Allheilmittel oder ideologischer Kampfbegriff?

Warum Mindestlöhne notwendig sind

Beim Stichwort "Mindestlohn" fällt es oft schwer, eine neutrale Position zu beziehen. Zu hysterisch sind die Abwehrreflexe, zu überschwänglich die Heilserwartungen.

Beim Stichwort "Mindestlohn" fällt es oft schwer, eine neutrale Position zu beziehen. Zu hysterisch sind die Abwehrreflexe, zu überschwänglich die Heilserwartungen.
Ich will versuchen, die Debatte wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: Worum geht es überhaupt?
• Es geht um Löhne und um ihre Funktion im sozialen Gefüge unseres Landes:
• Löhne sind die wichtigste Einkommensquelle für die Beschäftigten
• die Lohnhöhe entscheidet über den Lebensstandard und darüber, ob ein Leben in Würde und Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist
• Löhne sichern die Existenz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Sie sind somit mehr als nur ein reiner Lohnkostenfaktor und eine Variable im internationalen Stand-ortwettbewerb. Wie ist es um die Situation in Deutschland bestellt?
Deutschland ist eines der wenigen Länder in der Europäischen Union, das über keinerlei Mindestlohn-regelung verfügt. Das wird gerne übersehen. Wir sind hier also die Ausnahme und hinken der Entwick-lung unserer Nachbarn hinterher. Außer Deutschland gibt es nur in drei europäischen Ländern keine gesetzliche Lösung: in Skandinavien, Österreich und Italien.
Diese Staaten haben aber andere effektive Instrumente:
• In den skandinavischen Staaten gibt es einen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad von über 80 %.
• In Österreich gibt es die Pflichtmitgliedschaft der Arbeitsgeber in der Wirtschaftskammer.
• In Italien führt die Verfassung de facto zur Allgemeinverbindlichkeit aller tariflichen Löhne.
Bei und hingegen gibt es keine vergleichbare Reißleine, die ein Absinken der Löhne ins Bodenlose verhindern könnte.
In der gegenwärtigen Debatte wird auch folgendes oft vergessen: Bereits heute subventioniert der Staat in erheblichem Umfang Niedriglöhne. Im September 2005 bezogen gut 900.000 Erwerbstätige ergänzende Leistungen der Grundsicherung (Hartz IV), weil ihr eigenes Einkommen nicht ausreichte, um ihren Bedarf zu decken - davon rund 280.000 Vollzeitbeschäftigte.
Konkret stellt sich die Lage bei uns wie folgt dar:
• über 6 Mio. Menschen arbeiten in Deutschland für Niedriglöhne. Der Anteil der Niedriglohn-beschäftigten in Vollzeitarbeit ist auf 32 Prozent gewachsen. Als Niedriglöhne gelten Löhne, die unter 75 % des Durchschnittseinkommens liegen.
• 2,5 Mio. Vollzeitbeschäftigte arbeiten für Löhne, die weniger als 50 % des Durchschnittslohns von 1442 Euro betragen (Armutslöhne)
• die Tarifbindung schwindet. In Westdeutschland sind nur noch 70 % der Beschäftigten durch Tarifverträge erfasst, in Ostdeutschland sogar nur 55 %
• Armutslöhne werden auch in tarifgebundenen Branchen bezahlt, Stundenlöhne zwischen drei und sechs EUR brutto sind keine Ausnahme.
Das heißt: Viele Menschen, die im so genannten "Niedriglohnsektor" arbeiten, können durch eine Voll-zeitstelle nicht eigenständig für ihren Lebensunterhalt sorgen, sie sind arm trotz Arbeit. Niedriglöhne verfestigen die Armut in unserem Land und sind nicht nur ein Problem von Ungelernten. 60 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Die Ar-beitsmarktforschung belegt, dass es für diese Menschen kaum Aufstiegschancen in besser bezahlte Jobs gibt. Niedriglöhne sind kein Einstieg in eine bessere Zukunft, sondern bedeuten meist ein Verhar-ren in Armut.
Das ist für uns ein unhaltbarer Zustand, bei dem wir nicht länger zuschauen dürfen. Gute Arbeit muss gerecht entlohnt werden. Deshalb will ich eine Neuregelung, die in zwei Schritten erfolgen soll:
1. Zunächst sollen Arbeitgeber und Gewerkschaften die Gelegenheit haben, das Arbeitnehmerent-sendegesetz, das bisher nur für die Baubranchen gilt, auf alle Wirtschaftsbereiche auszuweiten. Mit der Ausweitung unterstützen wir die Tarifparteien bei der Verhinderung von Lohn- und Sozialdum-ping durch entsandte Billigkräfte. Die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert, bundeseinheitliche tarif-liche Mindestlöhne in allen Branchen zu vereinbaren.
2. Darüber hinaus bedarf es in einem zweiten Schritt eines gesetzlichen Mindestlohnes für Branchen, in denen es keine Tarifverträge gibt oder diese nicht greifen. Die Höhe wird nicht durch den Gesetz-geber festgelegt, sondern durch eine Kommission, die aus Vertretern der Arbeitgeber, Gewerkschaf-ten und Wissenschaftlern besteht. In regelmäßigen Abständen soll sie über die Einkommensentwick-lung berichten und die Höhe des Mindestlohnes der wirtschaftlichen Entwicklung anpassen.
In Großbritannien wurden mit der sog. Low Pay Commission sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Ein-führung der Mindestlöhne durch die Labourregierung Tony Blairs hat - entgegen aller Unkenrufe - nicht zu Beschäftigungseinbrüchen geführt. Im Gegenteil: Großbritannien ist heute wirtschaftlich ge-sehen ein Primus in Europa.
Auch die Erfahrungen der anderen EU-Nachbarn zeigen: Der Untergang des Abendlandes ist nicht zu befürchten.
Nun ist es für uns an der Zeit, aus den Erfahrungen anderer Länder zu lernen.
Politisch gewollt, mit Augenmaß eingeführt und von einer breiten gesellschaftlichen Strömung getra-gen - so werden auch bei uns Mindestlöhne eine Erfolgsgeschichte. Packen wir es an - im Sinne unse-rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie verdienen eine menschenwürdige Bezahlung und die Gewissheit, ihr Leben aus eigener Kraft finanzieren zu können.

Andrea Nahles, Literaturwissenschaftlerin, MdB und Mitglied im SPD-Präsidium, spw-Herausgeberin, lebt in Weiler und Berlin

Quelle: spw 150 (4/2006)