Für eine Politik öffentlicher Güter

Erste Annäherungen

Die folgenden ersten Anmerkungen zu einer Politik öffentlicher Güter beziehen sich nicht unmittelbar auf gesundheitspolitische Fragen, sondern auf den Rahmen, in dem wir uns bewegen, wenn wir ...

... sagen, dass Gesundheit ein Recht und ein öffentliches Gut ist, auf das alle den gleichen Anspruch haben. (1) Dabei ist der Begriff "öffentliches Gut" durchaus nicht neu, sondern wird schon sehr lange und in nahezu allen politischen Lagern gebraucht. Dass er von links seit einiger Zeit mit einer zuvor nicht gekannten Emphase gebraucht wird, hat mit der ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus zu tun, der die bereits institutionalisierten öffentlichen Güter systematisch privatisieren will. Es hat aber auch damit zu tun, dass die Namen, mit denen viele von uns ihren politischen Einsatz benannt haben - allen voran der Sozialismus - wenigstens in einer Krise sind, dass unklar geworden ist, was mit ihnen heute noch aufgerufen werden kann und soll. Für diese Verlegenheit steht auch die vor allem in der Bewegung der Sozialforen gebräuchliche Formel "Eine andere Welt ist möglich", die zwar prinzipiell richtig, doch ziemlich unbestimmt und von geradezu erschreckender Allgemeinheit ist. Öffentliche Güter verteidigen und erweitern Öffentliche Güter verteidigen, sogar vermehren, erweitern und allen - wirklich allen! - den Zugang zu öffentlichen Gütern sichern zu wollen, stellt da sicherlich eine Konkretion dar: Will der Neoliberalismus den gesellschaftlichen Reichtum privatisieren und kommerzialisieren, wollen wir, dass die wichtigsten Dinge des Lebens öffentliche Güter sind, die allen in gleicher Weise zustehen. Insofern kann die Politik, die wir in Bewegung zu setzen suchen, als eine Politik öffentlicher Güter bezeichnet werden. Mit einer solchen Politik den Neoliberalismus aufhalten und zuletzt auch überwinden zu wollen, verlangt aber, von einer bloß defensiven zu einer offensiven Kritik überzugehen. Auch das ist mit einer Politik öffentlicher Güter benannt, weil wir damit nicht bloß sagen, was wir nicht wollen, sondern programmatisch nennen, wo wir hinwollen. Offensiv zu werden, verlangt allerdings noch etwas mehr als die - im Effekt nicht zu unterschätzende - Etablierung eines neuen Namens des Politischen. Tatsächlich verdankt sich der Erfolg der neoliberalen Politik der Privatisierung öffentlicher Güter strukturellen Veränderungen unserer Gesellschaften, auf die auch wir Antworten geben müssen. Wenn wir eine Politik öffentlicher Güter durchsetzen wollen, dürfen wir mit diesen Antworten nicht hinter den Neoliberalismus zurück-, sondern müssen über ihn hinausgehen. Im folgenden möchte ich in ein paar Thesen umreißen, was zu einer solchen Überschreitung des Neoliberalismus gehört. Ich beziehe mich dabei auf Diskussionen der sozialen Bewegungen und der politischen Linken in Deutschland, versuche also lediglich zusammenzubringen, was anderswo schon artikuliert worden ist. (2) Der an das Ende der Systemkonkurrenz gebundene Begriff des "Epochenbruchs" markiert heute eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse im globalen Maßstab. Mit der Systemkonkurrenz fiel auch die Weltordnung, in der sie ausgetragen wurde. Diese Ordnung schien über Jahrzehnte hinweg von der tendenziell weltweiten Durchsetzung großindustrieller Massenproduktion geprägt zu sein, gleichgültig übrigens, ob in liberalkapitalistischer, staatssozialistischer oder anderer Form. Auf dem Wege "nachholender Entwicklung" sollte dabei zwischen Nord und Süd derselbe soziale Ausgleich verwirklicht werden, den die Industriestaaten durch ihre Ausgestaltung zum Sozialstaat erreicht hatten. Heute scheint dieses Projekt unwiderruflich gescheitert zu sein: 1. Die von den Industriestaaten betriebene De-Regulierung der Kapital- und Finanzströme und die Internationalisierung der Arbeitsteilung haben die Standort-Konkurrenz zwischen diesen Staaten so weit entfesselt, dass sie von Sozial- zu "nationalen Wettbewerbsstaaten" (J. Hirsch) werden mussten. Um den Preis des Rück- und Abbaus sozialstaatlicher Funktionen geht es diesen nur noch um die Durchsetzung bestmöglicher Verwertungsbedingungen eines transnational freigesetzten Kapitals. 2. Die Internationalisierung der Arbeitsteilung hat zu einer strukturellen Massenerwerbslosigkeit geführt, mit der die materielle Grundlage bisheriger Sozialstaatlichkeit - die Verallgemeinerung der Lohnarbeit zur tendenziell weltumspannenden "Vollbeschäftigung" - hinfällig geworden ist. 3. In den Staaten des globalen Südens führte dies zum Scheitern ihrer "nachholenden Entwicklung". Die mit dem Anschluss an den Weltmarkt erfolgte Zerstörung traditioneller Subsistenz verschärft die Krise in einer Verelendungsdynamik katastrophischen Ausmaßes. 4. Im Norden wie im Süden kommt es zur Prekarisierung immer größerer Teile der Gesellschaft. Weltweit müssen Millionen in informellen Schattenökonomien überleben. Wiederum für Millionen kann selbst dies nur durch Arbeitsmigration erreicht werden. Dabei wächst die Zahl derjenigen, die gänzlich von der Hilfe anderer abhängig sind - Kriegs- und Gewaltopfer, Vertriebene, Flüchtlinge, Alte, Kranke und Kinder. Ohne jeden Rechtsanspruch können diese Menschen nur noch auf die Unterstützungsleistungen humanitärer Organisationen zählen. 5. Die Schattenökonomien gehen fließend in gewaltdurchherrschte Ökonomien der Kriminalität und des sozialen Kriegs über, die in immer mehr Gesellschaften zur Grundlage der gesellschaftlichen Reproduktion werden und zu einer vollständigen Zerstörung des Sozialen tendieren. Im dritten Jahrzehnt neoliberaler Globalisierung kann die selbst in den entwickelten Industriegesellschaften nie wirklich verallgemeinerte Lohnarbeit folglich nicht mehr der zentrale Zugang zu den Ressourcen des gesellschaftlichen Lebens und den Systemen seiner solidarischen Sicherung sein. Zugleich ist eine solidarische Sicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im nationalstaatlichen Rahmen allein weder zu verteidigen noch gar auszubauen - es sei denn, man akzeptiere die strukturelle Ausgrenzung der Mehrheit der Weltbevölkerung.

Arbeit und soziale Sicherung müssen entkoppelt werden

Soll soziale Sicherung, gleiche Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum zum Medium und Ziel von Politik zugleich werden, darf unter den gegebenen Umständen Lohnarbeit nicht mehr die Grundlage sein. Sozialpolitik hat dann nicht mehr die Reproduktion von Arbeitskraft und auch nicht mehr die Umverteilung zwischen Gewinnen und Löhnen zum Ziel, sondern den von zuvor erbrachter Arbeitsleistung unabhängigen gleichen Zugang aller zu den öffentlichen Gütern - unabhängig davon also, ob jemand in einem formellen Arbeitsverhältnis steht oder nicht. Das heißt, Arbeit, Einkommen und soziale Sicherung, bisher intrinsisch miteinander verbunden, müssen entkoppelt werden. Grundlage meines Zugangs zu den öffentlichen Gütern ist dann nicht mehr, dass ich ein auf Lohnarbeit basierendes Einkommen erwirtschafte, sondern nichts als der Umstand, BürgerIn meiner Gesellschaft zu sein. Tatsächlich ergibt sich dies logisch aus dem vollen Begriff öffentlicher Güter, bei denen es sich um kollektive Güter handelt, von deren Gebrauch und Besitz niemand ausgeschlossen werden darf und die alle gleichzeitig nützen können. Während dies als Beispiel für Autos offensichtlich nicht gelten kann, gilt es zwingend, um ein anderes Beispiel zu nennen, für den Zugang zu einer gesunden Umwelt. Zu einer solchen wiederum gehören weitere, ebenfalls allein öffentlich, d.h. egalitär zu gebrauchende Güter: Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit und Gesundheit. Sollen diese tatsächlich allen zugänglich sein, braucht es bestimmte öffentliche Güter wie etwa eine die freie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichende Bildung, zureichenden Wohnraum, wirklichen Zugang zu den gesellschaftlichen Tätigkeiten, zum gesellschaftlichen Leben, kurz: zu allem, was man nach der Bestimmung des Projekts www.links-netz.de "Infrastruktur der Gesellschaft" oder "soziale Infrastruktur" nennen kann. In nuce: Zum öffentlichen Gut muss alles das werden, was allen in gleicher Weise unentgeltlich zur Verfügung stehen muss, sollen die von den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten umrissenen basalen öffentlichen Güter tatsächlich garantiert sein. Zweifellos ist eine solche Grundkonzeption von Sozialpolitik nicht wirklich neu: bringt sie doch nur auf den Punkt, was im Begriff des öffentlichen Guts immer schon angelegt war. Neu ist lediglich die materielle Bestimmung des Zugangs: Basierte dieser Zugang bisher auf Arbeit und Arbeitseinkommen, folglich auf Systemen der vom Arbeitslohn abhängigen Versicherung und einer Umverteilung zwischen Gewinnen und Einkommen, muss er künftig in Abhängigkeit von der Leistungskraft steuerfinanziert werden. Unter den Bedingungen struktureller Massenerwerbslosigkeit gehört dazu allerdings auch, Steuern nicht mehr von Personen, sondern von Betrieben und Haushalten zu erheben, und dort nicht von der Position, die "Einkommen", sondern von der, die "Gewinn" genannt werden kann. Dabei gilt, und auch dies ist alles andere als eine neue Regelung: Hohe Steuern zahlt, wer hohe Gewinne, niedrige oder gar keine Steuern zahlt, wer niedrige oder gar keine Gewinne erwirtschaftet. Hinzuzurechnen wären dann Abgaben auf sämtliche Güter, die eben keine öffentlichen, sondern nach wie vor private Güter wären: Abgaben, die immer dann besonders hoch sein können, wenn solche privaten Güter in ihrer Herstellung, ihrer Verteilung und ihrem Gebrauch öffentliche Güter - beispielsweise das öffentliche Gut Gesundheit - einschränken oder gefährden.

Grundeinkommen und entgrenzte Bürgerschaft

Eine solche Politik ist ganz offensichtlich weder utopisch - sie ist nicht einmal antikapitalistisch und jedenfalls in den "entwickelten" Staaten im Prinzip umstandslos umzusetzen. Genauer besehen sind dabei allerdings stets die folgenden drei Radikalisierungen mit zu denken: 1. Ist der Zugang zu öffentlichen Gütern nicht mehr an Lohnarbeit, sondern an Bürgerschaft gebunden, brauchen wir einen entgrenzten Begriff der Bürgerschaft. Zur Entkopplung von Arbeit, Einkommen und sozialer Sicherung gehört derart die Entkopplung von Bürgerschaft und Nationalität. BürgerIn der Republik ist dann, wer auf ihrem Territorium lebt. 2. Ist der Zugang zu öffentlichen Gütern schon deshalb nicht mehr an eine zuvor erbrachte Arbeitsleistung zu binden, weil immer weniger Menschen formelle Arbeit finden, muss die unentgeltlich bereit gestellte soziale Infrastruktur durch eine individuelle Grundsicherung ergänzt werden, die selbst ein öffentliches Gut sein und deshalb jeder Bürgerin und jedem Bürger am Ort der Niederlassung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern muss. Da allerdings auch ein bedingungslos zugeteiltes Grundeinkommen nicht die Überwindung prekärer Lebensbedingungen garantiert und seine konkrete Höhe deshalb notwendig ein strategischer Einsatz gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sein wird, wären solche Auseinandersetzungen mit Politiken zu verbinden, deren strategisches Ziel die Demokratisierung der weltgesellschaftlichen Arbeitsteilung auf dem Weg struktureller Arbeitszeitverkürzungen ist. 3. Soll die soziale Infrastruktur öffentlicher Güter staatlich garantiert werden, darf diese Garantie auch in dem Sinn nicht mehr national beschränkt sein: Auch wenn eine Politik öffentlicher Güter bis auf Weiteres auf nationale Staaten angewiesen ist, treibt sie in der Tendenz über nationalstaatliche Politik hinaus. Insofern liegt die einzig angemessene Antwort auf die neoliberale Globalisierung in der Globalisierung von Politiken öffentlicher Güter. Ein Ziel, für das zu streiten sich lohnt. Thomas Seibert Anmerkungen: 1) Eröffnungsvortrag zum Seminar "Gesundheit, Medikamente und Forschung als öffentliches Gut" auf dem Europäischen Sozialforum in Athen, veranstaltet in Kooperation des People's Health Movements und des European Network for the Right to Health mit medico international, der BUKO-Pharmakampagne und der Rosa Luxemburg-Stiftung am 5.5.06 2) Vgl. dazu die fortlaufenden Publikationen des Internetprojekts www.links-netz.de. Teile des Vortrags sind dem Thesenpapier Jenseits des nationalen Sozialstaats: Weltbürgerliche Solidarität von medico international entnommen, vgl. www.medico-international.de/hintergrund/almaata/Soz.Sicherung.pdf. aus: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 507/16.6.2006