"Kein Wiedervereinigungsgeschwafel". Sieghard Bender im Interview

Scott Gissendanner von der Redaktion der Berliner Debatte INITIAL sprach mit dem Ersten Bevollmächtigten der IG-Metall in Chemnitz von 1990 bis 2005

Zur Person: Sieghard Bender, geb. 1954, ist in Oberdingen bei Pforzheim aufgewachsen. Er hat dort eine Ausbildung zum Maschinenschlosser absolviert und wurde in der IG-Metall als Jugendvertreter aktiv. Nach zehn Jahren Mitarbeit in der Esslinger IG-Metall Verwaltungsstelle ging er im Oktober 1990 nach Chemnitz, um die Gewerkschaft dort aufzubauen. Bender wurde der prominenteste Gewerkschaftler der Region und eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt überhaupt. Ein Stück weit hat er jede Phase der Geschichte von Chemnitz nach der Wende mitgestaltet. Diese Region mit ihren riesigen Textil- und Maschinenbaukonglomeraten war von der plötzlichen Globalisierung ab 1990 sehr hart betroffen. Bender war Chef einer Industrie-Gewerkschaft in einer Zeit intensivster Deindustrialisierung, hatte also hauptberuflich mit Werksschließungen, Kündigungen und Zerteilungen zu tun. Es war aber auch eine Zeit der Rettung einzelner Betriebe und des Wiederaufbaus von einigen jetzt durchaus global wettbewerbsfähigen Firmen, wenn auch in kleineren Maßstäben. Deutschlandweit wurde Bender für sein "Konsensmodell" bekannt. Bei Firmenumstrukturierungen sollten alle, die Interesse am Erhalt von Arbeitsplätzen eines Betriebes haben, einen Konsens über eine Sanierung finden - Gesellschafter, Banken, Arbeitsamt, Region und manchmal auch die Belegschaft. Bender war es mit anderen Akteuren wiederholt gelungen, solch komplexe Kooperationsverträge zu Stande zu bringen.

Im Sommer dieses Jahres ging Bender wieder in den Westen zurück, nach Esslingen, wo er seitdem das IG-Metall-Büro leitet. Sieghard Bender wäre jetzt schon 35 Jahre Mitglied der SPD gewesen, hätte ihn die Partei nicht im Sommer 2004 ausgeschlossen. Das Ausschlussverfahren wurde mit Benders Engagement für die unabhängige Liste "Perspektive Chemnitz" bei den Kommunalwahlen 2004 begründet. Die Liste bekam 6 Prozent der Stimmen und zog mit drei Vertretern in den Stadtrat. Bender ist dennoch stolz auf seine Ehrenurkunde der SPD für "25 Jahre Parteimitgliedschaft". Sie wurde damals von einem Vorsitzenden namens Oskar Lafontaine unterzeichnet. Seit 2004 ist Bender Mitglied der WASG-Linkspartei. Schwerpunkt des Interviews am 5. Oktober 2005 in Esslingen war das Verhältnis zwischen Parteien und Gewerkschaften auf regionaler Ebene im Ost-West Vergleich.

Scott Gissendanner: Unter welchen Umständen sind Sie im Jahr der Vereinigung nach Chemnitz gegangen und was war der Grund für Ihre Rückkehr nach Esslingen im Jahr 2005?

Sieghard Bender: Überzeugt wurde ich von den damals Verantwortlichen des IG-Metall-Vorstandes. Der damalige Vorsitzende Franz Steinkühler war der Meinung, in die Zentren müssen erfahrenere Mitarbeiter gehen und ich hatte damals kein schulpflichtiges Kind. Da ging das auch privat einfacher. Die Absicht war schon, drei Wahlperioden, also 12 Jahre mindestens, zu machen. Ein wichtiger Grund für die Rückkehr nach Esslingen war, dass ich selbst nicht mehr überzeugt davon bin, dass der Aufbau Ost gelingt, also kann ich auch keinen Optimismus mehr ausstrahlen. Deshalb war es dann logisch für mich, zurückzugehen. Und Esslingen ist meine alte Heimat.

Das Aus für den Aufbau Ost? Man hört doch, dass sich in der Chemnitzer Region was bewegt.

Ich will kein salbungsvolles Wiedervereinigungsgeschwafel machen, das habe ich nie getan. Ich habe auch die Wiedervereinigung nicht groß gefeiert, sondern eher die Frage gestellt, warum so spät? Man wusste eigentlich schon, der Comecon geht zu Ende. Wir haben in Chemnitz natürlich Erfolge gehabt, und die Chemnitzer Region ist auch in Ostdeutschland wahrscheinlich vom Potential her auch mit die beste, aber die politische Elite, die jetzt an der Entscheidungsebene in Sachsen und auch in Chemnitz sitzt, macht viel zu wenig. Das sind alte Männer, die zum Beispiel auf das Hauptproblem der Abwanderung nicht reagieren. Man müsste Raum schaffen für kreative junge Leute. Das machen die nicht und deshalb war ich dann nicht mehr überzeugt, dass es dauerhaft eine Weiterentwicklung gibt.

Das "Konsensmodell" von Chemnitz klingt nach dem alten "Dortmunder Konsens", Dortmunds Antwort auf die Hoesch Stahlkrise im Jahr 1980. Alte Lösungen des Westens für den Osten?

Nein, das Konsensmodell ist anders. Es werden keine Institutionen daraus geschaffen, sondern das Modell besagt lediglich, dass man im Problemfall schnell regional handelt. Der regionale Bezug hat große Vorteile. Beispielsweise konnten sich die Beiräte auch mal abends schnell treffen. Aber es bedarf auch regionaler Entscheidungsfreiheiten. Es muss auch regional kontrolliert werden, wie effektiv der Mitteleinsatz zur Sanierung eingesetzt wird. Das entsteht nur gegen den Zwang der Zentralisierung, der immer da ist und der in den letzten Jahren stark zugenommen hatte. Der bekannteste Fall, wo wir das Modell angewendet haben, ist die UNION Werkzeugmaschinen GmbH, die seit neun Jahren erfolgreich funktioniert. Nach der Sanierung startete sie mit 13 Beschäftigten und jetzt hat sie 150 Mitarbeiter.

In Ostdeutschland haben also Westdeutsche was Neues gemacht?

In Westdeutschland wäre es sicherlich sehr ungewöhnlich, wenn ein Wirtschaftsprüfer, ein Bankfilialdirektor, ein Arbeitsamtschef, einer von der Wirtschaftsfördergesellschaft und der IG-Metaller sich regelmäßig treffen und überlegen, wie kann man Betriebe erhalten oder ansiedeln. Weil die ideologische Verbohrtheit in Westdeutschland noch größer ist, weil es ja noch in alten Bahnen irgendwie funktioniert. Was man nicht messen kann: Im Rahmen dieser Einzelbetriebssachen hat sich eine regionale Zusammenarbeitskultur entwickelt, die auch bei anderen Problemfeldern und Entwicklungen zum Tragen kam, zum Beispiel bei Ansiedlungen. Viele Akteure haben miteinander gearbeitet: Die Chemnitzer Wirtschaftsförderung, manche Unternehmensberater und einzelne Geschäftsführer - alles Westdeutsche. Erst zum Schluss hatte ich einen gebürtigen Ostdeutschen als Partner, in den Jahren zuvor waren es fast immer nur Westdeutsche. Das war eigentlich ein Glücksfall, sonst hätte es vieles nicht gegeben. Aufgrund des Drucks, der Bedingungen, der Ereignisse haben sich die guten westdeutschen Kräfte dort gefunden.

War diese Kultur nachhaltig?

Es ist eine regionale Kultur geworden, aber wichtige Leute, die diese Kultur mit entwickelt haben, gingen aus Chemnitz weg. Sie gingen aus Frustration über die politische Entwicklung. Ein Milbradt ist halt kein Biedenkopf. Der Oberbürgermeister in Chemnitz hat sich auch nicht um Nachfolger gekümmert. Es gab auch andere Veränderungen in diesem Kreis. Zum Beispiel ging der zuständige Mann vom Arbeitsamt in den Westen zurück. Der von der Wirtschaftsförderung ging weg. Zum Schluss war ich fast nur noch allein.

Ist das typisch für den Osten? Gibt es eine Welle der Auflösung der ersten Aufbau-Ost Netzwerke?

Also, es klingt zwar wie Eigenlob, aber die Leute, die etwas drauf haben und etwas können, die haben ja auch woanders Möglichkeiten. Ja, die Welle gibt‘s. Andere sind familiär fest verwurzelt, die bleiben.

Im Ausland wurde die politische Ökonomie Deutschlands als das "German Model" bezeichnet. Unter anderem geht es um eine funktionale Arbeitsteilung und gegenseitige Hilfestellung von Parteien und Gewerkschaften. Hat die IG-Metall in Chemnitz je eine Partei nötig gehabt?

Ja, ja, klar. Immer mal wieder, wobei dieses Deutsche Modell, das Nachkriegsmodell mit der Arbeitsteilung und mit dem Grundkonsens, dass zu bestimmten Feldern die Gewerkschaften gebraucht werden, der ist aufgekündigt. Das haben wir gespürt durch die Zunahme von Zentralismus. Es wurden zum Beispiel die Freiräume, die man in der regionalen Gestaltung bei den Arbeitsämtern noch hatte, per Gesetz im Rahmen der Hartz-Reformen beseitig. Unter Kohl und Blüm gab es in den 90er Jahren eine Phase der Dezentralisierung, mit der so genannten freien Förderung, die regional entscheidbar war. Das war ein Fenster, das ein paar Jahre offen war, daraus entstand auch das Konsensmodell. Das wurde aber relativ schnell wieder Zug um Zug zentralisiert, am meisten unter Wirtschaftsminister Clement. Eigentlich wurde die Kooperation zwischen Parteien und Gewerkschaften mit der Regierungserklärung von Schröder am 14.3.2003 aufgekündigt. Da hat es begonnen. Diese Agenda 2010-Rede war das Signal an die Bevölkerung: eigentlich brauche ich die Gewerkschaften nicht mehr. Und das hat sich auf regionaler Ebene fortgesetzt - bis hin zu meinem Parteiausschluss.

Wie lief die Zusammenarbeit mit Parteien auf Landes- und Kommunalebenen?

Auf Landesebene habe ich gut mit dem Ministerpräsidenten Biedenkopf zusammen gearbeitet, mit der SPD eher weniger. Mit der PDS habe ich erst in den letzten zwei bis drei Jahren ab und zu mal was gemacht, insbesondere nach dem sie auch in Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern war. Auf Kommunalebene war ich in der SPD ein bisschen aktiv. Auf dieser Ebene können Parteien hilfreich sein, zum Beispiel in der Arbeitslosenbetreuung oder in der Ausstattung von Berufsschulen.

Gewerkschaftler sind heute noch weniger als je zuvor berechenbare SPD-Stammwähler. Das gilt sicherlich auch für die IG-Metall Mitglieder in Chemnitz. Wie ist die Chemnitzer Mitgliedschaft parteipolitisch gebunden - wenn überhaupt?

Es gibt eine breite Streuung. Ein sicherlich großer Block ist nach wie vor mit der SPD verbunden, aber höchstens 25%, schätze ich. Ähnlich groß ist die Orientierung an der Linkspartei. Durch diesen linken Block ging der NDP-Anteil zurück, der aber höher als im Landesdurchschnitt war, vor allen Dingen bei jüngeren. Es gibt aber auch aktive Betriebsräte, die sich in der CDA [der Gewerkschaftsorganisation der Christdemokraten] engagieren. In Chemnitz mehr als im Schnitt in Westdeutschland. Das liegt auch an der Anziehungskraft von Biedenkopf.

Den größten Einzelblock bilden die Nichtwähler. Die Parteibindung ist nicht so ausgeprägt wie in Westdeutschland. Die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, ist fast nur in der PDS-Linkspartei vorhanden, und da auch nur gering. Diese Bereitschaft nimmt auch im Westen tendenziell ab, aber in Ostdeutschland ist sie nie gewachsen. Die schlechte Beteiligung bei den Kommunalwahlen ist für mich ein Zeichen, wie wenig Bereitschaft zum Engagement da ist.

Was war der Grund dafür, daß die IG-Metall in Chemnitz die kommunale Wählerinitiative "Perspektive Chemnitz" und nicht die SPD in den Kommunalwahlen von 2004 unterstützte?

Das war ein Versuch, die überall spürbare Unzufriedenheit aufzugreifen, zu sagen, "engagiert euch doch, versucht was." Und es gab konkrete Anlässe in der Stadt, zum Beispiel die Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen, drohende Privatisierung von Kliniken, von Teilen der Stadtverwaltung und den städtischen Betrieben. Gleichzeitig mangelte das Angebot an qualifizierter Ausbildung für Jugendliche. Das zu bündeln war unser Ziel. Keiner der Etablierten macht das zum Thema und diese Unzufriedenheit schöpfen die Nazis ab. Aus dem Ziel, ehrenamtliches Engagement zu entwickeln, entstand die Wahlinitiative "Perspektive". Die Initiative hatte durchweg unerfahrene Kandidaten und zwei prominente Unterstützer - die Personalratsvorsitzende der Stadt und mich. Im Wahlkampf 2004 wurde ich aus der SPD ausgeschlossen, weil ich die Initiative unterstütze. Die Personalratsvorsitzende wurde durch eine Regionalpressekampagne in ein schlechtes Licht gestellt. Es hieß, sie habe sich selbst als Personalratsvorsitzende bedient. Sie hat zwar alle Prozesse danach gewonnen, aber es hat viele Stimmen gekostet und die Republikaner stark gemacht.

Warum ging es mit SPD oder PDS in Chemnitz nicht?

Nach der Aufbau-Ost-Politik von Clement, Schröder und Stolpe hat sich bei der SPD niemand mehr engagiert. Jetzt geht es nur noch um Autobahnbau. Ich hätte niemanden mehr gefunden, der sich engagiert. Aus der SPD in Chemnitz sind viele Leute ausgetreten. Die Partei ist inzwischen eine bessere FDP. Mit der PDS gab es die Berührungsängste aus alten Zeiten. Und die PDS ist ja an sich eine wertkonservative Partei, die in Chemnitz auch mit allen gemauschelt hat, wie in alten Blockflötenzeiten. Ich denke das wird sich jetzt erst ein bisschen ändern, wenn jüngere kommen.

Wie ist die Wählerinitiative "Perspektive Chemnitz" im Nachhinein zu bewerten?

Bei einer sehr starken PDS und mit unerfahrenen Kandidaten hat die Initiative sechs Prozent geholt. Dieses Ergebnis war eine Begründung innerhalb der PDS für den Zusammenschluss mit der WASG: Wenn man mit der WASG nicht kooperiert, würde man es nicht in den Bundestag schaffen. Das Beispiel Chemnitz haben die intern immer genannt. Die sechs Prozent, die unsere Initiative in Chemnitz geschafft haben, sind die sechs Prozent Linkswähler, die die PDS nicht abschöpfen konnte. Und die Chemnitzer PDS ist wirklich stark. Sie hat bei den Landtagswahlen das Direktmandat geholt. Insofern war die Kommunalwahl in Chemnitz für die spätere bundespolitische Entwicklung ein Beispiel, aber das hatte man nicht beabsichtigt. Beabsichtigt war eigentlich ein stärkeres Engagement zu entwickeln im kommunalpolitischen Bereich und eine Alternative zu bieten für Nichtwähler und Rechtswähler. Die "Perspektive" ist jetzt eine Fraktion und macht ihr Stimmverhalten von Sachthemen abhängig. Es gibt einen regelmäßigen Kreis von 15 bis 20 Leuten, die sich als Verein gebildet haben. Die beraten vor allem über Ausbildungsplatzgeschichten und solche Thematiken. Und eine Auswirkung hatte sie auch bei der Neubesetzung der Sozialbürgermeisterin. Die Kandidatin der PDS, die auf dem Feld ein Profil hatte, kam mit der Unterstützung der Initiative durch.

Hätte man eine Initiative wie "Perspektive Chemnitz" auch im Westen unterstützt? Wie unterscheidet sich die lokale politische Kultur des Umgangs zwischen Gewerkschaft und Partei im Ost-West Vergleich?

Wählerinitiativen wie "Perspektive Chemnitz" gibt es im Westen schon immer. Das ist nichts Neues. Die Etablierten gehen dort anders damit um. Im Westen wäre ich deswegen nie aus der SPD ausgeschlossen worden. Da hätte man sich verständigt und fertig. Man hätte geguckt, dass man danach zusammenarbeitet. Den Ausschluss bedauern die SPDler hier. in den paar Wochen seit ich im Westen bin stelle ich fest, dass das Engagement von Gewerkschaftern in der Kommunalpolitik früher viel ausgeprägter und stärker war. Mit dem traditionellen Verbündeten "SPD" geht es für viele überhaupt nicht mehr. Die SPD ist nicht mehr die, die sie vor zehn oder 20 Jahren war. Trotzdem gibt es immer noch ein ganz anderes Potential als im Osten. Aber die Bereitschaft von Betriebsräten, jetzt mitzumachen, ist ganz gering. Einige engagieren sich in dem neuen Projekt "Linkspartei" engagieren. Die Linkspartei besetzt wirklich ein klassisches Feld, das die SPD nicht mehr besetzt. Die Optionen ändern sich.

Ich werde aus IG-Metall Mitgliedsbeiträgen bezahlt und mache als Metaller das, was ich immer gemacht habe: Ich muss mit gewählten Regierungen und Parlamentariern zur Problemlösung zusammenarbeiten. Ich werde jetzt eine Veranstaltung mit Oettinger machen, im November, und habe auch mit dem Fraktionsvorsitzenden der SPD Kontakt. Wenn die Parteien mich fragen, ob ich Zuarbeit für bestimmte Programme mache, dann mach ich das genauso wie früher, obwohl ich jetzt Mitglied in der Linkspartei bin. Ich wurde nach meinem Ausschluss von der jetzigen sozialdemokratischen Wissenschaftsministerin in Sachsen, Barbara Ludwig, gebeten, ihr ein paar Tipps für die Koalitionsverhandlungen mit der CDU zu geben. Das habe ich natürlich gemacht. Punktuell funktionierte die Zusammenarbeit in Sachsen, und hier in Baden-Württemberg geht es langsam mit einem Teil der SPD Führung wieder leichter. Mit Ute Vogt geht es zum Beispiel nicht, aber dafür mit Wolfgang Drechsler geht es.

Wie steht es zwischen Gewerkschaft und WASG, sowohl persönlich als allgemein?

Ich bin seit der NRW-Kommunalwahl Mitglied der WASG. Die Wahl ging für die SPD grandios verloren, aber die Partei hat auch danach keine Programmdiskussion geführt.Ich war zu diesem Zeitpunkt schon ausgeschlossen, habe aber immer noch auf eine Debatte gehofft. In dieser Hinsicht hatte ich Illusionen.

Für die Linkspartei kandidiere ich nicht. Ich wurde gefragt, ob ich als Spitzenkandidat in Sachsen für die Linkspartei antrete. Wahrscheinlich hätte ich das Direktmandat in Chemnitz geholt. [Die SPD hat das Direktmandat in einem engen Wahlkampf bekommen mit 28,4% der Erststimmen, die Linkspartei bekam 26,6%.] Ich wurde auch gefragt, ob ich bei den Oberbürgermeisterwahlen nächstes Jahr kandidiere. Weil die Basis mit anderen Leuten arbeitet, ist der alte PDS/SED-Touch weg. So etwas geht schnell. Aber die PDS hat vielleicht noch nicht ganz begriffen, dass sie intern einen erheblichen Umwälzungsprozess vor sich hat. In der IG-Metall gab es zuerst eine Abwendung von der SPD, ohne sich neu zu orientieren. Mit dem Projekt Linkspartei gibt es nun eine Alternative, die sich anders darstellt als die PDS. Das ist auf jeden Fall die Meinung an der Basis. Mit der PDS ging es aus Vergangenheitsgründen vorher nicht.

Wolfgang Engler spricht von den Ostdeutschen als Avantgarde, dass die negativen Erfahrungen des Ostens mit der globalisierten Weltwirtschaft leider für den Westen wegweisend sein können. Sind die Erfahrungen in Chemnitz wegweisend für die künftigen Beziehungen zwischen Parteien und Gewerkschaften im Westen?

Ostdeutschland bleibt bedingt ein Sonderfall. Diese Umstrukturierung in einem Teil des Landes war ein einzigartiger historischer Vorgang. Ich habe allerdings eine ganze Menge Know-how aufgrund dieser Umstrukturierung und diesen ganz anderen Verhältnissen erworben. Die Erfahrungen sind nutzbar und müssen auch genutzt werden für die Umstrukturierungsprozesse, die es auch in Westdeutschland geben wird und gibt.

Ein paar Erfahrungen beginnen schon zu greifen. Ich bin erst seit kurzem wieder in Esslingen und mache unter anderem immer noch Antrittsbesuche. Ich frage zum Beispiel die Geschäftsführer, wie viele ihrer Beschäftigten zwischen 2010 und 2015 ihren Betrieb altershalber verlassen werden. Und dann sagen sie, die Frage hat noch nie jemand gestellt. Sie sollen sich mal überlegen und nachzählen, wie viele das sein werden. Dann wird es klar: sie müssen jetzt ausbilden, oder sie können die Produktion zumachen. Wenn ich das sage, werden sie hellhörig. In Kirchheim - 40.000 Einwohner und industriell ganz schlecht entwickelt - gab es mal zwei große Ausbildungszentren, jetzt gibt es keins mehr. Der größte Ausbildungsbetrieb ist ein Autohaus. Die fragen mich dort, was man denn machen kann. Dann nutze ich mein Know-how und schlage vor, was ich aus Chemnitz kenne. Die Erfahrungen von dort wirken sich aus. Auch bei betrieblichen Sanierungen. Ein gutes Beispiel ist ein Maschinenbaubetrieb hier in der Region. Der Betrieb ist im Familienbesitz und die Besitzerin muss ihre Eigenkapitalquote erhöhen. Sie hat aber nichts mehr, und müsste bei einer Bank teures Geld leihen. Da habe ich ihr gesagt: "Sie verlangen von der Belegschaft Opfer, das könnten wir in Kapitalbeteiligungen umwandeln. Die Belegschaft ist mit vier Prozent Zinsen zufrieden, die Bank will acht. So etwas habe ich ein paar Mal in Chemnitz gemacht. Aber die Besitzerin macht noch nicht mit, weil sie ideologisch dagegen ist. Aber wenn die Not größer wird, macht sie vielleicht doch mit.

Die Chemnitzer IG-Metall war besonders aktiv bei der Rekrutierung und Organisation von Jugendlichen. Wie ist diese Arbeit im Bezug auf die politische Sozialisation von Jugendlichen in Chemnitz und den Rekrutierungseffekt für Gewerkschaften zu bewerten?

Ich habe in Chemnitz immer einen Schwerpunkt auf Jugendarbeit und Ausbildung gelegt. Das ist ein Grund, warum Chemnitz die höchste Ausbildungsquote in Ostdeutschland hat. Ich habe immer versucht junge aktive Leute zu finden, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu engagieren und Forderungen zu stellen. Viele sind abgewandert, weil sie keinen Job oder kein Auskommen finden. Einige sind geblieben, und wenn sie Funktionen bekommen, bedeutet dies ein Stück weit Reproduktion der Gewerkschaften.

Die Jugendlichen, die ich damals betreut habe, sind jetzt zwischen 40 und 50 und größtenteils in Funktionen. Ich muss also wieder neu anfangen. Wenn wir es nicht schaffen, interessant zu sein, ein Forum zu bieten, auch Freiräume zu bieten für Jugendliche in der Ausbildung und auch schon vorher, dann haben wir in der Zukunft keine Berechtigung mehr. Das ist eine Reaktion darauf, dass der Berufseintritt in der Regel heute später stattfindet.

Wie hoch ist die Anziehungskraft von rechten Parteien unter Gewerkschaftsmitgliedern in Chemnitz?

Sehr hoch. In Sachsen hat es die NPD geschafft, in vielen Berufsschulzentren die Kulturhoheit zu bekommen. Vor allem in Berufszentren, wo die Jugendlichen nur von Bildungsträgern ausgebildet werden, ist die NPD präsent. Insbesondere also bei Jugendlichen, die keinen Kontakt zu normalen Betriebe haben und nicht wissen, wie man Konflikte löst. Da setzen die an, und zwar erfolgreich. Das ist in Westdeutschland so nicht, aber nimmt in der Tendenz zu. In diesem Sinne ist der Osten eine Art negative Avantgarde.

Die gemeinsamen Sinnzusammenhänge und Deutungskontexte, die einst Gewerkschaften und Parteien verbanden, sind schwächer geworden. An welchen Orientierungspunkten hält sich eine Gewerkschaft in diesem Kontext?

Mit der aktuellen Entwicklung müssen sich die Gewerkschaften neu sortieren. Sie haben eigentlich mehr Optionen. Es gibt zurzeit ein Erstarken der Sozialausschüsse in der CDU. Sie sind ein Gesprächspartner für Gewerkschaften, ohne Zweifel. In der SPD gibt es durch die Wahlkampfsituation wieder eine Schwerpunktsetzung auf soziale Gerechtigkeit. Wie sich das mit dem Personalwechsel von Schröder zu Müntefering gestaltet, ist noch offen. Es gibt auch eine neue Kraft, die Linkspartei, die eine Chance hat, etwas zu entwickeln. Aber es ist noch nicht sicher, ob das was wird. Die Grünen sind kein Partner, das waren sie noch nie. Die wollen mit uns nicht, und bei der FDP sind die Fronten auch klar.

Es gibt mehr Optionen. Aber man muss in der Gewerkschaftsführung aufpassen, dass es nicht wieder zu einer gewohnheitsmäßigen Konzentration auf die SPD kommt. Die Option mit den Sozialausschüssen, die man mühsam in die Gewerkschaften integriert hat, muss man ganz ernsthaft betreiben. Genauso muß die Linkspartei als Gesprächspartner akzeptiert werden.

Das deutet auf eine Änderung von einer gefühlsmäßigen Verbindung zwischen Gewerkschaften und SPD hin zu einer rationalen Entscheidung, welches Parteiprogramm für die Gewerkschaft die meisten Vorteile bringt.

Ja. Wir müssen aber im Gespräch bleiben und unsere eigenen Vorstellungen einbringen. Es kann auch sein, dass es wechselnde Mehrheiten gibt. Die Grundstimmung im Volk und ausgeprägter in den Gewerkschaften ist die, dass man rot-grün abwählen muss, weil der neoliberale Kurs falsch ist und man schwarz-gelb nicht wählen kann, weil das noch schlimmer wäre. Und wenn man sieht, wie die einzelnen Leute abgeschnitten haben, wenn der Seehofer das beste Erststimmenergebnis in der ganzen Republik hat, ein Querdenker in der CDU/CSU, der ja auch auf soziale Gerechtigkeit und auf sozialverträgliche Gestaltung der Globalisierung setzt, dann ist das ja auch ein Signal. Und diese Chance darf die Gewerkschaft nicht verpassen, sondern muss Leute wie Seehofer einladen. Solche selbstbewussten Querdenker müssen wir unterstützen.

Gibt es auf Betriebsebene einen Sinneswandel weg vom alten Arbeitskampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hin zu einem kooperativen Konsens?

Das ist jetzt die letzten Jahre so gewesen, aber ich glaube das wird sich ändern. Die Konfliktbereitschaft wird wieder zunehmen. Sie hatte abgenommen, weil man immer wieder enttäuscht wurde und mit dem Regierungswechsel ‚98 waren viele Hoffnungen verbunden. Danach kam die große Enttäuschung. Und es gibt jetzt manchmal eher eine "Radikalisierung aus Verzweiflung", nicht aus Überlegung. Und es wird Aufgabe der IG-Metall sein, zu sagen, wie wir die Konfliktfähigkeit in den Betrieben wieder erhöhen können.

Gibt es Ost-West Unterschiede auch in der Betriebskultur?

Im Westen ist die Bereitschaft von Geschäftsführern oder Arbeitgeberverbänden, zu akzeptieren, dass die Arbeitnehmer auch mal einen Arbeitskampf führen, größer als im Osten. Die Arbeitgeber im Osten sind zum größten Teil Westdeutsche, aber sie haben dort die Erfahrung gemacht, dass es diktatorisch leichter geht. Beispielsweise gibt es in Chemnitz einen Amerikaner, der hat auf der Betriebsversammlung gesagt, "ihr braucht noch ein paar Jahre einen Stalin und das mach‘ ich euch". Und er macht das heute noch. Er sagt, "ich werde euch die Demokratie mit Zeiten beibringen." Das ist wörtlich. Von wegen Demokratie! Er wurde im letzten Jahr Ehrendoktor der TU-Chemnitz. Was ich in Chemnitz am meisten vermisst habe ist das Multikulturelle. Ich habe erst dort begriffen, wie diese Aufbruchbewegung, wie die Studentenbewegung in alle gesellschaftliche Bereiche gewirkt hat. Das gab es in Ostdeutschland nicht, nur in Ansätzen in Tschechien oder der Tschechoslowakei damals und in Polen. Für die DDR gab es immer das Ventil der Abwanderung. Dieser Aderlass zieht die ehemalige DDR auch heute noch herunter.

Normalerweise sprechen die deutschen Medien nur von Veränderungen des Ostens, zum Beispiel aus Anlass des 15. Jahrestages der Vereinigung. Die Veränderungen und Probleme des Westens werden eher verschwiegen.

Ich habe drei Welten erlebt. Ich habe die Westwelt bis 1990 erlebt, 15 Jahre Ostwelt und jetzt die Westwelt nach 15 Jahren. Diese neue Westwelt ist wirklich neu. Die Leidensfähigkeit der Belegschaften, die Opferbereitschaft hat sich in Westdeutschland sehr erhöht. Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist hier mindestens genauso groß wie in Chemnitz, obwohl die reelle Bedrohung viel geringer ist. Die Angst vor sozialem Abstieg ist größer. Die Hoffnung, dass sich etwas kollektiv besser gestalten lässt, ist wesentlich geringer als vor 15 Jahren. Man kann es vielleicht so auf den Punkt bringen: Mein Vater und seine Generation, die haben sich engagiert, die haben gearbeitet und haben auch gekämpft mit der IG-Metall. Immer auch unter dem Aspekt, "meinen Kindern soll es mal besser gehen". Und es ging uns besser. Wenn ich aber meine Altersgruppe hier im Westen heute nehme, die sagen: "Wir werden noch irgendwie durchkommen, aber die danach...Oh! Oh! Oh!" Also auch hier gibt es eine negative Grundeinstellung, kein Vertrauen auf die eigene Kraft und auf die Möglichkeiten, und es gibt weniger Engagement. Darin steckt viel Frustration und Negativerfahrungen und das ist für mich das Hauptproblem für die IG-Metall. Mit positiven Beispielen und neuen Ideen wieder Selbstbewusstsein zu entwickeln: das ist das Gravierendste. Und das geht eigentlich auch nur mit Personen in der Führung, die nicht ins Schema passen. Die mal auch etwas neues, etwas kreatives versuchen, die Querdenker sind, die Charisma haben. Da daran mangelt es - genau wie andere Institutionen dieser Gesellschaft.

aus: Berliner Debatte INITIAL 16 (2005) 5, S. 46-52