Kunst - Kritik - Politik

Über die Grenzen und Möglichkeiten anti-kapitalistischer Kunst

...Kampagnen wie Berlin Umsonst, Hamburg Umsonst, Yomango und die Überflüssigen haben weit über die linke Szene hinaus Aufmerksamkeit erregt. Einzelne Aktionen, wie etwa die der 'Superhelden', die im Kontext des 1. Mai 2006 stattfand, sind gar weltweit auf reges Interesse gestoßen.

Was die inhaltliche Ebene dieser Kampagnen angeht, so lassen sie sich klar dem linksradikalen Spektrum zuordnen: die Forderung nach einem 'schönen Leben für alle' kann als zeitgenössische Kodierung des kommunistischen 'jedem nach seinen Bedürfnissen' gelten. Auch auf der Formebene haben diese Kampagnen vieles gemein: sie alle spielen mit Elementen der Verfremdung, des Theaters und der Ironie. Damit unterscheiden sie sich einerseits von den traditionellen Protestformen der radikalen Linken wie Demonstrationen und direkten Aktionen. Andererseits sind sie auf Grund ihres klaren politischen Gehalts, ihres kalkulierten Regelverstoßes, der weit über die bloß symbolische Ebene hinausgeht, und ihrer Einbindung in eine kollektive Organisation genauso wenig dem künstlerischen Spektrum zuzuordnen.

Es scheint, dass es gerade die Mischung aus 'Kunst und Politik' ist, die diese Kampagnen weit über die Grenzen der linken Szene hinaus attraktiv gemacht hat. Doch bislang wurde diesem Umstand wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar wurden alle diese Kampagnen innerhalb der Linken ausführlich und kritisch diskutiert (Dyk/Stützle 2004; siehe auch die Beiträge in arranca! 2003/2004; arranca! 2004). Dabei ging es zum einen um das Spannungsfeld zwischen Prekarisierung und Aneignung, zum anderen um Fragen außerparlamentarischer Organisation. Im Falle der Umsonst Kampagnen etwa wurde lebhaft debattiert, ob die auf das 'Spektakel' angelegten Öffentlichkeitsaktionen a la MOMA UMSONST überhaupt ein Angebot für eine längerfristige politische Organisation machen können. So wichtig diese Diskussionen waren, so blieb dabei doch gerade 'das Neue' an diesen Kampagnen weitgehend ausgeklammert: das künstlerische und performative Element.

Genau dies ist der Anstoß für den vorliegenden Artikel: Was könnte eine 'anti-kapitalistische Kunst' sein? Welchen Ansprüchen müsste sie genügen? Und welches wäre ihr Verhältnis zur Politik? Die Diskussion scheint uns vor allem deswegen relevant, weil mit den avantgardistischen Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts - mit der Dada-Bewegung, mit dem Surrealismus und vor allem mit dem Situationismus - in der Tat ähnliche Experimente und Erfahrungen gemacht wurden, wie dies bei den aktuellen Kampagnen der radikalen Linken in Hamburg, Barcelona, Berlin und anderen Städten der Fall ist.

Die avantgardistischen Strömungen, auf die wir uns hier beziehen, wurden ausgiebig theoretisiert: etwa von der Kritischen Theorie, die eine elaborierte Kritik an der 'Autonomie der Kunst' und an der bürgerlichen Kunstideologie geleistet hat; von den avantgardistischen Künstlerinnen und Künstlern selbst, vor allem von den Internationalen Situationisten, die zwischen 1957 und 1972 eine kohärente und unkompromittierte Kunstkritik ausformulierten; und nicht zuletzt durch die Disziplin der Kunstgeschichte, die sich ausführlich mit den avantgardistischen Praxen auseinandergesetzt hat, nicht jedoch, ohne sie dabei gleichzeitig zu kolonisieren und erfolgreich ins akademische 'business as usual' zu integrieren.

Eine Reformulierung der zentralen Kategorien dieser Debatten könnte auch für eine radikale Linke interessante Aspekte und analytische Instrumente liefern. Sie könnte helfen, den hybriden Charakter bestimmter Aktionen und Kampagnen - die wiederum auf eine lange und internationale Tradition linksradikaler und autonomer Praxen zurückblicken können - besser zu verstehen, bewusster zu gestalten und in Zukunft erfolgreich weiter zu entwickeln.

Avantgarde-Bewegungen und bürgerliche Kunst

Der Begriff der 'Avantgarde' ist (leider) stark strapaziert und durch seine inflationäre Verwendung bitter abgewertet. Klischeemäßig wird er heute meist als Synomym für 'innovative' Schulen in der Kunst, im Film oder auch in der Werbung benutzt. Dabei bezieht sich der Begriff der künstlerischen Avantgarde eigentlich auf spezifische Traditionen einer politischen Kunst-Praxis und ist somit ein wichtiges Instrument zur theoretischen und historischen Auseinandersetzung mit verschiedenen radikalen Kulturbewegungen des 20. Jahrhunderts. Wollen wir an dem Begriff festhalten, so gilt es ihn auf Grund seiner 'Popularisierung' zunächst in dreierlei Hinsicht zu schärfen.

Erstens müssen wir die künstlerischen Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts von den autoritären und zentralistischen Avantgarde-Konzepten des Marxismus-Leninismus unterscheiden. Zwar zeichnete sich die künstlerische Avantgarde immer auch dadurch aus, dass sie nach Möglichkeiten suchte, sich an den revolutionären Bewegungen ihrer Zeit zu beteiligen. Und manchmal führte dies zur Zusammenarbeit mit etablierten marxistisch-leninistischen Gruppen. Die Berliner Dada-Künstler George Grosz, John Heartfield und Franz Jung beteiligten sich zum Beispiel am Spartakus-Bund und an der 1918/1919 gegründeten KPD. André Breton und vier weitere Surrealisten schlossen sich 1927 der französischen kommunistischen Partei an. Doch gingen derlei Rendevouz zwischen Kunst-Avantgarde und Partei meist böse aus. Ein Grund dafür war, dass die Tradition des Marxismus für die künstlerische Avantgarde stets nur eine von mehreren theoretischen Bezügen darstellte; weitere ebenso wichtige waren der Anarchismus und der Anti-Autoritarismus. In den späten 1950ern entwickelte die Situationistische Internationale folgerichtig eine Kritik an der Partei-Bürokratie und der Partei-Avantgarde (nur wenige Jahre zuvor hatte die militante Gruppe Socialisme ou barbarie eine ähnliche Kritik formuliert). In der Folge trennte sich die künstlerische Avantgarde bewusst von der Tradition des Partei-Marxismus und näherte sich eher der sogenannten Neuen Linken und der APO an.

Zweitens gilt es, den Begriff der künstlerischen 'Avantgarde' ins Plural zu setzen: AvantgardeS. Denn keine der Bewegungen, die mit dieser Kategorie bezeichnet werden, hat als einzelne, monolithisch und klar abgegrenzte Bewegung existiert. Vielmehr handelte es sich stets um eine Verdichtung von künstlerischen Konzepten und um sich überlappende Strömungen. Sie alle hatten ihre eigenen Ursprünge und Kontexte, Programme, Praxen und Protagonisten.

Drittens müssen die Avantgards als ein anti-kapitalistischer Vektor gedacht werden, als ein Zusammenwirken verschiedener Strömungen in die gleiche Bewegungsrichtung. Als gesellschaftliche Kraft orientierten sich diese einzelnen Strömungen an einem entschiedenen Bruch mit dem kapitalistischen Kunstsystem. Im Gegensatz zu den kulturpessimistischen Einschätzungen einzelner TheoretikerInnen, so unsere These, stellen sie kein historisch einmaliges Phänomen dar, sondern eine durchaus erneuerbare revolutionäre Kraft.

Ihre Anfänge hatten die künstlerischen Avantgarde-Bewegungen, wie der Dada, der Surrealismus oder der Situationismus, innerhalb des bürgerlichen Kunst-Paradigmas. Sie arbeiteten zunächst noch innerhalb der bürgerlichen Kunstwelt, die sich aus individuellen KünstlerInnen, deren musealisierbaren Kunstwerken, einem Kunstmarkt und einer Vielzahl von Kunst-Institutionen zusammensetzt. Doch entwickelten sich die avantgardistischen Bewegungen schnell zu einer Kraft, die aus diesem Paradigma auszubrechen versuchte, und sich im Ergebnis einer Anerkennung als 'bürgerliche Kunst' verweigerte.

Stellt man die Frage nach den Bedingungen einer anti-kapitalistischen Kunst, so wäre dies als ein erstes Ergebnis festzuhalten: Der Bruch mit dem System kapitalistischer Kunst stellt eine notwendige Bedingung für eine Praxis der anti-kapitalistischen Kunst dar. Ohne diesen Bruch würde jede avantgardistische Praxis im Rahmen des bürgerlichen Kunst-Paradigmas absorbiert, neutralisiert und in die sozialen Funktionen der Kunst im Kapitalismus integriert.

Wie aber erreichen KünstlerInnen-Gruppen diesen Bruch mit dem bürgerlichen Kunstparadigma? Betrachtet man die einzelnen historischen Beispiele, so hat der Prozess ihrer Radikalisierung je nach künstlerischem und gesellschaftlichem Kontext ganz unterschiedliche Formen angenommen. Es lässt sich also vorab kaum ein allgemeingültiges 'Rezept' formulieren. Doch ist dies auch nicht nötig. Denn das Fehlen einer eindeutigen 'Wegbeschreibung' kann wohl kaum heißen, dass es keinen Weg gäbe. In der Vergangenheit haben Künstler und Künstlerinnen den Bruch mit dem bürgerlichen Kunst-Paradigma immer wieder vollzogen. Auch wenn es derzeit keine dem Dada oder Situationismus vergleichbare Avantgarde gibt, so bleiben KünstlerInnen doch in gewissem Ausmaß weiterhin erfinderisch und begeben sich auf immer neue experimentelle Wege um diese historische Erfahrung zu wiederholen.

Es scheint, als hätten wir bislang einfach das Offensichtliche festgestellt und uns in einem argumentativen Zirkel bewegt: Um eine anti-kapitalistische Kunst zu entwickeln, muss ein Bruch mit dem kapitalistischen Kunstsystem vollzogen werden. Doch ist es keineswegs trivial, diesen einfachen Zusammenhang explizit zu machen: Denn diese Feststellung erlaubt es uns, den herrschenden Konsens zu hinterfragen, und das Set an Annahmen, welches das Denken über den Zusammenhang von Kunst, Kritik und Politik heute bestimmt, zurückzuweisen.

Mehr denn je tendieren Kulturschaffende heute zu der Annahme, dass es keine Möglichkeiten gibt, aus dem System bürgerlicher Kunst auszubrechen. In der elaborierten Variante wird diese Position mit den Annahmen der eher pessimistischen Strömungen innerhalb der Frankfurter Schule begründet. Sie besagen, dass man bestenfalls die Kunst des 'doppelten Spiels' spielen kann, das Brian Holmes als 'liar's poker' bezeichnet hat. Der Ausdruck beschreibt den Versuch, sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Kunstwelt zu bewegen, und zwischen den verschiedenen Systemen von Kultur und Politik, von Kunst und Gesellschaft, zu oszillieren. Individuell ist dies mit Sicherheit die flexibelste und sicherste Option. Solch eine Kunst mag erfreulich sein oder sogar kritisch bzw. selbstkritisch - anti-kapitalistisch ist sie sicher nicht.

Ganz offensichtlich korrespondiert das, was wir als herrschenden Konsens in der Kunst bezeichnet haben, perfekt mit dem herrschenden politischen Konsens: mit der Annahme, das es nichts Anderes gibt außerhalb des 'real existierenden Kapitalismus': TINA - 'There is no alternative!' wie die britische Premierministerin (und Vorkämpferin des Neoliberalimus) Margaret Thatcher es ausdrückte. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahren hat dieser Konsens das politische Klima weitgehend bestimmt. Mittlerweile gibt es gute Gründe anzunehmen, dass der Konsens bröckelt. Das (Wieder-)Erstarken der globalen kapitalismuskritischen Kämpfe hat das neoliberale Einheitsdenken in den vergangenen Jahren zunehmend in Frage gestellt. Radikale Kunstbewegungen könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, diesen bröckelnden Konsens weiter zu untergraben.

Die Autonomie der Kunst

Wir fassen noch einmal zusammen: Die künstlerischen Avantgarde-Bewegungen müssen als ein erneuerbarer Vektor gedacht werden, der mit dem Paradigma bürgerlicher Kunst bricht. Indem sie dies tun, verweigern sich die avantgardistischen Praxen gegenüber einer Vereinnahmung durch die bürgerliche Kunst. Sie entsprechen nicht länger den Konventionen und Erwartungen der Kunstwelt und hören auf nach einer Bestätigung durch die Kunstwelt zu streben. Sie verweigern sich dem biennial circuit, dem Cover des Artforums, der Musealisierung und der Kategorisierung durch die Disziplin der Kunstgeschichte.

Eine solche Verweigerung kann allerdings nicht einfach nur eine Frage der 'richtigen Intention' sein. Sie kann nur in der Form und im Inhalt einer neuen Praxis realisiert werden. Nur eine Praxis, die sich effektiv außerhalb der Reichweite der Institutionen der Kunstwelt bewegt, kann hoffen anti-kapitalistisch zu wirken. Als beispielhaft dafür kann das Wirken der Situationisten gelten. Mit ihrem Projekt der 'Entkolonisierung des Alltags' verweigerten sie sich radikal der Produktion von Kunstwerken für einen Kunstmarkt oder ein Kunstpublikum. Stattdessen entwickelten sie in den 1950er und 1960er Jahren eine Praxis, die sich völlig abseits bürgerlicher Konventionen bewegte. Diese basierte vor allem auf der 'Konstruktion von Situationen', in der die gegenständliche Alltagsnormalität gestört wurde und sich unerwartete Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Handeln eröffneten.

Damit ist ein anspruchsvolles Ziel formuliert. Doch immer wieder haben KünstlerInnen-Kollektive es in der Vergangenheit geschafft, sich dem bürgerlichen Kunstbetrieb gänzlich zu verweigern und die Brücke zwischen schöpferischer Tätigkeit und revolutionärer Praxis zu schlagen. Es gibt also gute Gründe zur der Annahme, dass dies auch heute durchaus wieder gelingen könnte.

Wie bereits deutlich geworden sein sollte, beziehen wir uns mit unserer Argumentation auf zentrale Punkte einer 'klassisch-marxistischen' Kritik an der bürgerlichen Kunst, brechen aber an anderen Stellen auch mit ihr. Mit unserer Kritik am bürgerlichen Kunst-Paradigma und an dessen sozialen Funktionen beziehe wir uns vor allem auf die bekannten Positionen von Benjamin, Marcuse und Adorno. Aber auch bei Althusser, Gramsci und Bourdieu finden sich viele Anknüpfungspunkte für eine solche Kritik

So unterschiedlich diese Autoren innerhalb des marxistischen Diskurses argumentieren, so sind sie sich doch auch einig, dass 'die Kunst' eine soziale Institution darstellt, die stets auf der Grundlage eines bestimmten Systems von Konventionen funktioniert. Im Zentrum des kapitalistischen Kunstsystems steht eine Ideologie und ein Set ungeschriebener Regeln, das als 'bürgerliches Kunstparadigma' bezeichnet werden kann. Es operiert auf der Grundlage bestimmter gesellschaftlicher Werte wie Genialität, Originalität und Authentizität. Diese Werte werden in die Figur des Künstlers/Schöpfers hineinverlegt und in der Folge auch in die Arbeiten des Künstlers/der Künstlerin, die wiederum auf dem (Kunst-)Markt in kulturelles Kapital und monetären Tauschwert verwandelt werden.

Die wichtigste Regel des Systems, das das bürgerliche Kunstparagidma konstituiert, besteht in der 'Autonomie der Kunst'. 'Autonomie' meint hier, dass KünstlerInnen in vielerlei Hinsicht mehr 'Freiheit' genießen als 'normale Menschen' in ihrem Alltag. In diesem Sinne konstituiert Kunst eine eigene Sphäre, die sich vom 'wirklichen Leben' unterscheidet. Durchgesetzt wird dieser kategoriale Unterschied von den Kunst-Institutionen: Kunsthochschulen, Museen, Galerien, Fachzeitschriften usw. Doch diese Freiheit kann nur so lange praktiziert werden, wie sie klar als 'Kunst' bezeichnet bleibt und nicht mit 'dem wirklichen Leben' verwechselt wird. Die andere Seite der Freiheitsmedaille ist daher eine institutionell durchgesetzte Machtlosigkeit und politische Neutralisierung von Kunst.

Um mit Marx zu spielen, könnten wir es in dem Satz ausdrücken: 'Die KünstlerInnen haben die Welt nur verschieden dekoriert, es kommt aber darauf an sie zu verändern!' Dekoriert meint hier: Kunst leistet einen Ausgleich zu den Entmündigungen und Entfremdungen der bürgerlichen Gesellschaft. Damit aber entschuldigt, affirmiert und stabilisiert sie den Kapitalismus. Bürgerliche Kunst 'schmückt' die kapitalistische Welt, das sozial Gegebene, die organisierte Ausbeutung und die strukturelle Barbarei.

Die soziale Funktion der Kunst im Kapitalismus ist es, den Verlust der Subjekte an Selbstbestimmung, Autonomie und Erfahrung zu mildern, den Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung zu kanalisieren, der Sehnsucht vorzubeugen, die Versprechen der Kunst im Hier und Jetzt zu verwirklichen. Das ist es, was Marcuse 1937 als den 'affirmativen Charakter der Kultur' bezeichnete (Marcuse 1979). Seine Kritik macht die Logik und Funktionsweise des bürgerlichen Kunstsystems sichtbar und verständlich.

Die Autonomie der Kunst ist also ein instutioneller Effekt. Sie beinhaltet eine begrenzte Ausnahme vom Gesetz des Profits. In ihr wird das kontinuierliche Kosten-Nutzen Kalkül der instrumentellen Vernunft ausgesetzt. Die Autonomie der Kunst macht es möglich, ein Glücksversprechen jenseits der real-existierenden Gesellschaft zu formulieren und zu erforschen: die Erfahrung von Solidarität, Prinzipien der Gegenseitigkeit und des Schenkens, zweckfreies Spiel, herrschaftsfreie Kommunikation und Mimesis usw. Doch all das gilt nur für die Kunst, nicht im 'wirklichen Leben'. Ausschließlich auf der virtuellen Ebene ist die Selbstermächtigung erlaubt. Das interessierte Kalkül des Alltags darf diese Selbstermächtigung nur in der allgemeinen gesellschaftlichen Verkehrsform betreten - als (Kunst-)Ware, die sich gegen ein Äquivalent tauscht. Dieser Vertrag strukturiert das künstlerische Werk. Kunst hat daher, wie Adorno es ausdrückte, einen 'Doppelcharakter'. Sie ist gleichzeitig autonom und sozialer Fakt.

In vielerlei Hinsicht ähnelt die Kunstwelt, so könnten wir sagen, dem Ghetto mit seinem Charakter eines Parallelsystems. Verglichen mit den Zwängen des täglichen Kapitalismus ist die Welt der Kunst relativ frei. Doch ihr Einschluss macht sie auch machtlos. Wie im Ghetto finden wir in der Kunst eigene Machtverteilungen, interne Spaltungen und Gated Communities. Aber um all das herum ist eine kategoriale Mauer gezogen, die von der Polizei der Kunst-Institutionen und falls nötig auch von Staat bewacht wird. Kurz: Die Kunst ist ein soziales Subsystem des Kapitalismus. Mit genau diesem Kunst-System müsste eine anti-kapitalistische Kunstpraxis brechen.

Eine Kritik am Kulturpessimismus der Frankfurter Schule

Erinnern wir uns, dass die kritischen Erkenntnisse über das bürgerliche Kunstsystem überhaupt erst auf Grundlage der avantgardistischen Widerstandspraxen gewonnen werden konnten. Erst nach den Revolten des Dada, des russischen Kubofuturismus und des Surrealismus war die Kritische Theorie in der Lage, die Autonomie der Kunst als zentralen Bestandteil des bürgerlichen Kunstsystems zu erkennen und zu analysieren. Zugleich formulierten die kulturpessimistischen VertreterInnen der Frankfurter Schule auch eine wichtige Grenze ihrer Kritik.

Adornos berühmte Schlussfolgerung besagt, dass es kein Entrinnen aus der Autonomie der Kunst geben kann. Wieder und wieder brachte Adorno es auf die Formel, dass Kunst ihrem Doppelcharakter nicht entkommen könne, indem sie sich selbst im Namen der Revolution oder eines anderen politischen Programmes instrumentalisiert.

Diese Schlussfolgerung erscheint uns jedoch kaum überzeugend. Die Kritik an der Autonomie der Kunst zeigt zwar, dass Kunst durch ihre sozialen Funktionen im Kapitalismus bereits instrumentalisiert ist. Das heißt jedoch auch, dass eine anti-kapitalistische avantgardistische Praxis nicht notwendiger Weise einen noch größeren Verrat an der Autonomie nach sich zieht, als dies bereits durch das kapitalistische System der Fall ist. Vielmehr experimentiert die avantgardistische Praxis mit dem Versuch, die kapitalistischen Funktionen durch radikal anti-kapitalistische zu ersetzen.

Was uns Adornos Kritik an der politisch 'engagierten Kunst' zeigt, ist, dass bürgerliche Kunst ihre eigenen Grenzen nicht überwinden kann, ohne sich der Anerkennung durch das bürgerliche Kunstsystem zu verweigern (Adorno 1998). Das allerdings ist offensichtlich und stellt kein wirkliches Problem dar. Denn die anti-kapitalistischen Kulturpraxen, die außerhalb der Reichweite des kapitalistischen Kunstsystems entwickelt werden, sorgen sich nicht länger um die marktförmig vermittelten Konventionen und Erwartungen des bürgerlichen Kunst-Paradigmas. Sie müssen sich also auch nicht an dessen Standards messen.

Deutlich spiegelt sich Adornos Pessimismus im ersten Versuch einer komplett historisierenden Theorie der Avantgarde wieder: in Peter Bürgers 'Theorie der Avantgarde' aus dem Jahr 1974 (man beachte den Singular: die Avantgarde) (Bürger 1974). Bürgers Arbeit stellt einen Meilenstein der Kunsttheorie dar, versteht sie doch die historischen Avantgarde-Bewegungen - hier: die Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts - als einen Angriff auf die Institutionen der bürgerlichen Autonomie der Kunst, und als einen Versuch, politisch-künstlerische Praxen unmittelbar in den Lebensalltag zu integrieren. So weit so richtig.

Doch indem Bürger sich eng an den Theoretikern der Frankfurter Schule orientiert, kommt er zu der Einschätzung, dass der Versuch der Avantgarde generell gescheitert ist. Die Avantgarde-Bewegungen wären nicht in der Lage gewesen, ihre Kunst in ihre Lebenspraxis zu integrieren, so Bürger. Der Beweis des Scheiterns? Bürgerliche Kunst ist immer noch da! Die Avantgarde-Bewegungen haben sie nicht zerstört. Daher müssen ihre Versuche als eine 'falsche Aufhebung' der Kunst in das Leben bewertet werden.

Diese Schlussfolgerung scheint uns geradezu krude, linear, schwarz-weiß Malerei. Entschlüsselt man statt dessen die ersten avantgardistischen Ausbruchsversuche als Formierung eines erneuerbaren Vektors, so können diese Bewegungen vor allem auf ihre historischen Wirkungen und Konsequenzen hin diskutiert werden: Erstmalig wurde die Kunst der Erkenntnis und der Kritik ausgesetzt, dass sie im Kapitalismus bestimmte soziale Funktionen erfüllt. Dieser historische Akt kann nicht einfach ungeschehen gemacht oder widerrufen werden. Die Tatsache, dass die avantgardistischen Praxen die bürgerliche Kunst mit dieser Kritik konfrontiert haben und diese dann nachfolgend theoretisch verarbeitet wurde, ist und bleibt bestimmend für die Negation bürgerlicher Kunst überhaupt: für die kritische Auflösung und Entmystifizierung eines spezifischen Paradigmas und seiner Rolle im Kapitalismus. Was tatsächlich unverwirklicht blieb, war eine an die Destruktion anschließende positive Schöpfung, die das Versprechen der Avantgarde in die Tat umsetzen und sich dabei doch der Schöpfung eines neuen Kunstsystems verweigern würde.

Dies freilich hätte eine erfolgreiche Revolution bedeutet. Die Negation jedoch ist und bleibt in die Welt gesetzt. Zwar mag sie mit Macht, Geld und Zensur unterdrückt werden, und der Markt kann bürgerliche Kunst sicher trotz der Kritik durch die avantgardistischen Bewegungen am Leben erhalten. Doch hat die Kritik die Bühne der Geschichte in Gedanken und Praxis einmal betreten, so kann sie nicht einfach wieder aus ihr entfernt werden und existiert fortan als sozialer 'Gegenfakt'.

Zu diesem Thema könnte noch viel gesagt werden. In Kürze läuft Bürgers Fehleinschätzung darauf hinaus, dass die avantgardistischen Praxen und Interventionen über die institutionell gestärkten Grenzen der Kunst hinaus keinerlei politische Effekte gehabt hätten. Dass es solche politischen Effekte gegeben hat, ist aber leicht festzustellen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Internationalen Situationisten und ihre aktive Rolle bei den Aufständen im Mai des Jahres 1968. Die sozialen und politischen Eruptionen an den französischen Universitäten waren, wie wir durch die Mitglieder der 'Bewegung 22. März' wissen, von den Situationisten bereits über Jahre hinweg 'vorbereitet' worden: durch eine theoretische Kritik an der 'Gesellschaft des Spektakels' und an der kapitalistischen Warenproduktion, die sie in ihren Büchern, Zeitschriften und Flugblättern, umfunktionierten Comics und Postern, in Diskussionszirkel, und nicht zuletzt durch ihre Graffiti, ihre Provokationen und 'Kunst'aktionen entwickelten und verbreiteten. Am 4. Mai 1969 brachen die Aufstände an der Pariser Sorbonne und im Quartier Latin aus und Debord und die Situationisten standen an den Barrikaden. Als die Revolten von den Universitäten auf die Fabriken übersprangen und zehn Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen in ganz Frankreich sich einem 'wilden' Generalstreik anschlossen, engagierten sich die Situationisten im 'Rat zur Aufrechtrerhaltung der Besetzungen'.

Die Avantgarde-Bewegungen als einen erneuerbaren anti-kapitalistischen Vektor zu denken, eröffnet uns neue künstlerisch-politische Möglichkeiten, die weit über das bürgerliche Paradigma hinausgehen. Darüber hinaus hilft es uns zu verstehen, dass vieles was als kritische Kunst bewertet worden ist, eigentlich nur kritisch innerhalb des affirmativen bürgerlichen Paradigmas ist. Es scheint uns daher sinnvoll, eine Unterscheidung zwischen 'naiv-affirmativen' und 'kritisch-affirmativen' Formen bürgerlicher Kunst einzuführen. Avantgardistische oder anti-kapitalistische Kunst beginnt außerhalb des Paradigmas, das beide Formen bürgerlicher Kunst beinhaltet.

Schlussbemerkungen

Wir haben nun einige grundlegende theoretische Argumente zum Thema avantgardistischer bzw. anti-kapitalistischer Kunst diskutiert, die u. E. für eine Auseinandersetzung mit Kampagnen und Aktionen wie Berlin Umsonst, Hamburg Umsonst, Yomango und den Überflüssigen interessant sein könnten. Denn diese Kampagnen sind unter anderem deswegen so erfolgreich, weil sie künstlerische und performative Elemente aufgreifen und in eine radikale politische Praxis integrieren. Die Herstellung unerwarteter, witziger, spielerischer, ironischer und/oder verfremdeter (Alltags-)Situationen eröffnet allen Beteiligten offensichtlich neue Möglichkeiten. Freilich geht damit immer auch die Gefahr einher, dass politische Aktionen in der öffentlichen Wahrnehmung der Sphäre bürgerlicher Kunst zugeordnet werden. Wie wir oben gezeigt haben, würde dann der radikale und politische Inhalt solcher Aktionen wieder entschärft.

Die Internationalen Situationisten orientierten sich mit ihren Praxen an einem klaren Kriterium: Sie wollten die Isolation und die Passivität der bürgerlichen Subjekte durchbrechen. Dies kann auch heute noch als Maßstab für Aktionen gelten: Künstlerische Elemente können ritualisierte Proteste aufbrechen. Das ist ihre große Stärke. Eine 'Superperformance' dagegen stellt schnell wieder eine passive ZuschauerInnensituation her. Ein bewusstes und kalkulierendes Austarieren der verschiedenen Dynamiken, wie es etwa von den Dada-KünstlerInnen betrieben wurde, ist unverzichtbar, um das Gleichgewicht zwischen 'Kunst und Politik', zwischen 'Provokation und Diskussion' zu wahren. Gerade die 'Camouflage' kontrollierter Regelverletzungen als 'Kunstaktionen' hat noch einen weiteren Vorteil: das Spiel mit der Autonomie der Kunst immunisiert zwar nicht gegen die Staatsgewalt, wie die Anzeigen, Verfahren und Bespitzelungen der vergangenen Jahre zeigen. Nichts desto trotz hat eine Aktion mit starkem Kunstcharakter gute Chancen, der unmittelbaren Repression zu entgehen (z.B. Kostümierung gegen Kameraeinsatz, bunter Kleidercode statt dunkler Szenekleidung, etc.).

'Kunst' im bürgerlichen Sinne sind Kampagnen wie Berlin Umsonst jedoch nicht. Weder sind sie musealisierbar, noch heischen sie nach der symbolischen und monetären Anerkennung irgendwelcher Kunst-Institutionen. Sie sind politisch durch und durch. Vielleicht könnte man sie am ehesten als eine Art 'Entritualisierung der klassischen Demonstration' charakterisieren. Damit aber liegen sie überraschend dicht an den Experimenten, die die verschiedenen Bewegungen der künstlerischen Avantgarde seit dem frühen 20. Jahrhundert gemacht haben. Es scheint uns daher ein lohnendes Unterfangen, die historischen Vorbilder aktueller Kampagnen und Aktionen auf ihre Erfahrungen, ihre Erfolge und Misserfolge zu befragen.

*** Der Artikel ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den Gene Ray im Juli 2006 auf der vierten Transforma Konferenz zum Thema 'Revolutions: Concepts, Discourses, Practices of Revolutionary Action in Our Time' an der Universität Magdeburg hielt. Siehe: http://www.tranforma-online.de Der Text erschien zuerst in Analyse & Kritik, August 2006 ***

Zitierte Literatur

Adorno (1998): Engagement [1974], in: Ders. (Hg.): Noten zur Literatur, Frankfurt, M., 409-430

arranca! (2003/2004): Aneignung I, Nr. 28, Berlin

arranca! (2004): Aneignung II, Nr. 29, Berlin

Bürger (1974): Theorie der Avantgarde, Frankfurt, M.

Dyk, Stützle (2004): Alles umsonst? Linke Politik und Potentiale von Aneignungspraxen, in: Das Argument, 255, 710-720

Marcuse (1979): Über den affirmativen Charakter der Kultur [1937], in: Ders. (Hg.): Schriften 3, Frankfurt, M., 186-226