"Bürgerversicherung" punktet nur gegen die Kopfpauschale

Rot-Grün will den Umbau der Krankenversicherung zum Wahlkampfthema 2006 machen - und dabei das Feld der "sozialen Gerechtigkeit" zurückgewinnen

Als sich die CDU bei ihrem Parteitag Ende November in Leipzig mehrheitlich auf eine einzuführende "Gesundheitsprämie" in Höhe von rund 200 Euro für jede und jeden unabhängig vom Einkommen einigte, griff sie dabei auf eine der beiden von der Rürup-Kommission bereits im Frühjahr 2003 ins Gespräch gebrachten Alternativen zur Reform der Krankenversicherung zurück, die unter dem Label "Kopfpauschalen-System" bekannt geworden war.

Diesem marktfundamentalistischen Ansatz einer nahezu völligen Privatisierung des Krankheitsrisikos bei Entlastung der Arbeitgeberseite hält seit geraumer Zeit eine nicht nur aus Regierungskreisen rekrutierte Allianz ein Konzept entgegen, das für sich in Anspruch nimmt, mehr soziale Gerechtigkeit bei der Finanzierung des Gesundheitssystems zu schaffen: die "Bürgerversicherung". Bei der Bürgerversicherung geht es um die Weiterentwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Form einer Ausweitung des Versichertenkreises. Die Beiträge zur Krankenversicherung würden wie bisher nach Einkommenshöhe gestaffelt, von der Versicherungspflicht betroffen wären zukünftig aber auch Selbständige und womöglich auch Beamte. Hiervon verspricht man sich eine erhebliche Verbreiterung der Finanzbasis der GKV. Schließlich sollen nicht nur die Einkommen der bisher privat versicherten Erwerbstätigengruppen, sondern auch andere Einkommensarten (aus Unternehmertätigkeit, Kapitalvermögen, Vermietung u.a.) in die Beitragspflicht einbezogen werden. Zudem ist eine Anhebung bzw. perspektivisch der Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze im Gespräch.

Neben der möglichen Absenkung des Beitragssatzes zur Krankenversicherung und der hinlänglich bekannten "Entlastung des Faktors Arbeit" soll das Modell somit auch eine stärkere Beteiligung wohlhabender Haushalte an den Gesundheitskosten leisten. Eine "Einheitskasse" anzustreben, weisen SPD und Grüne jedoch weit von sich. Vielmehr soll gerade der Wettbewerb der Gesetzlichen mit den Privaten Krankenversicherungen (PKV) angekurbelt werden.
Letztere könnten sich zukünftig den neuen Markt privater Zusatzversicherungen zur Grundversorgung im Rahmen der Bürgerversicherung erschließen. Dennoch melden die PKV erst mal Protest gegen die "wettbewerbsfeindliche Staatsversicherung" an (vgl.www.buergerversicherung-aktuell.de). Dem sich formierenden Widerstand gegen das Modell Bürgerversicherung kann Rot-Grün indes gelassen entgegen treten: Eine Infratest- Umfrage vom Dezember 2003 weist mit 70 Prozent Zustimmung einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung für dieses Konzept gegenüber dem Kopfpauschalensystem aus. Daher ist es kaum verwunderlich, dass die Grünen das Thema "Zukunft der Krankenversicherung" zu einer der entscheidenden Fragen bei der Bundestagswahl 2006 machen wollen - mit dem Urnengang soll zugleich eine Abstimmung über die Einführung der Bürgerversicherung erfolgen.

Die Popularität der Bürgerversicherung lässt sich aus dem daran gekoppelten neuerlichen Gerechtigkeitsversprechen erklären, mit dem die sozialen Härten der Agenda 2010 vermeintlich abgemildert werden könnten.
Dass eine an das Solidarprinzip der GKV anknüpfende Zielsetzung offenkundig im Widerspruch zur ansonsten von Rot-Grün verfolgten Linie einer Privatisierung individueller Lebensrisiken steht, sollte jedoch misstrauisch machen und dazu führen, das Modell der Bürgerversicherung kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Der Kurswechsel in Richtung soziale Gerechtigkeit erscheint insbesondere dann fraglich, wenn man den erklärten Willen der Bürgerversicherer zu lediglich einer Grundversorgung mit dem "medizinisch Notwendigen" für alle und einer zusätzlichen Privatversicherung für diejenigen, die Leistungen der so genannten "Luxusmedizin" in Anspruch nehmen wollen, heranzieht. Auch für den Rückzug der Arbeitgeberseite aus der paritätischen Finanzierung der Gesundheitsversorgung ist das Konzept der Bürgerversicherung offen. Entgegen der Beteuerungen, einer sich herausbildenden Zwei-Klassen-Medizin entgegen treten zu wollen, wird also auch mit der Bürgerversicherung keine konsequente Abkehr von der Privatisierung des Krankheitsrisikos hin zu einem umfassenden Solidarprinzip eingeleitet. Gegenüber dem derzeit chancenlosen Gegner des neoliberalen Kopfprämiensystems knüpft es jedoch an Erwartungshaltungen an, die so lange unerfüllt bleiben müssen, bis wirkliche Verteilungsfragen in den Mittelpunkt der Debatte gerückt werden.

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Glossar:
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Gesetzliche Krankenversicherung (GKV):

Ihr gehören ArbeitnehmerInnen mit einem monatlichen Bruttoarbeitslohn an, der unterhalb der Versicherungspflichtgrenze (siehe unten) liegt. Der Beitragssatz ist einkommensabhängig und macht je nach Krankenkasse zwischen 13 und 15 Prozent des Bruttoarbeitslohns aus. Die Beiträge zur Krankenversicherung werden zur Hälfte von Arbeitnehmer und Arbeitgeberin getragen. Die GKV ist als Solidarmodell mit Umlagefinanzierung konzipiert.

Private Krankenversicherung (PKV):

Neben Beamten können sich in der PKV Selbständige, FreiberuflerInnen und ArbeitnehmerInnen freiwillig versichern, deren monatliches Bruttogehalt über der Versicherungspflichtgrenze liegt. In die PKV werden Festbeiträge eingezahlt.
Sie funktioniert nach dem Prinzip der Kapitaldeckung. Versicherungspflichtgrenze: Bis zu einem monatlichen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 3.862,50 Euro sind ArbeitnehmerInnen in der GKV versicherungspflichtig. Wessen Einkommen diesen Betrag übersteigt oder wer selbständig ist, kann sich freiwillig bei einer PKV versichern.

Beitragsbemessungsgrenze:

Hierbei handelt es sich um die Einkommensschwelle, ab der nur noch ein festgelegter Höchstbeitrag zur Krankenversicherung gezahlt wird - der Beitragssatz wird also ab diesem Betrag nicht mehr einkommensabhängig gestaffelt. Die Beitragsbemessungsgrenze liegt derzeit bei 3.487,50 Euro Monatsverdienst und soll bei Einführung der Bürgerversicherung auf das derzeitige Niveau der Rentenversicherung in Höhe von 5.150,00 Euro angehoben werden oder sogar ganz wegfallen.

- Dieser Text erschien in der Ausgabe 1/2004 der "Zündstoff" (Regionalausgabe der Tendenz für Rheinland-Pfalz& Hessen)