Siebzig kleine Nazilein

Am Sockel der Kirche in Berlin-Pankow steht links neben der Eingangstür die nun Jahr um Jahr mehr verblaßte, inzwischen kaum mehr lesbare Losung eines NS-Propagandisten aus dem Jahre 1945 ...

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"Berlin bleibt deutsch"; jetzt schreiben wir 2006, und wir warten auf Nazis, die gleich hier vorbeidemonstrieren wollen. Sie demonstrieren, hatte es geheißen, gegen den Bau einer Moschee im benachbarten Ortsteil Heinersdorf. Uns nennt man Gegendemonstranten, und wir kommen, so ich es ausmachen kann, aus vielerlei politischen "Zusammenhängen", wie es heute gesprochen wird, und wir gehören dem - zugegeben ungenauen - Augenschein nach dem mittleren bis gehobenerem politischen Mittelstand an. Der gewöhnliche, der unorganisierte Bürger hat sich ein Kissen aufs Fensterbrett gelegt, sieht dem Treiben da unten interessiert und unbeteiligt zu und staunt. Dann kommen sie: siebzig kleine Nazilein - vielleicht sind es auch hundert, hundertzwanzig. Eingefriedet von einer Heerschar Polizei schlendern sie vorüber. Wir schreien wütend unser rhythmisches "Nazis raus!", die lachen sich scheckig darüber und winken uns zu. Schmächtige Kerlchen mit kälteroten Nasen. Fadenscheinige Jeans, Aldi-Turnschuhe - armer Leute Kinder.

Zwischendrin ab und an ein bulliger, kahlgeschorener Bilderbuchnazischläger. Von jenen, die ihnen die Losungen und die Demoanlässe erfinden, sind nur wenige dabei, sie heben sich in Kleidung und Physiognomie von den jungen Schreihälsen ab. Ein Alter geht am Stock.

Die Polizei hat keine Mühe mit ihnen, und mit uns auch nicht; nur ein paar Schwarzkapuzen, die sich "Antifas" nennen und behaupten, links zu sein, muß sie im Auge behalten. Darum kommen die momentan nicht auf ihre Krawallkosten; eine hysterische Jungkapuzin blökt fortwährend in Richtung ihrer Nazialtersgenossen: "Stalingrad! Stalingrad!" Da guckt nicht nur Wolfgang Thierse indigniert. Aber vielleicht hat der das auch gar nicht gehört, er guckt ja immer etwas indigniert. Etliche Zeit später werden die Antifas hechelnd durch die Gegend streunen und über Nebenstraßen und Schleichwegen versuchen, Nazigrüppchen der Demonstration, die beendet ist, aufzustöbern.

Normalbürger Zuschauer indes (Wat müssense ooch in Heinersdorf ne Moschee baun!) räumt sein Fensterkissen weg und macht sich ans Mittagessen, Bürger Demonstrant ("Nazis raus!") begibt sich ebenfalls nach Hause, oder er bespricht mit Freunden und Genossen beim Brunch im nächstgelegenen Lieblingsitaliener die Lage der Nation einschließlich ihres Nazi- beziehungsweise Antinazitums. Es ist vielerlei vorstellbar.

Und alle Beteiligten dieses deutschen Sonnabendvormittags sind irgendwie mit sich zufrieden: Sie haben das getan, was sie für richtig hielten. Und die nächste Demo (nebst Antidemo) kommt bestimmt, Besetzung und Inszenierung werden mehr oder weniger die gleichen sein. Und das Ergebnis (oder Nichtergebnis Â…) auch.

Doch so makaber es sich auch ausnehmen mag: Die Zufriedeneren dürften immer die Nazis sein - weil nämlich den Demokraten bislang nicht mehr als "Nazis raus!" und (so es die jeweilige Situation und die Rechtslage gebieten) Polizei und Justiz einfallen. So gesehen, befinden sich die Rechten sogar in einer komfortablen Lage: Weil sie nicht fürchten müssen, daß auf ihre Argumente, ihre Sprüche, ihre Losungen eingegangen wird - mit Nazis reden wir nicht. Aber wird denn - sozusagen umkehrschlüssig - zum Beispiel Hartz IV weniger bekämpfenswert, weil auch die Nazis "Weg mit Hartz IV!" rufen?

Sind wir wirklich so einfältig zu glauben, es sei auch nur ein Problem gelöst, wenn wir am Straßenrand stehen und Nazis beschimpfen? Denken wir wirklich, wenn wir diese oder jene Nazidemo oder dieses oder jenes Nazikonzert verhindern oder verbieten, damit seien auch die Gedanken aus den Wirrköpfen?

Natürlich denken wir das nicht. Aber warum tun wir dann so? Aus Bequemlichkeit? Aus Unvermögen? Aus Hilflosigkeit? Ich weiß es nicht. Aber ich vermute, die Scheu, Ursachen zu benennen, hat Gründe. Denn dann müßte auch vielerlei eingeräumt werden, was vor allem auch die demokratischen Parteien ganz, ganz schlecht aussehen ließe. Von denen fiele mir zum Beispiel auf Anhieb auch nicht eine ein, in der solche Jugendlichen, wie wir sie zunehmend auf den Straßen herumhängen sehen (und aus denen sich dann auch derartige Demonstrationen speisen), einen Platz fänden. Wenn heute junge Menschen in Parteien Antworten und Betätigungsmöglichkeit suchen, dann sind das in erster Linie intellektuell anspruchsvolle Leute, vom Typ BWL- oder Politikstudent. Junge Arbeiter? Unterprivilegierte? Noch-nie-gearbeitet-Habende? Nein, für solche sind Parteien, diese Parteien, nicht mehr gemacht. Für "solche" fühlen sie sich unzuständig, dort sind allemal diätenfinanzierte Maßanzüge angesagt und nicht Billigjeans.

Die Scheu, auf Argumente der Rechten einzugehen und die Scheu, den Ursachen auf den Grund zu gehen, resultiert auch aus dem derzeitigen Gesamtzustand derjenigen Deutschländer, die sich zu den sogenannten Eliten zählen oder sich zur Elite hochschreiben lassen. Was sich hierzulande auf roten Teppichen suhlen darf, ist geradezu abenteuerlich. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß sich große Teile der "rechtsgepolten" Bevölkerung (auch der nichtdemonstrierenden, sondern bislang nur schweigend zustimmenden Â…) von jedem Bankenskandal, von jedem Ackermann, von jeder Diätenerhöhung, von jedem Politikerreibach, von jeder maliziös-arroganten Clement-Unerträglichkeit bei Sabine Christiansen und von jeder kommunalen Durchstecherei in ihrem demokratiefeindlichen Impetus bestätigt fühlen. Den "verwahrlosten Jugendlichen deutscher Herkunft, die heute mehr denn je Opfer der Nazipropaganda werden" (der Berliner Autor Zafer Senocak in einem Tagesspiegel-Artikel) entspricht eine Verwahrlosung der gehobeneren Art von Teilen der deutschen Eliten. Das neue deutsche Bürgertum genügt sich wieder einmal selbst. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß es sich gerade anschickt, auch im neuen Jahrhundert wieder einmal grandios zu versagen. Indem es sich (und uns) die Tasche vollügt, indem es so tut, als seien die neuen Nazis vom Himmel gefallen und hätten absolut nichts mit ihm zu tun. Was auf eine unbefleckte Empfängnis der politischen Art hinausliefe, sozusagen. Das ist ja irgendwie auch verständlich: Wer möchte schon als Nazimacher oder Nazimitverursacher gelten, das gilt als unschicklich. Wenigstens etwas.

Bis zum nächsten Mal, wenn wir wieder rufen: "Nazis raus!"

in Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 12. Juni 2006, Heft 12

Aus dem Inhalt
Wolfgang Sabath: Siebzig kleine Nazilein; W. K./HWK: Ausbrechender Wohlstand; Theobald Tiger: An das Publikum; Hermann-Peter Eberlein: Weltanschauungsmord; Erhard Crome: In tempore belli (III); Friedrich Engels: Afghanistan;, Uri Avnery, Tel Aviv: Stimmen aus dem Gefängnis; Klaus Hart, São Paulo: Militäreinsatz in den Slums; Gerd Kaiser: Kardinalfehler; Jens Knorr: Hermione in der Beziehungskiste; Matthias Käther: Petitionen für eine Hexe; Eckhard Mieder: Am Rand; Kai Agthe: Spröde Schönheit über und unter Tage; Jochen Gutte: WennÂ’s einem in die Nase fährt Â…