie der Ausübung gleicher politischer Rechte und gleicher Rechte in Bezug auf staatliche Leistungen. Voraussetzung hierfür ist die Anerkennung der "Anderen" im republikanisch-säkularen Staat.

In der globalisierten und daher zwangsläufig multikulturellen Welt sind Frieden und Sicherheit im innerstaatlichen wie im internationalen Bereich nur dann zu gewährleisten, wenn - so der keineswegs revolutionäre Stanley Hoffmann - im globalen Haus Gerechtigkeit herrscht und es "akzeptabel (ist) für jene, deren Werte andere Grundlagen haben."30 Der Ausschluss der "Anderen", sei es mittels rassistischer oder kulturologischer Argumente beschädigt aber die Fundamente "unserer" eigenen Ordnung, denn solche wirkt auf unsere Gesellschaft, ihr Wertesystem zurück. Dieter Oberndörfer bringt die Problematik auf den Punkt, wenn er feststellt, "... dass die Menschenrechte, die Aufklärung und die Werte des Christentums universale Geltung beanspruchen. Als unveräußerlicher und ausschließlicher Besitz Europas (und der USA - W. R.) in Beschlag genommen, verlieren sie ihre eigene Legitimationsgrundlage: den Bezug auf die Würde des Menschen, nicht nur auf die der Deutschen oder Europäer."31

Folgerichtig sieht er nur in der Akzeptanz des kulturellen Pluralismus die "essentielle Voraussetzung des Übergangs zur republikanischen Einigung Europas".32

Eine Abschottung des "Westens" vom "Rest", verbunden mit der Negation der Gültigkeit der zivilisatorischen Werte für "die Anderen " ist objektiv obsolet geworden. Das Beschwören ewig-gestriger Kategorien im der Form von "Nation" oder "Kultur" im Zeitalter der Globalisierung ist und bleibt nicht nur reaktionär, es ist kontraproduktiv für ein Welt, die trotz aller Anstrengungen der Verfechter einer "Leitkultur" zusammenwächst. Die Frage dabei bleibt, ob dieses zusammenwachsen friedlich und auf der Grundlage geltender zivilisatorischer Standards erfolgt oder zum Rückfall in globale Anarchie führt. Somit bleibt zu hoffen, dass Hobsbawms Vision der Globalisierung in ihrer radikal formulierten Alternative erkannt wird: "Wenn die Menschheit eine erkennbare Zukunft haben soll, dann kann sie nicht darin bestehen, dass wir die Vergangenheit oder Gegenwart lediglich fortschreiben. Wenn wir versuchen, das dritte Jahrtausend auf dieser Grundlage fortzuschreiben, werden wir scheitern. Und der Preis für dieses Scheitern, die Alternative zu einer umgewandelten Gesellschaft, ist Finsternis."33 - oder eben jene Barbarei, die den "Anderen" zugeschrieben wird, und zugleich uns selbst entmenschlicht.

Werner Ruf - Jg. 1937; Friedensforscher, em. Professor für Internationale und Intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel, Mitarbeit im Gesprächskreis Friedens- und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Eine Straßenkarte für den Frieden?, Heft 157 (November 2003).

Der Artikel basiert auf einem Beitrag, den der Autor für das Syposium "Schöne neue Demokratie" ausgearbeitet hat, das die Rosa- Luxemburg-Stiftung am 25. und 26. November 2005 in Berlin veranstaltet hat.

1 Siehe u. a. Birgit Rommelspacher: Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt/New York, 2002, S. 9-20. Ulrich Beck: Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reflexiven Moderne; in: Max Miller, Hans-Georg Soeffner (Hg.): Modernität und Barbarei, Frankfurt/M. 1996, S. 318- 343. Vgl. auch Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 3. Auflage, Frankfurt/New York 2005, S. 7.

2 Benedict Anderson: Die Erfindung des Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt/Main, 1998.

3 Als erster definierte und klassifizierte Linné vier große Menschenarten: Europaeus albus: ... einfallsreich, erfinderisch ... weiß, sanguinisch ... Er lässt sich durch Gesetze lenken. Americanus rubescus: mit seinem Los zufrieden, liebt die Freiheit ... gebräunt, jähzornig ... Er lässt sich durch die Sitte lenken. Asiaticus luridus: Habsüchtig ... gelblich, melancholisch ... Er lässt sich durch die allgemeine Meinung lenken. Afer niger: verschlagen, faul, nachlässig ... schwarz, phlegmatisch ... Er lässt sich durch die Willkür seiner Herrscher lenken. Zit. n. Léon Poliakow, Gérard Delacampagne: Über den Rassismus, Stuttgart 1979, S. 77.

4 Ebenda.

5 Siehe die schier endlose Zahl der Belege aus den "Wissenschaften" (vor allem der Orientalistik), aber auch aus der Belletristik, die Edward Said zusammengetragen hat: Edward Said: Orientalism, Western Conceptions of the Orient. London 1978.

6 Reimer Gronemeyer, Claus Leggewie: Rituale europäischer Selbstkasteiung; in: Blätter für deutsche und internationale Politik Heft 1/1992, S., 78-85, hier S. 84 f.

7 Reinhard Schulze: Vom Antikommunismus zum Antiislamismus. Der Kuwait-Krieg als Fortschreibung des Ost-West- Konflikts, in: Peripherie Nr. 41/1991, S. 5-12.

8 Es geht hier nicht nur um den verweis darauf, dass in der Dogmatik der einzige wesentliche Unterschied zwischen beiden Religionen die Trinitätslehre ist. Vielmehr geht es um die Jahrhunderte langen intensiven kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Beziehungen, ohne die die Wiederentdeckung der griechischen Philosophie, Renaissance und Aufklärung ebenso wenig möglich gewesen wären wie die Revolutionierung der Seefahrt und der Naturwissenschaften.

9 Ernest Renan: De la part des peuples sémitiques dans lÂ’histoire de la civilisation, in: Oeuvres complètes, Bd. 2, Paris 1948, S. 333. Siehe auch die Debatte über Renan bei Said, a. a. O., S. 149 ff.

10 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1963. Auch Marx folgte diesem "developmentalistischen " Diskurs, wenn er von der "doppelten Mission " Englands in Indien sprach, die in der asiatischen Gesellschaft erst die materiellen Grundlagen für einen westlichen Gesellschaftstyp lege. (Vgl. Said a. a. O., S. 153 ff.).

11 Aziz El Azmeh: Islams and Modernities, London 1993, S. 130 f.

12 Klaus F. Geiger: Vorsicht: Kultur. Stichworte zu kommunizierenden Debatten; in Das Argument Nr. 224/1998, S. 81-90, hier S. 84.

13 Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs, Summer 1993, pp. 22-49, hier p. 25.

14 Samuel P. Huntington: The West Unique, not universal; in: Foreign Affairs, Nov/Dec. 1996, pp. 28-49, hier pp. 30-33.

15 Ebenda, S. 34.

16 Ebenda, S. 35.

17 Unbestreitbar ist, dass die islamische, vor allem aber die arabische Welt in einer tiefen Krisenhaftigkeit steckt. Diese ist aber keineswegs "kultureller" Natur, sondern hat handfeste ökonomische, soziale und nicht zuletzt politische Gründe. Vgl. Werner Ruf: Demokratie in der arabischen Welt - ein Widerspruch in sich selbst? In: Entwicklung und Zusammenarbeit Nr. 9/1998, S. 228-231.

18 Friedemann Büttner: Der fundamentalistische Impuls und die Herausforderung der Moderne; in: Leviathan Heft 4/1996, S. 469-492.

19 Art. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dez. 1948. In diesen unmittelbaren Kontext gehören außerdem die Genfer Konventionen, das Statut des internationalen Strafgerichtshofs u. v. a. mehr.

20 Wichtig zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass - entgegen dem Drängen der Sowjetunion - materielle Menschenrechte in dieser Erklärung nicht festgeschrieben wurden.

21 Hobsbawm a. a. O., S. 194.

22 M. E. Marty: Fundamentalism as a social phenomenon. Bulletin, The American Academy of Arts and Social Sciences, 42,2, 1988, S. 15 19. Zit. n. Hobsbawm a. a. O., S. 198.

23 Nicht zufällig spricht Huntington in seinem Clash of Civilizations von der "islamisch- konfuzianischen Verbindung". Werner Ruf: Politischer Islam - eine neue Befreiungsideologie? in: Österreichische Stiftung für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Der Krieg der Armen? Münster 2005, S. 107-120.

24 Vgl. Wolf D. Hund: Vergesellschaftung durch Entmenschlichung; in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr. 63, Sept. 2005, S.157-169, insbes. S. 163 f.

25 Siehe den vom Generalsekretär der Vereinten Nationen in Auftrag gegebenen Bericht des High Level Panels on Threats, Challenges and Change. vom 2. 12. 2004. Ziff. 164. A/59/ 565 O2-12-04. (http://www.un.org/secureworld/).

26 Jenseits des massiven Abbaus rechtsstaatlicher Regeln enthält der so genannte "Otto-Katalog" auch ausgesprochen rassistische Elemente. So wurden für die Rasterfahndung nach dem 11. September 2001 folgende Kriterien eingeführt: Student, muslimische Herkunft, nach außen keine fundamentalistische Einstellung, legaler Aufenthalt, finanziell unabhängig, nicht vorbestraft.

27 Siehe hierzu den Film des italienischen Fernsehsender RAI http://www.informationclearinghouse.info/article10907.htm

28 Francis Xavier Cunningham: Depleted Uranium Munitions: A New WMD, in: Foreign Service Journal, Vol. 82, May 2005, S. 70-74.

29 Als besonders abartige Formen sind hier zu nennen die aufgrund anthropologischen Wissens eingesetzten Formen der Demütigung etwa durch Schändung von Exemplaren des Koran (Wärter, die auf das Buch urinierten), Betrachten pornografischer Filme unter Zwang, sexuelle Stimulation durch Frauen, Androhung von Vergewaltigung durch Mithäftlinge, Beschmieren mit Menstruationsblut, die Weigerung, ihnen Wasser zum Waschen zur Verfügung zu stellen und sie dann zu verhöhnen, dass sie in diesem Zustand nicht beten können. Siehe Berichte aus Gunatanamo wie z. B. den von Benyam Mohammed: "Benyam Mohammed, he said, a British resident, had been tortured for eighteen months. They stripped him one day and cut his penis repeatedly with razor-blades. They did it every day until he signed anything they put in front of him." (http://www.opendemocracy.net/conflict-terrorism/guantanamo_3044.jsp) abgerufen 25. 11. 05.

30 Stanley Hoffmann: Clash of Globalizations; in: Foreign Affairs, Juli/August 2002 (Aus dem Englischen W. R.). Ähnlich argumentiert Christian Tomuschat: Der selbstverliebte Hegemon; in: Die Internationale Politik Nr. 5/2003 S. 39-47.

31 Dieter Oberndörfer: Turkophobie; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2003, S. 138- 142, hier S. 140.

32 Ders.; Zuwanderung und nationale Identität; in: Michael Berndt, Ingrid El Masry (Hrsg.): Konflikt, Entwicklung, Frieden. Emanzipatorische Perspektiven in einer zerrissenen Welt. Eine Festschrift für Werner Ruf, Kassel 2003, S. 186-195, hier S. 194.

33 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2005, S. 720.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 185 (März 2006), S. 222-228

aus dem Inhalt:

VorSatz; Essay JÖRN SCHÜTRUMPF: Deutschland verändert sich zur Kenntlichkeit. Vier Thesen; Karl Marx, Rosa Luxemburg und die Erben HUBERT LAITKO: "Sozialismus oder Barbarei?" Jürgen Kuczynski und das Problem der historischen Alternativen; WERNER RUF: Barbarisierung der Anderen - Barbarisierung des Wir; ISABEL LOUREIRO: Rosa Luxemburg und die Bewegung der Landlosen in Brasilien; EVELIN WITTICH: Rosa Luxemburg und die Diskussionen der sozialistischen Linken in der Gegenwart; THEODOR BERGMANN: Paul Levi - Tragik eines deutschen Revolutionärs zwischen den Parteien; PAUL LEVI: Opposition, Verantwortung und Regierung; Standorte RICHARD SORG: Neues zur Gewalt im europäischen Entwicklungspfad; Konferenzen & Veranstaltungen VIOLA SCHUBERT-LEHNHARDT: "Frauen als Täterinnen im Nationalsozialismus"; Ankündigung ERNST WURL: Das Krisenjahr 1956. Linke Utopien - die Zukunft denken; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Siegfried Prokop, Siegfried Schwarz (Hrsg.): Zeitgeschichtsforschung in der DDR. Walter Bartel (1904-1992). Ein bedrohtes Leben. Beiträge zum 100. Geburtstag von Walter Bartel (STEFAN BOLLINGER); Simone Barck, Siegfried Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt (MARIO KESSLER); Natalija Mussijenko, Alexander Vatlin: Schule unserer Träume. Die Karl-Liebknecht-Schule in Moskau (1924-1938) (WLADISLAW HEDELER); Annelies Debrunner: Gelebte Wirklichkeit - erträumte Zukunft. Gespräche mit Frauen des Jahrgangs 57 (RUTH FREY); Selbstportrait Che Guevara. Hrsgg. von Victor Casaua (JÜRGEN MEIER); Rudolf Richter: Die Lebensstilgesellschaft (ULRICH BUSCH); Barbara Degen: Leuchtende Irrsterne - das Branitzer Totenbuch. "Euthanasie" in einer katholischen Anstalt (URSULA SCHRÖTER)